Kantonsrat Thomas Huonker, Historiker, Mitarbeiter der Bergier-Kommission:
Rede zum schweizerischen Nationalfeiertag in Dällikon am 1. August 1997
Liebe Dällikerinnen und Dälliker,
liebe Gäste,
es freut mich, hier in Dällikon zur Feier des 1. August eine Rede zu halten – dem Regen zum Trotz.
Ich bin ein Geschichtsforscher, ein Historiker – und deshalb ein Freund der Rückschau aus der eigenen Gegenwart auf vergangene Zeiten, ein Freund des Blicks aus der eigenen Kultur hinüber zu anderern Kulturen, aus der eigenen Heimat in fremde Heimaten.
Ich möchte zum Thema Grenzen sprechen.
Es gibt Dörfer und Regionen, die durch nationalstaatliche Grenzen irgendwann geteilt worden sind und doch zusammengehören, sei das nun das Baskenland zwischen Spanien und Frankreich, Kurdistan zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran, oder sei es ganz in der Nähe der Jura zwischen Bern und Basel, oder das Dörfchen Goumois mitten auf der schweizerisch-französischen Grenze.
Die nationalstaatlichen Grenzen haben viel Absurdes und Zufälliges an sich. Meist sind sie das Resultat von Kriegen und oft entsprechen sie den Interessen der stärkeren Mächte auf Kosten der Kleineren.
Handkehrum gibt es auch Grenzen, die von den Kleineren gegen die Grossen erkämpft worden sind, oft und notgedrungen auch mit Hilfe gewalttätiger Mittel wie Attentate und Guerillakrieg. Diese Mittel sind uns hier in der Schweiz aus den eigenen, lange zurückliegenden Befreiungskriegen und ihrer legendenhaften Überlieferung vertraut. Und doch möchte man hoffen, dass kleinere Sprachregionen oder kulturelle und ethnische Minderheiten gegenüber den Interessen der Nationalstaaten und Grossmächte oder grossen Wirtschaftsmächte irgendwann einmal auch ohne diese Mittel zu ihren Rechten und zur Respektierung ihrer Eigenständigkeit gelangen können.
Es gibt auch nicht auf den Landkarten eingezeichnete Grenzen, die quer durch Nationen gehen. Ich denke da an Rassismus, an religiöse Zugehörigkeiten oder an soziale Abstufungen wie: Erste Klasse, Zweite Klasse. Oder: Schweizerbürger; Niedergelassene; Jahresaufenthalter; Saisonniers; Asylbewerber; Schwarzarbeiter.
Wir haben bezüglich der rechtlichen Gleichstellung in der Schweiz durchaus Fortschritte gemacht, wenn auch, speziell in der Frage des Frauenstimmrechts, eher langsam. Doch blicken wir noch ein bisschen weiter zurück. Es ist noch keine zweihundert Jahre her, da hatten nur wenig Gutbetuchte und Alteingesessene ein Bürgerrecht im Dorf oder in der Stadt, wo sie wohnten. Die grosse Mehrheit waren Zugelaufene aus einem andern Ort oder Tal, Hintersassen, arme Schlucker und fremde Fötzel, die nichts zu sagen hatten.
Wir sind aber auch heute noch längst nicht so weit, dass der gute alte Grundsatz aus der amerikanischen Revolution sich durchgesetzt hätte: No taxation without representation. Oder frei ins Deutsche übersetzt: Wer Steuern zahlt, soll im Staatswesen auch mitbestimmen dürfen. Das trifft auf unsere ausländische Bevölkerung leider immer noch nicht zu, obwohl sie selbstverständllich auch steuerpflichtig ist. Hingegen gibt es ja jene teilweise durchaus bestimmenden Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mit Hilfe rechtlicher Raffinessen keine Steuern bezahlen.
Irgendwann, auch dies bleibt zu hoffen, wird es überall selbstverständlich sein, dass die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Sache aller sein muss, die in einer Gesellschaft zusammenleben, ob Frau, ob Mann, ob Ausländer oder Alteingesessene. Und ich möchte hier sogar für ein Kinderstimmrecht plädieren, dessen Form allerdings noch zu finden wäre; ich glaube durchaus, dass auch Kinder und Jugendliche in Fragen des Schulwesens, des Autoverkehrs oder der Umweltbelastung kompetent mitreden können.
