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Isolieren, Sterilisieren, Kastrieren:
Die brutalen Methoden der
Fürsorge und der Psychiatrie
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Paul und Paolo

FACTS 11/2002, 14.3.02
Als Paul wurde er zwangskastriert. Als Paolo versucht er, seine Vergangenheit als «Untermensch» zu vergessen.

Von Michael Marti

Seit Jahren schon schmerzt ihn der Kopf, wenn er nach Erinnerungen sucht. Und mit einer Vergangenheit wie seiner, sagt er, bleibe ohnehin nur noch die Zukunft.

Paolo Schlumpf ist 77 Jahre alt.
«Alles Halunken, Gauner!» Er ballt die Hände zu Fäusten. Seine Hände sind Pranken, riesig. Mit diesen Händen hat er sich durchs Leben geschlagen. Jetzt besitzt er ein Bett, einen Tisch, einen Kühlschrank. Einen Elektroherd, eine Fritteuse, eine Occasions-Kaffeemaschine. Einen Fernseher, ein Faxgerät und ein 30 Jahre altes Philips-Spulentonbandgerät. Der Lautsprecher spielt «Die schönsten Tessiner Lieder».

In dem Zimmer in Solduno, nahe Locarno, lebt ein Mann, den die Schweizer Obrigkeit in Irrenhäuser und Gefängniszellen gesperrt hat, jahrzehntelang. Ein Mann, der später in Wäldern, unter Brücken, auf Müllhalden hausen musste, mehr wie ein Tier als wie ein Mensch.

Und ein Mann, dem der Staat das Schrecklichste angetan hat. Die Halunken, Gauner, sie haben ihn kastriert. Entmannt.

Paolo Schlumpf hält eine Plastiksichtmappe mit vergilbten A4-Blättern hoch. Hier hat er niedergeschrieben, was er eigentlich nur vergessen will: Lebensgeschichte Von Paul Schlumpf. Der schmale Stapel Papier ist ein Zeitdokument, ein erschütterndes Zeugnis aus dem düstersten Kapitel der Schweizer Psychiatriegeschichte. Die Geschichte eines Kampfes um die Würde im erbarmungslosen Räderwerk der Psychiatrie. Es ist die Geschichte eines Skandals. Zwischen 1892 und 1970 sind allein im Kanton Zürich Tausende Frauen und Männer zwangssterilisiert und zwangskastriert worden. Paolo Schlumpf ist einer von vielen. Aber der Erste, der mit seinem Schicksal an die Öffentlichkeit geht. Jede Seite seiner Lebensgeschichte ist mit Maschinenschrift dicht beschrieben, die letzten Buchstaben der Zeilen berühren den Blattrand.

Ich wurde Geboren. Paolos Leben beginnt als Paul. An der Rötelstrasse in Zürich, am 7. november 1924. Der Vater unbekannt. Was Paul als Erstes erfährt von der Frau, die ihn in die Welt setzte: dass sie ihn nicht gewollt hat. Paul hat keine Familie, Paul hat kein Zuhause, Paul hat keine Chance. Erste Jahre im Kinderheim Rötel, dann, weil er mit dem Studieren Mühe hat, steckt ihn die Vormundschaft in die Hilfsschule, wo er nur Dummheiten lernt.

Grosse Dampfkessel mit Karbied gesprengt. Das Kg. für 5 Rp. gekauft. Dem Tram Käpsli vor die Schienen gelegt.

1927 erfasste das Fichenregister der Zürcher Fürsorge 14 Prozent der Stadtbevölkerung. Unter den Sozialfunktionären und Politikern ging die Angst um: Die Zahl dieser «minderwertigen Menschen» nehme nicht ab. Sie nehme zu. Der Direktor der Zürcher Psychiatrieklinik Burghölzli, Professor Hans Wolfgang Maier, schrieb 1925: 4,5 Prozent der Schweizer Bürgerinnen und Bürger «sind geistig nicht vollwertig». Bei einer Bevölkerung von vier Millionen waren dies 180 000 Menschen. Diese Männer, Frauen, Kinder seien eine «kolossale Last». Und eine Gefahr. Die Gefahr der «Verseuchung der erbgesunden Bevölkerung mit krankhaften Erbanlagen».

