Die Schweiz hat eine lange Tradition der Ausgrenzung
„Unerwünschter“. „Zigeuner“,
Juden und fremde Arme wurden über Jahrhunderte
hinweg ausgewiesen, gebrandmarkt, bei erneuten
Einreiseversuchen gehängt oder verbrannt
(siehe Kasten hierzu). Einzig von 1848 bis 1888
herrschte in der Schweiz allgemeine Personenfreizügigkeit,
auch für Roma (zur Begriffsdefinition siehe
Kasten). Doch schon ab 1888, bis 1972, wurde „Zigeunern“
die Einreise wieder verboten.1)
Diese Einreisesperre galt auch von 1933 bis 1945.
Sie führte zur Rückweisung von Flüchtlingen
auch dieser Gruppe in den Holocaust.
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Dr.
Alfred Siegfried, Leiter des „Hilfswerks
für die Kinder der Landstrasse“,
untersucht jenische Mündel. Foto von
Hans Staub, 1953. |
Trotz
Einreisesperre reisten viele Roma schon ab etwa
1960 unerkannt als jugoslawische Fremdarbeiter
in die Schweiz ein. In den 1990er Jahren erhielt
eine Anzahl Roma als Flüchtlinge aus den
Balkankriegen Asyl, aufgrund ihrer schweren Verfolgungslage
zwischen allen Fronten. Andere wurden ausgeschafft;
die Praxis der Kantone war und ist uneinheitlich.
Heute leben ungefähr 30'000 Roma in der Schweiz,
nachdem eine brutale Ausgrenzungspolitik dies
jahrhundertelang verhinderte.
Ein unheilvolles "Hilfswerk"
Ungefähr
zeitgleich wie die Aufhebung der Einreisesperre
gegenüber „Zigeunern“, 1973,
endeten auch die Aktivitäten des „Hilfswerks
für die Kinder der Landstrasse“ der
Pro Juventute. Mitfinanziert von Bund und zahlreichen
Kantonen und Gemeinden, betrieb es seit 1926 den
Versuch, unsere ab 1851, teils schon vorher eingebürgerten
jenischen Mitbürger als ethnische Gruppe
zu zerstören. Dies geschah durch die systematische
Auflösung jenischer Familien, ohne Rücksicht
auf die psychischen Schäden bei den isolierten
Kindern und bei den ihrer Kinder beraubten Eltern.2)
Diese Folgeschäden wurden von Psychiatern
und anderen Wissenschaftern als Zeichen angeblicher
„erblicher Minderwertigkeit“ der Jenischen
dargestellt. Die Schweiz foutierte sich darum,
dass laut Genozid- Konvention der UNO3)
vom 10. Dezember 1948, Artikel II, Absatz e) „gewaltsame
Überführung von Kindern der Gruppe in
eine andere Gruppe“ ein Tatbestand des Völkermords
ist, selbst nach der späten Ratifikation
dieser Konvention durch die Schweiz im Jahr 1999.
Die Täter blieben unbestraft.
Ausgewiesen,
gebrandmarkt, gehängt oder verbrannt
Tagsatzung
in Zürich vom 20. September 1510: „Auf
diesen Tag ist auch die grosse Beschwerde
angezogen worden, welche man allerorts in
der Eidgenossenschaft von den Zigeunern
('Zegynen') hat, die biderben Leuten das
Ihrige stehlen und 'eben auch sorgklich
fürent'. Desshalb wird beschlossen,
sie aus dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft
zu verbannen, bei Strafe des Hängens,
wenn sie selbes wieder betreten.“
Amtliche Sammlung der älteren Eidgenössischen
Abschiede, Bd.3, Abt.2, S.508.
Tagsatzung
in Baden vom 27. Juni 1568: „Auf einen
Bericht des Landammann Schorno von Schwyz,
dass ein gewisser Adam Brünster von
Kammerstein aus dem Innthal zu Glarus mit
dem Rad gerichtet und dann verbrannt worden
sei und dass derselbe drei ander Brandstifter
als seine Gehülfen angegeben habe (die
er benennt und genau signalisiert), wird
beschlossen: Es soll der auf letzter Jahrrechnung
zu Baden erlassenen Verordnung in Betreff
der starken Bettler, Landstreicher, Heiden,
Zigeuner und herumstreifenden Sondersiechen
genau nachgelebt werden.“ Amtliche
Abschiede-Sammlung, Bd.4, Abt.2, S.389.