Allerdings: Säuglinge und Kleinkinder können ebenso wenig abstimmen wie die zukünftigen Generationen oder die Tiere und Pflanzen. Hier gilt es, aus ethischen Wertungen heraus auch die Stimme der Stummen, die Interessen ohne Lobby zu achten und zu respektieren.
Die Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit. Vergessen wir nicht, dass Hitler mit den Stimmen der Mehrheit zum Reichskanzler wurde. Wo im Namen der Demokratie Minderheitsrechte und Menschenrechte ausgeschaltet werden, wo Mehrheiten sich an die Ausrottung, Vertreibung und Unterdrückung von Minderheiten machen, da kann nicht von Demokratie gesprochen werden.
Selbst die Demokratie hat also ihre Grenzen.
Ich weiss, das Thema Grenzen bietet fast unbegrenzte Schwierigkeiten. Stellen wir uns ihnen.
Als Historiker sind mir die Schwierigkeiten, welche in den Jahren 1933 bis 1945 unsere Demokratie insbesondere auch an den Landesgrenzen auf die Probe stellten, schon seit langem vertraut. Diese alten Geschichten sind nichts Neues. Sie sind nur für jene neu, die wegsehen wollten. Sie sind nur für jene unerhört und schockierend, die nicht hinhören wollten, die sich nicht erschüttern lassen wollten. Am allerwenigsten neu sind sie für jene, die sie vertuschen und unter Verschluss halten wollten, die sie beschönigten oder die Beweisstücke in den Aktenvernichter einfüllten.
Allerdings dürften noch einige Fakten über einige besonders schlau eingefädelte Deals, besonders verlogene Täuschungsmanöver, besonders unmenschliche Verfahren, besonders gewinnsüchtige Profiteure dieser Zeit neu an Licht der Öffentlichkeit kommen. Dass das erst auf Druck von aussen hin, erst aus Angst um die Gewinne der Banken, erst aus Angst vor Prozessen, Wirtschaftsboykotten und Imageverlusten im grossen Stil und mit dem Segen der offiziellen Stellen möglich ist, das ist beschämend für die Schweiz.
Es hätte nicht so sein müssen.
Es gab stets Zeitzeugen, Schreibende und Forschende, die sich mit ehrlichem Eifer an die öffentliche Aufarbeitung dieser Konstellationen und Manöver machten. In Artikeln, Leserbriefen, Filmen, Büchern, Radio- und Fernsehsendungen haben sie immer wieder die Fakten dargelegt. Reich sind sie damit nicht geworden. Viele von ihnen sind dabei gescheitert und mundtot gemacht worden, andere haben resigniert oder sind verbittert.
Sie sind an Grenzen gestossen. Archive blieben verschlossen, das Bankgeheimnis diente als Schutz vor Nachfragen.
Diese Barrieren scheinen jetzt zu fallen. Das freut mich, und es ist notwendig. Es ist vor allem auch notwendig zur längst fälligen Neuorientierung in denselben Fragen der heutigen Flüchtlingspolitik und der Raubgelder der heutigen Diktatoren.
Andere Barrieren und Grenzen, die gegenwärtig überschritten werden, ängstigen mich hingegen.
Mass- und grenzenloses globales und mobiles Wirtschaften führt zu Raubbau an der Landschaft, an den Wäldern und an der Ozonschicht. Wahrhaft grenzenlose und unabsehbare Klimaveränderungen – beispielsweise Überschwemmungen – und Strahlenschäden sind die Folge. Mass- und grenzenloser Ehrgeiz von Gentechnologen zeigt sich in riskanten und unumkehrbaren Experimenten. Wir werden ungefragt mit Mischwesen aus Schaf und Mensch, mit der Züchtung und Verbreitung neuer Krankheitserreger und mit Vorarbeiten zu klonierten medizinischen Ersatzteillagern konfrontiert. Da, meine ich, müssen Grenzen gesehen, Grenzen besetzt und Grenzen verteidigt werden.
Und diese Grenzen, meine ich, sind eigentlich in der früheren und in der heutigen Staatspolitik, in der Wirtschaft und in der Wissenschaft, in Dörfern, Städten, Ländern und Kontinenten stets dieselben:
Menschenwürde, Menschlichkeit, Respekt und Verantwortung für die natürliche und menschliche Vielfalt der Lebensformen.
Damit möchte ich schliessen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche uns allen eine frohe Feier.