Paul ist zwölf und ein Bettnässer. Verwahrt in der Erziehungsanstalt Burghof, Regensberg ZH. Jeden Morgen um sieben muss er sein beschmutztes Laken waschen. Die Schritte zum Brunnen hat er barfuss zu gehen, selbst im Winter. Nach dieser Handlung, durften die anderen Zöglinge mich mit Steinen und Rossboppeln bombardieren.

Wenn der Himmel klar ist, sucht Paul den «Graf Zeppelin». Der, vom deutschen Küssaburg her, über die Zürcher Landschaft schwebt.

Paul wird geprügelt, gedemütigt, herumgestossen. Armenanstalt Bärau BE. wenig essen, prügel. nachts wurden wir eingesperrt wie die tiere. Paul wird therapiert. auch elektroschocks durfte ich über mich ergehen lassen. mann wirt abgetötet, im gehirn.

Paul ist kaum 15 Jahre alt, ein Kind, das keine Kindheit hat.

Er schuftet bei Bauern. Sie halten ihn, den Verdingbuben, schlechter als das Vieh. bekam zu Essen, zu Schlafen, auf den Ranzen.

Nicht nur in Zürich, in weiten Teilen der Schweiz waren die Sozialpolitiker entschlossen, «die Erzeugung geistig und moralisch minderwertiger Menschen zu verhüten». Die Waffen in diesem Kampf:
Eheverbot, Sterilisation und Kastration. Behinderte, Anstaltsinsassen, Geisteskranke waren die Opfer, aber auch Verarmte, Jenische oder Homosexuelle. Man nannte sie Ballastexistenzen, Untermenschen.

Paul, Ballastexistenz, Untermensch, ist das eigene Leben wertlos geworden. In einer Zelle der Haftanstalt Andelfingen ZH zerschneidet er sich mit einer Klinge die Arme. Er schmiert sein Blut an die Wände. Ihm wird kalt. Er verliert das Bewusstsein.

Als ich nach langer zeit wieder erwachte, da dachte ich bei mir: «Entlich im Himmel.»

Die Schweiz war bis in die Dreissigerjahre in Europa das führende Experimentierfeld für Kastrationen von Menschen. Der Enthusiasmus der hiesigen Ärzte und Psychiater sollte nur von Hitlers KZ-Ärzten übertroffen werden. Vor allem die Psychiatrie-Klinik Burghölzli machte sich daran, die Verminderung von Geburten «Minderwertiger» durchzusetzen. Zentrale Figuren dieses Programms waren die Burghölzli-Direktoren Auguste Forel (1878 bis 1898), Eugen Bleuler (1898 bis 1926), Hans Wolfgang Maier (1927 bis 1941) und Manfred Bleuler (1942 bis 1970). Englischen und amerikanischen Rassenhygienikern nacheifernd, machten sie Zürich zu einem Knotenpunkt der europäischen Eugenik.

Paul wollte sterben. Aber er kommt nicht in den Himmel, sondern in die Irrenanstalt Alt Rheinau ZH. Arbeit auf den Feldern. Paul hebt Weizensäcke, 100 Kilogramm schwer. Er ist stark wie kein Zweiter, arbeitet härter als jeder andere. Der Lohn: einige Stunden Freiheit. Es gibt in der Anstalt auch Patientinnen, auch eine Schöne. Auch sie darf sonntags hinaus.

Sie sagte, dein Messer Paul, dint dafür, dass du es in den Baum stichst, wo ich meine Kleider aufhängen kann. Sie hat mich angefangen Auszuzihen, und ich liess es Gefallen. Als ich Nackt war Sagte Sie jetzt musst du mich Auszihen, ich machte es mit höchster Sorgfalt. Als wir beide nackt wahren, zeigte sie mir wie man Geschlechtlich verkehrt. Als ich das Begriffen hatte, blieben wir bis am Abend im Wald drinnen, Sie unten ich oben.

Ausstiege aus der Irrenanstalt, halsbrecherische, in der Nacht, über die Dächer. Ihn treibt es immer von neuem zur Frau. Offen gesagt, Wir bürsteten wie Geschossen.