Diese und zahlreiche weitere historische
Quellen auf Thomas Huonkers Webseite: www.thata.ch
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Gelten
Menschenrechte für Fahrende nicht?
Seit
einigen Jahrzehnten stehen Versuche von Staaten,
rassistische oder andere Beschränkungen der
Chancengleichheit, Freizügigkeit, freien
Berufswahl etc. aufrechtzuerhalten, in offenem
Widerspruch zu Deklarationen der Menschenrechte,
die seitens der UNO weltweit, seitens des Europarats
europaweit gelten. Für staatliche Stellen,
die solche Deklarationen nicht umzusetzen gewillt
sind, gibt es im Prinzip zwei Wege. Ein Staat
kann sich von den Instanzen, welche diese Menschenrechts-Konventionen
proklamierten, fernhalten. So machte es die Schweiz
bis 2002 gegenüber der UNO. Oder ein Staat
ratifiziert wohl solche menschenrechtlichen Übereinkünfte,
missachtet sie jedoch faktisch. Eben deshalb gibt
es internationale Kontrollkonsultationen dazu;
doch können diese die Staaten nur ermahnen
und kritisieren betreffend jener Punkte, wo ihre
Praxis im Widerspruch zur Menschenrechtsnorm steht.
Nur wenn die gesamte Staatengemeinschaft durch
von der UNO beschlossene Massnahmen, bis hin zu
Boykott oder bewaffnetem Eingreifen, gegen menschenrechtswidrige
Praktiken vorgeht, werden diese Normen gegen den
Widerstand von Staaten durchgesetzt. So wurde
die Apartheid in Südafrika zu Fall gebracht.
Bekannt ist, dass diese Massnahmen sehr selektiv
angewandt werden, und insbesondere solange einige
Mächte in der UNO über ein Veto-Recht
verfügen, kaum je gegen diese angewandt werden
dürften, auch wenn einige davondur chaus
Anl as s da zu geb en (beispielsweise China betreffend
Tibet, Uiguren; USA betreffend die Entrechtung
der Ureinwohner; Russland betreffend Tschetschenien)
- ganz zu schweigen davon, dass die Menschenrechtslage
immer wieder als Vorwand benutzt wird für
imperialistische Interventionen, deren Durchführung
dann selber mit schweren Menschenrechtsverletzungen
verbunden ist.
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Anton
Reinhardt, ein 1927 geborener Sinto, floh
am 25. August über den Rhein aus dem
Spital Waldshut, wo er zwangssterilisiert
werden sollte. Die Schweizer Behörden
schoben ihn am 8. September 1944 ins Nazireich
zurück. Am 22. April 1945 wurde er von
der SS erschossen. |
Systematische
Diskriminierung in der Schweiz
Mit
der Verweigerung des Frauenstimmrechts bis 1971,
dem Saisonnierstatut, der Asylpolitik, welche
im 2. Weltkrieg und auch danach wiederholt Flüchtlinge
ihren Verfolgern auslieferte, verstiess und verstösst
die Schweiz weiter gegen grundlegende Gebote des
Anspruches auf Gleichbehandlung unabhängig
von Herkunft, Geschlecht, Religion und Gruppenzu-gehörigkeit.
Sie tut das auch betreffend Personen-freizügigkeit
und ist dabei nicht allein. Die USA und die EU
schützen sich an ihren Grenzen mit Zäunen
gegen Einwanderer aus armen Ländern.
Vor
diesem Hintergrund war die Kampagne der Regierung,
der Arbeitgeber und aller Parteien ausser SVP,
SD und PNOS für die Personenfreizügigkeit
auch für Bürger der beiden neuen EUMitgliedstaaten
Rumänien und Bulgarien, mit ihrem hohen Roma-Anteil
in der Bevölkerung, keineswegs eine Kampagne
für eine allgemeine und gleiche Personenfreizügigkeit.
Sie war vielmehr geleitet von Verlustangst um
die ökonomischen Vorteile aus der bilateralen
Kooperation mit der EU betreffend Arbeitsmarkt,
Handel, Forschung, Flugregelungen, Transit und
so weiter.
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Roma-Musiker
vor einer UBS-Filiale, Bern, 2005. Foto Thomas
Huonker |
Deshalb
hörte man in dieser Debatte, neben den peinlichen
Rückgriffen von SVPExponenten auf alte rassistische
Vorurteile gegen die Roma, erfreulich interessierte
und aufgeschlossene Voten bezüglich Roma
auch aus Kreisen, die sich vorher nur sehr selten
für deren prekäre Lage, Armut und Diskriminierung
interessiert oder gar für deren Behebung
engagiert hatten.
Die
60 Prozent Zustimmung zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit
am 8. Februar 2009 waren auch ein Votum gegen
die jahrhundertelange Ausgrenzungspolitik gegenüber
den Roma. Allerdings ist es keineswegs so, wie
die SVP und SD behaupteten, dass dieses Abstimmungsresultat
den rund 3 bis 6 Millionen Roma aus Rumänien
und Bulgarien die Tore der Schweiz weit öffnen
würde. Sie müssten zur Einreise einen
Arbeitsvertrag vorweisen können. Doch ist
die Schweizer Wirtschaft, von der Finanzkrise
voll getroffen, bekanntlich schon im Abschwung;
die Patrons sind am Entlassen, nicht am Einstellen;
zudem fehlen den Roma, aufgrund der Diskriminierungen
in ihren Heimatländern, meist die gewünschten
beruflichen Qualifikationen.
Sinti,
Roma, Jenische...
„Angehörige
der kulturellen Minderheiten, die von der
Mehrheitsgesellschaft – oft abschätzig
– 'Zigeuner' genannt werden, rechnen
sich verschiedenen ethnischen Gruppen zu.
Von den meisten wird Roma als gruppenübergreifende
Bezeichnung verwendet. Roma bedeutet 'Menschen'
und stammt aus der Sprache Romanes. Die
seit Jahrhunderten hauptsächlich in
Deutschland, Frankreich und Italien lebenden
Roma bezeichnen sich als Sinti. [...] Jenische
nennen sich die in der Schweiz, Deutschland
und Österreich lebenden Angehörigen
fahrender oder sesshafter Lebensweise, die
nicht Romanes sprechen.“ Zur weiteren
Klärung und Problematisierung der Begriffe,
siehe Thomas Huonker und Regula Ludi, „Roma,
Sinti und Jenische: Schweizerische Zigeunerpolitik
zur Zeit des Nationalsozialismus“,
Kapitel 1.1 Kategorien und Terminologie,
dem dieses Zitat entnommen ist.
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Freizügigkeit
ist ein schönes Wort
Als
Touristen durften Roma schon früher einreisen;
mittellose Touristen, die in Bahnhofunterführungen
singen und unter Brücken übernachten,
werden aber vor wie nach dem 8. Februar 2009 als
„Personen, deren Anwesenheit nicht geregelt
ist“, ausgeschafft. Eigens zu diesem Zweck
wurde z.B. das entsprechende Rücknahmeübereinkommen
mit Rumänien von 1996 im Sommer 2008 insofern
noch „verbessert“, als Rumänien
nun zur Rücknahme von in der Schweiz Unerwünschten
nicht nur dann verpflichtet ist, wenn es rumänische
Bürger sind, sondern auch, wenn es Bürger
anderer Staaten oder Staatenlose sind, die via
Rumänien einreisten.
In
den meisten Kantonen geschieht diese Säuberung
des Strassenbilds unauffällig und kontinuierlich.
Wenn in einer Region eine allzu grosse Zahl musizierender
Roma auftauchen, werden Spezialmassnahmen getroffen,
wie in Genf im Herbst 2007, wo zunächst durch
verschärfte Kontrollen, bald auch durch neue
kantonale Wegweisungsgesetze Remedur geschaffen
wurde.
Freizügigkeit
bleibt also ein schönes Wort, das für
viele Roma nach wie vor nicht gilt. Ganz abgesehen
davon, dass Freizügigkeit in der Schweiz
wohl Bürger der EU und einiger anderer reicher
Länder meint, nicht aber Menschen aus armen
Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens.
Denn wohl darf das Kapital global frei zirkulieren
– unkontrolliert bis zur Krise. Doch eine
allgemeine Personenfreizügigkeit für
alle Menschen ist noch lange nicht in Sicht.