Paul wird erwischt. Der Freiheitsdrang und Geschlechtstrieb des Jünglings wird therapiert: Zwangsjacke, Schlaftherapie, Insulinschock, Elektroschock. So wollten sie mich langsam aber sicher töten.

So effizient die brutalen psychiatrischen Schocktherapien als Disziplinarstrafen waren, so ergebnislos bleiben sie als Heilungsmethoden. Die so genannten harten Kuren sind mit Ausnahme einzelner Weiteranwendungen von Elektroschocks nicht mehr in Gebrauch. Heute ist die Sinnlosigkeit dieser Behandlungen erwiesen:

1. Die Schlafkur versetzt den Patienten in eine tiefe Narkose, Dauer: sechs bis zehn Tage. Sie birgt grosse Risiken, etwa Kreislaufkollapse, Lungenentzündungen.

2. Insulinschocktherapie meint die Erzeugung eines hypoglykämischen Komas. Durch die künstliche Senkung des Blutzuckerspiegels mit Insulin entsteht eine Ohnmacht. Nach 30 Minuten wird der Patient durch die Zufuhr von Traubenzucker geweckt. Die Behandlung kann zu Herz- und Hirnschäden, zum Tod führen.

3. Die Elektroschocktherapie ist eine Erfindung der Psychiater Mussolinis. Wird der Patient nicht narkotisiert, kommt es wegen der konvulsivischen Zuckungen zu Knochenbrüchen.

Paul überlebt, er stemmt sich mit der Kraft seiner gewaltigen Physis gegen das Schreckensarsenal der Psychiater. Paul demoliert die Zelle, immer wieder. Die Wucht seiner Hände verwüstet selbst den Bungalow von Chefarzt Plattner. Paul ist bald 23. Ein Geschöpf der Fürsorge und der Psychiatrie. Ein Geschöpf von Überwachen und Strafen. Was er gelernt hat: Gewalt als Widerstand. Dreinhauen. Kaputtschlagen. Wenn Paul auf der Kurve ist, nach Zürich ausbricht, durchs Niederdorf geht, dann reicht es, dass ihm einer zu lange in die Augen schaut. Und er schlägt ihm die hufeisengrossen Fäuste ins Gesicht. Immer unter totaler Kontrolle, hat er nie gelernt, sich zu kontrollieren. Das ist aus Paul Schlumpf geworden.

Sommer 1947. Nach Monaten guter Führung, Arbeit in der Anstaltsgärtnerei, bekommt er am Sonntag Ausgang.
Der erste gedanke war, die erst beste, die mir über den weg läuft, die werde ich vergewaltigenn. Und so kam es.

Im wald von ellikon an der thur, war eine frau, die etwas suchte, ich glaube beehren. ich ging hinter sie her, und schwang ihr den rock über den kopf, oben band ich ihr mit einem taschentuch die hochgezogenen zipfel zu, und vergewaltigte sie. sie hatte sich nicht gewehrt.

Ob er die Vergewaltigung bereut? Heute? Nach 44 Jahren? Der Lautsprecher des Tonbandgeräts scheppert gegen den Verkehrslärm an, der von der Strasse heraufschlägt. Die Spulen drehen sich, auf dem Band jetzt «An den Ufern des Mexico Rivers», Paolo Schlumpfs Lieblingslied. Nach einer Weile sagt er: Es habe sich ja nachher herausgestellt, dass die Frau ein Alter von 72 Jahren gehabt habe. Einer, der nie Mitleid erfahren durfte, hat nie Mitleid gelernt.

Der Vergewaltiger Paul kommt nie vor einen Richter, er sieht nie ein Urteil. Er wird per Verfügung interniert.
es hies, schlumpf ist ein gemeingefährlicher bursche. er ist assotial, debil, geisteskrank.

Ein Nachttopf, ein Kasten mit drei Gamellen, ein Tisch, ein Bett, aufklappbar, eine elektrische Lampe, zentral gesteuert, ein Kasten für Kleider, ein Blechmesser, eine Gabel, ein Löffel, ein Heizkörper, defekt.

13-mal in zwölf Monaten demoliert Paul die Zelle in der Strafanstalt Regensdorf ZH. 14-mal spritzen ihn die Wärter mit einem eiskalten Wasserstrahl ab, acht atü Druck. 16-mal Dunkelarrest plus Kostverschmälerung, jeweils für 21 Tage. Nach und nach erlahmt selbst die Renitenz des Stärksten. Er darf mit dem Strafanstaltsdirektor nach Zürich, er kauft sich zwei Goldhamster. zuerst hatte ich 2. später 50 stück. die jungen konnte ich an die zoohandlung weinmann an der uraniastrasse verkaufen.

In seiner Zelle türmen sich Käfige, von denen Holzstege auf den Boden führen. Auf dem Bett sitzend, spielt Paul auf der Mundharmonika, bis die Tiere die Stege hinabbalancieren. Der Boden ist bedeckt mit Stroh. Paul schläft inmitten von Tieren.
ich vergass die freiheit. ich war jetzt daheim.

Er, der Bevormundete, Gebändelte, Gekettete, Eingesperrte, schafft sich seine Welt im Kerker. Er beginnt, seine Hände neu zu gebrauchen – sie zeichnen, was er nicht sehen darf: Rehe, Hirsche, Bären entstehen an den Zellenwänden. Flüsse, Gebirge, Wiesen. Paul sehnt sich nach Musik, er malt ein Grammofon auf den Verputz.
Schlümpfli! Schlümpfli!

Der Direktor von Regensdorf spricht Paul neuerdings mit Kosenamen an. Und bittet ihn in sein Büro. «Wenn Sie sich kastrieren lassen, sind Sie entlassen. Wenn Sie sich kastrieren lassen, sind Sie morgen frei.» Schlumpf erhält Zigaretten, Marke Memphis, für eine ganze Woche.

Wer sich gegen eine Kastration oder Sterilisation zu weigern versuchte, bedrohten die Behörden oft mit lebenslanger Internierung. Den Psychiatern und Medizinern war diese Form der Erpressung durchaus klar. Der Direktor der Psychiatrischen Klinik Cery bei Lausanne, Hans Steck, hielt 1925 zu zwei Kastrationsfällen fest: «Die Männer gaben die Zustimmung in einer Zwangslage, indem sie zwischen dauernder Internierung oder Operation zu wählen hatten.» Frauen wurde oft mit dem Entzug von Fürsorgegeldern gedroht.
Schlümpfli! Schlümpfli!

da nahm er mir die hand und half mir beim recht unterschreiben, ich sah es an meiner handschrift an, das es nicht die welche ist, wenn ich selbst unterschrieben hätte. er hat mich also hereingelegt. tatsächlich habe ich gesehen, wie er unter dem lehren papier nachträglich eine beantragung hervorgezogen hatte.

Zwei Wächter schleppen Paul, den Übertölpelten, in den Gefangenenwagen, sie überführen ihn in die Dermatologische Poliklinik Zürich.

Für die Mediziner ist die Kastration eines Mannes ein simpler Eingriff: Lokalanästhesie oberhalb des Hodensacks. Schnitt in der Mitte des Hodensacks, drei bis fünf Zentimeter lang. Freilegung des rechten Hodens und des linken Hodens. Aufsuchen der Samenstränge. Doppelte Abbindung derselben. Durchtrennen der Samenstränge mit dem Skalpell. Herauslösen der Hoden. Zunähen des Hodensacks mit vier bis fünf Stichen.

Die Hoden werden, wie die restlichen Operationsabfälle, verbrannt. Zwei Sätze sind in Paolo Schlumpfs Notizen über seine Kastration nachzulesen. in mir kochte es hernach wie heisses wasser. aber ich beruhigte mich, weil ich wusste, dass ich frei werde. Paolo Schlumpf, der sein Leben so kraftvoll niederschrieb, verstummt beim Furchtbarsten, das ihm zustiess.

1948 ist Paul nicht nur kastriert, sondern auch betrogen. Der Staat gibt ihn nicht frei. Es wird Jahre dauern. Und so nimmt sich Paul die Freiheit, die man ihm versprach.
ich bin in 10 Jahren 72 mal ausgebrochen.