1)
„Speziell diejenigen Gruppenangehörigen,
die fahrenden Gewerben nachgingen und in Wohnwagen
und Zelten wohnten, konnten selten die Grenzen
legal überschreiten. [...] Die Schweiz aber
schloss, zunächst in alleiniger Kompetenz
der Grenzkantone, ab 1888 als erstes und lange
einziges Land Europas vor den durchziehenden Roma
die Grenzen; die Grenzsperre wurde ab 1906 ergänzt
durch das rassistische Verbot der Benutzung von
Schweizer Eisenbahnen und Dampfschiffen durch
'Zigeuner'„. Thomas Huonker, Schweizer Polizei-Instanzen,
Interpol und die Verfolgung von Roma, Sinti und
Jenischen im 20. Jahrhundert, in 7eue Wege, Zürich,
7r.10, Oktober 2000.
2)
Ab 1926 wurden jenischen Familien systematisch
Kinder entrissen und in Heimen oder bei Pflegefamilien
platziert. Etliche Kinder und Jugendliche landeten
für Jahre in Strafanstalten und psychiatrischen
Kliniken. Wehrten sich die Eltern gegen die behördliche
Kindswegnahme, wurden sie nicht selten selber
entmündigt. Von dieser grausamen Massnahme
des „Hilfswerks“ Kinder der Landstrasse
der Stiftung Pro Juventute waren mindestens 600
Kinder betroffen.
3)
„In dieser Konvention bedeutet Völkermord
eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht
begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische
oder religiöse Gruppe als solche ganz oder
teilweise zu zerstören: a) Tötung von
Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem
körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern
der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von
Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet
sind, ihre körperliche Zerstörung ganz
oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung
von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung
innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame
Überführung von Kindern der Gruppe in
eine andere Gruppe.“ Übereinkommen
vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung
und Bestrafung des Völkermordes, Artikel
II.
Mord
an Roma in Ungarn, Diskriminierung in aller
Welt
In der Ortschaft Tatarszentgyörgy,
Ungarn, wurden am 23. Februar 2009 ein Vater
und sein kleiner Sohn regelrecht hingerichtet.
Zunächst hatten die Täter das
Haus der Roma-Familie Csorba in Brand gesetzt
und dann die Flüchtenden mit einer
Schrotflinte erschossen. Die grausame Tat
ist nur einer unter vielen Überfällen
gegen Roma in Südosteuropa in den letzten
Jahren – dies in einer Situation von
krasser Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe
in allen gesellschaftlichen Belangen. Auch
in Italien findet mit behördlicher
Unterstützung letzthin eine regelrechte
Roma-Hetze statt. – Die Roma sind
die grösste Minderheit Europas. Kein
Staat und keine Institution fühlt sich
zuständig für den Kampf gegen
die Diskriminierung und Gewalt, die den
Menschen der diversen fahrenden Kulturen
angetan wird. Den Übergriffen der extremen
Rechten sind sie schutzlos ausgeliefert.
Die radikale Linke wiederum sieht in ihnen
allzu oft kein Subjekt gesellschaftlicher
Veränderungen. Das muss sich ändern,
wenn für eine solidarische Welt für
alle gekämpft werden soll. (Red.)
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Thomas
Huonkers Beitrag in der Bergier-Kommission
Der Historiker Thomas Huonker hat im Rahmen
der Bergier-Kommission die Politik der schweizerischen
Behörden gegenüber Roma, Sinti
und Jenischen im Zweiten Weltkrieg untersucht.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
hat die Unabhängige Expertenkommission
Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK)
unter der Leitung von Jean- François
Bergier („Bergier-Kommission“)
im Zusammenhang mit dem Bankenskandal um
die so genannten nachrichtenlosen Vermögen
jüdischer Opfer des NS-Regimes die
Beziehungen der Schweiz zu den Achsenmächten
umfassend untersucht. Thomas Huonker war
in diesem Rahmen mit der Erforschung der
bislang vernachlässigten Opfergruppe
der Roma, Sinti und Jenischen beauftragt.
Zusammen mit Regula Ludi hat er die Studie
„Roma, Sinti und Jenische: Schweizerische
Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus“
verfasst, 2001 in Buchform erschienen im
Chronos Verlag. Auf der Webseite der UEK
sind alle Veröffentlichungen der Kommission
mit Teilstudien aufgeführt und teilweise
online verfügbar: www.uek.ch.
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