Auf seinen Fluchten wildert er im Wald, er nächtigt in Alphütten, schleicht sich in Ställe, melkt die Kühe. Manchmal reisst Paul ohne Schuhe an den Füssen aus, manchmal im Nachthemd. In den Jahren seiner Internierung in Rheinau und Regensdorf flieht er auch über die deutsche Grenze. Er erreicht das 350 Kilometer entfernte Biedershausen, Südpfalz, wo er Monate auf einem Hof arbeitet. 72-mal wird Paul aufgegriffen, rückgeführt.

Er ist der Ausbrecherkönig. Die Mitinsassen nennen ihn auch: den Indianer. Die Entfernung der Hoden, die das männliche Sexualhormon Testosteron produzieren, führt beim Kastrierten zwar zum Verlust der Erektionsfähigkeit. Es ist aber ein Irrglaube – dies hat die Forschung mittlerweile erkannt –, dass die Kastration den Sexualtrieb stoppt oder die Persönlichkeit günstig verändert. Die Aggressionsbereitschaft beeinflussen im Gehirn produzierte Stoffe, vorab die Substanzen Dopamin und Serotonin, die durch eine Kastration nicht beeinflusst werden. Sinn machte die Kastration nur im Weltbild eines Rassenhygienikers: wenn unwerten Subjekten die Reproduktion verunmöglicht werden soll.

1958, Jahre nach der Entmannung und dem Freiheitsversprechen, entlässt die Strafanstalt Regensdorf den Gefangenen Paul Schlumpf.

Einer, der sein halbes Leben angekettet, eingesperrt war, will sich nicht selber binden – Paul vagabundiert. Er verschafft sich wieder mit den Händen Respekt. Aber nicht mit Dreinschlagen. Mit Zupacken. Tierwärter beim Circus Knie in Rapperswil. Magaziner in Zürich. Rinderhirte im Berner Oberland. Senn in den Glarner Alpen. Mineur in Sedrun. Dazwischen Verhaftungen – wegen Landstreicherei, liderlichen Lebenswandels.
darf der mensch nicht umhergehen wie er will? wenn er frei ist? muss er das ganze leben am gleichen ort sein? darf er nicht verdienen, wenn er gearbeitet hat?

Es ist die Frage seines Lebens – die Antwort heisst Gefängnis: mal einige Tage, mal einige Monate. Derweil zerschneidet die Schweiz ihre Landschaften mit Autobahnen, pflastert sie zu mit Einfamilienhäuschen, in denen in Kleinhaushalte eingepferchte Menschen sich Staubsauger und Fernseher anschaffen und auf eine 300-Liter-Tiefkühltruhe hinsparen.

Paul haust einen Winter lang auf einer Müllhalde bei Bellinzona. Er, der wie Müll behandelt worden ist. Er lebt unter Ratten und von Abfällen.
die menschen hatten küchenresten, brot, teigwahren, kerzen, schokoladen, eisenbahnen und alle spielsachen, die man sich denken kann, weggeworfen. und ich hatte mir vorgenommen am weihnachtsfest keine ratten zu töten, da sie ja auch leben wollten.

Paul sucht die Tiere und meidet die Menschen. Von Ende der Sechzigerjahre an lebt er meistens im Tessin, als Senn, als Knecht. Paul Schlumpf gibt sich einen neuen Namen, der letzte Ausbruchversuch: der aus seiner Vergangenheit. Pauls zweites Leben beginnt als Paolo.

Paolo kauft sich einen Anhänger für sein Mofa, den Sachs Caravelle. Darauf packt er «Bless» und «Cicci», seine Appenzeller. Die drei fahren nach Avignon, nach Arles: Pinienwälder, freier Himmel, Strände, das Meer. ich fischte im meer, und ass jeden gefangenen fisch, natürlich gebacken. Zur spanischen Grenze, nach Alicante, Barcelona, Malaga. Sechs Monate sind Schlumpf und die Hunde unterwegs, nächtigen im Freien, unbehelligt von der Polizei. immer dachte ich, entlich vogelfrei.

Die Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen tragen meist schwerer an den seelischen als an den körperlichen Folgen der ihnen zugefügten Gewalt. Jahrzehntelang als minderwertig, blödsinnig, unwert abgestempelt, verinnerlichen sie die Sichtweise der Täter. Die spätere Verdrängung dieses Traumas ist für sie nichts weniger als eine Überlebensfrage. Nur den wenigsten gelingt der Schritt, vom Staat eine Rücknahme der menschenverachtenden Klassifizierung einzufordern.

In Magliaso, nahe Lugano, tippt Paolo 1975 die Lebensgeschichte Von Paul Schlumpf in seine Olympia-Reiseschreibmaschine. Einige Wochen zuvor hat er sich bei einem Mofa-Unfall die linke Hand gebrochen. Er kann bloss die rechte gebrauchen, verzichtet mehrheitlich auf Grossbuchstaben.

Immer noch ein Vagabund, verschafft diese Niederschrift zumindest Paolo Schlumpfs Seele eine gewisse Ruhe.

Er beginnt wieder zu malen. Jetzt in Öl und auf Leinwand: Bäche, Brücken, Fantasielandschaften mit Vögeln, Tigern. Leuchttürme, die er in Spanien sah. Von 1984 an lebt Paolo in Verdasio, Centovalli. Die Steinhütte, in der er wohnt und die Bilder entstehen, heisst: Casa dei Morti, Haus der Toten. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Gartenarbeiten.

In Solduno wohnt Paolo Schlumpf nun seit bald drei Jahren. Er mag die Tessiner, die Tessiner mögen ihn. Manchmal sagt einer: «Paolo, bist doch erst 77. Warum nimmst du nicht doch noch ein Fraueli?»

Paolo sagt, er könne sich nicht ansehen, wie Liebespaare sich küssen. Es sei ekelhaft. «Wäre ich nicht kastriert worden, hätte auch ich ein Auto, ein Kind, eine Frau.»

Paolo Schlumpf, der alte Mann, der keine Vergangenheit haben mag, reist täglich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Zukunft, die ihm bleibt. Er kauft sich eine Tageskarte, setzt sich in den Bus. Er fährt ins Maggiatal, etwa nach Cavergno, oder ins Onsernone-Tal nach Loco. Die Hände, im Alter ledern, knöchern geworden, auf dem Schoss gefaltet.

Es hält ihn kaum 24 Stunden in seiner Wohnung. Er muss fort, in Bewegung sein. Abends bringt ihn der Bus zurück zur Piazza Grande in Locarno. Paolo steigt aus, wechselt ein paar Worte mit den Drögelern, die sich hier festgesetzt haben.

Sie seien seine Freunde, sie grüssten ihn stets mit einem: «Ciao, Paolo!» Viel freundlicher sei niemand nie zu ihm gewesen. Ob als Paul oder Paolo. «Alles Halunken, Gauner!» Dr. Auguste Forel, 1878 bis 1898 Direktor der Klinik Burghölzli, Begründer und Vaterfigur der europäischen Eugenik, ist 1976 mit einem Porträt auf der damals neuen Banknotenserie geehrt und verewigt worden. Dem Verfechter von Kastrationen und Sterilisationen kam der Platz auf dem höchsten Geldschein zu: der Tausendernote.

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Neue Forschung

Monika Stocker, Vorsteherin des Stadtzürcher Sozialdepartements, zeigte sich Dienstag dieser Woche «erschüttert» über die «skandalösen Machenschaften» in der Fürsorge und Psychiatrie, die eine neue Studie aufdeckt. Der Bericht Huonker* zeigt, dass allein in Zürich von 1890 bis 1970 Tausende Frauen und Männer aus oft rassenhygienischen Gründen zwangssterilisiert und zwangskastriert wurden. Zürich macht damit den Anfang in der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte. Auf nationaler Ebene sollen weitere Untersuchungen folgen. In FACTS geht erstmals ein Zwangskastrierter mit seinem Schicksal an die Öffentlichkeit. * Thomas Huonker, «Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen», Zürich 2002.

Licht ins Dunkle

Allein in Zürich wurden mehrere tausend Frauen und Männer unfruchtbar gemacht. Die Geschichte der Opfer wird nun aufgearbeitet. Der Bund soll Entschädigungen zahlen und ein neues Gesetz erlassen.

Von Mario Poletti

Die Schnüffler vom Fürsorgeamt steckten ihre Nase auch ins Schulhaus an der Zürcher Aemtlerstrasse. Lehrerin Bünzli rapportierte im Februar 1918 der Vormundschaftsbehörde über zwei jüdische Flüchtlingskinder: «Beide Mädchen entwickeln sich auch geistig nicht aufwärts und vegetieren in der Klasse wie zwei verblödete, durchaus indifferente niedrige Tierchen. Wenn man sie in ihrer dumpfen Teilnahmslosigkeit so vor sich sieht, in Schmutz und Verwahrlosung, wird man von einem Grauen gepackt.»

Der Historiker Thomas Huonker stiess bei Recherchen zu den Zürcher Zwangsmass-nahmen auf eine bisher unbekannte Überwachungstätigkeit des Fürsorgeamts. Dutzende von Schnüffel-Beamten verfassten haupt- und nebenberuflich mehr als 100'000 Berichte über intimste Details aus dem Leben von Familien und Einzelpersonen der ärmeren Schichten. Erst mit dem Fichenskandal 1990 beendeten die Spitzel ihre Tätigkeit. Die Armen-Fichen dienten rassehygienisch argumentierenden Fürsorgebeamten als Entscheidungsgrundlagen für die Einweisung in die Anstalt, für Eheverbote oder Kindswegnahmen.

Das ernüchternde Fazit Huonkers: «Mehrere tausend Menschen, vorwiegend Frauen, wurden in Zürich ohne rechtliche Grundlage, zwangsweise und systematisch unfruchtbar gemacht, oft unter Androhung von lebenslanger Internierung.» Der Bericht ist Teil der politischen Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der Schweizer Geschichte. Die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen hat im letzten November einem Vorstoss zur Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen zugestimmt. Für die Kommission steht fest, dass sich in der Schweiz «Behörden und die Ärzteschaft mit Zwangssterilisationen, Eheverboten und Kindswegnahmen wegen gravierenden Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben».

Die Schweizer sozialmedizinischen Massnahmen sind in der Dimension nicht vergleichbar mit den Gräueln in Nazi-Deutschland, wo Zwangssterilisationen, rassistisches Morden und Euthanasie zum politischen Programm gehörten. Doch auch hier zu Lande wurde die Vorstellung von «lebensunwertem Leben» und «Rassereinheit» an Randständigen umgesetzt. Die Schweizer Psychiatriegeschichte soll jetzt über die Beschaffung empirischer Daten aufgearbeitet werden.

In Schweden hat eine Untersuchungskommission schon 1997 die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Zwischen 1935 und 1975 wurden dort über 60'000 Menschen zwangssterilisiert, fast ausschliesslich Frauen, die als behindert, psychisch krank oder asozial eingestuft wurden. Die Sterilisationen begründete der Staat mit der notwendigen «sozialen Auslese» und dem Einsparen von Fürsorgegeldern. Die Zwangssterilisierten sollen nun eine Entschädigung von rund 33'000 Franken erhalten.

In der Schweiz will die Kommission für Rechtsfragen vorwärts machen mit den Entschädigungen, denn viele Opfer sind schon gestorben. Der Bundesrat gibt demnächst eine Gesetzesvorlage in die Vernehmlassung. Auch die Bedingungen für Sterilisationen sollen geregelt werden. Bis heute gibt es kein entsprechendes Bundesgesetz. Auf Kantonsebene verfügte lediglich Waadt von 1928 bis 1985 über eine gesetzliche Grundlage, die allerdings auf dem Gedanken beruhte, dass gewisse Menschen weniger wert waren als andere. Eine Sterilisation soll in Zukunft nur noch an über 18-jährigen, urteilsfähigen Personen mit deren freien Einwilligung erfolgen dürfen. Wer nicht urteilsfähig ist, darf nur unter strengen Voraussetzungen sterilisiert werden.

«In späteren Generationen», sagt die Zürcher Sozialdepartementsvorsteherin Monika Stocker, soll es «keine Täter und keine Opfer geben». Und: «Ich persönlich entschuldige mich bei den Opfern der Vergangenheit.»


«Derselbe Kern»

Historiker Thomas Huonker sieht Parallelen zwischen früheren Zwangsmassnahmen und heutiger Gentechnik.
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Interview: Christiane Binder

FACTS: Herr Huonker, noch 1968 sterilisierten Ärzte im Kantonsspital Winterthur ein 14-jähriges jenisches Mädchen mittels Röntgenstrahlen. Es nahm sich das Leben. Was sind das für Ärzte, die so etwas tun?
Thomas Huonker: Theoretiker der «Rassenhygiene» und «Eugenik» wie Auguste Forel waren modernistisch-szientistisch geprägte Leute. Wissenschaftsgläubige, vom Gedanken getrieben, man müsse das Machbare auch tun.

FACTS: Man pflanzte auch heterosexuellen Männern die Hoden von Homosexuellen ein. Es wurden Männern sogar Affenhoden implantiert. Protestierte denn niemand dagegen?
Huonker: Seit 1931 gab es immerhin die päpstliche Enzyklika gegen Eugenik. In katholisch geprägten Regionen hatte sie wenigstens eine Bremswirkung. Es gab aber auch Befürworter der Eugenik aus dem katholischen Milieu. Die Utopie, «wir machen euch gesund», entsprach dem Zeitgeist. Auch Betroffene und ihre Angehörigen fielen auf Versprechen herein.

FACTS: Wer war rassenhygienisch «unerwünscht»?
Huonker: In der Schweiz waren es zu 90 Prozent Frauen – anders als in NS-Deutschland, wo der Männeranteil bei etwa 50 Prozent der Zwangssterilisierten lag. Meist waren es Serviertöchter oder Fabrikarbeiterinnen, die wegen einer ungewollten Schwangerschaft oder bei Verweigerung von Unterhaltszahlungen durch die Väter Hilfe bei der Fürsorge suchten.

FACTS: Warum stimmten sie der Sterilisation zu, zu der doch ihre Einwilligung nötig war?
Huonker: Sie gerieten in eine Mühle. Ein psychiatrischer Gutachter musste ihre «Schwangerschaftsfähigkeit» abklären. Der behauptete dann, sie würden stehlen oder sie seien liederlich: Erklärte er sie für «schwangerschaftsfähig», wurde ihnen die Abtreibung verweigert. Stufte er sie als «schwangerschaftsunfähig» ein, bedeutete das meist auch die Sterilisation. Sie wurden vor die Alternative gestellt, sich entweder sterilisieren zu lassen oder jahrzehntelang in Anstalten einzusitzen.

FACTS: Einer behauptete von einer Frau, weil sie den Sexualakt im Stehen vollzogen habe, sei sie geistig abartig, denn das sei ja physisch «unmöglich».
Huonker: Das Gesamtklima war viel strenger als heute. Am krassesten äusserte sich das bei der Beurteilung angeblicher sexueller Abartigkeiten wie «Liederlichkeit».

FACTS: Werden Menschen mit so etwas fertig?
Huonker: Jeder einzelne Fall macht traurig und erfüllt einen mit Groll. Das Leid, abgestempelt zu sein als «Untermensch», verwinden die Opfer ihr Leben lang nicht.

FACTS: Können die Verantwortlichen, sofern sie noch leben, überhaupt bestraft werden?
Huonker: Alles ist justiziabel. Wenn ein Opfer die Kraft und den Mut dazu hat, Gerechtigkeit einzufordern – warum sollte es dann nicht möglich sein?

FACTS: Bestünde denn Chance, an die Akten heranzukommen?
Huonker: Das erfordert bürokratische Gewandtheit und Durchsetzungskraft, die diese alten Menschen oft nicht mehr haben. Sie brauchen Hilfe.

FACTS: Wie gefährlich ist die moderne Gentechnologie?
Huonker: Der Kern vieler neuer Medizintechnologien ist derselbe: Man unterscheidet zwischen höherwertig und minderwertig. Deshalb ist der Blick zurück so wichtig. Wegen der Opfer – aber auch wegen der Gefahren in der Zukunft.