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Rezension des Buches: Diagnose: "moralisch defekt" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
vom 26. Januar 2004

Die Fratze des Heilens

Grauenhaft gut dokumentiert bis 1970: Psychiatrische Zwangsmaßnahmen in der Schweiz

FAZ/26. Januar 2004 Am 20. Oktober 1941 wurde der deutsche Hausierer Franz S. auf schweizerischem Gebiet, kurz hinter der Grenze, verhaftet. Als Grund für seine Flucht gab er zu Protokoll: "Weil ich mich nicht sterilisieren lassen wollte, flüchtete ich in die Schweiz." Der im Dritten Reich wegen Abhören eines Feindsenders und Mitgliedschaft in der KPD verfolgte und zeitweise in der Irrenanstalt in Bonn zwangspsychiatrisierte Flüchtling war offensichtlich in Unkenntnis darüber, daß die Schweiz auch ohne Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ein Vorreiter in Europa auf dem Gebiet der Zwangssterilisation war. Der mit dem Fall befaßte Polizeibeamte war jedenfalls der Meinung, daß aufgrund der "reichen und systematischen Kastrationspraxis" in der Zürcher psychiatrischen Klinik Burghölzli die Gefahr, in Deutschland aus eugenischen Gründen zwangssterilisiert zu werden, kein ausreichender Asylgrund für die Schweizer Behörden sei.

Doch Franz S. hatte Glück im Unglück: Aus humanitären Gründen wurde er nicht abgeschoben, sondern interniert. Einige Jahre später, kurz vor Kriegsende, konnte ein anderer Flüchtling aus Hitler-Deutschland, dem ein ähnliches Schicksal im Spital in Waldshut gedroht hatte, nicht mehr auf Nachsicht der Schweizer Grenzpolizei rechnen, vielleicht weil er einer auch in der Eidgenossenschaft nicht sehr beliebten Minderheit, den Sinti, angehörte. Man brachte ihn wieder über die Grenze, wo er am Ostersamstag 1945 von der SS erschossen wurde.

Diese und andere Schicksale von Menschen, die im Gegensatz zu den genannten Beispielen Schweizer Bürger waren und von Psychiatern in Zürich im Zeitraum von 1890 bis 1970 als "erblich minderwertig" abgestempelt und psychiatrischen Zwangsmaßnahmen wie Kastration, Sterilisation und Schocktherapien unterzogen wurden, hat ein Schweizer Historiker aus den Archiven wieder ans Licht geholt. Das Buch ist gleichzeitig auch ein Versuch, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denn es beruht auf einem Bericht, den der Autor im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich über Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen und Kastrationen unternommen hat.

Erst in jüngster Zeit ist deutlich geworden, wie sehr Staaten mit einer langen und ungebrochenen demokratischen Tradition im zwanzigsten Jahrhundert (Amerika, England, Frankreich, Schweden) aus eugenischen Gründen Zwangssterilisationen geduldet haben, und zwar bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Auch die Schweiz ist hier keine Ausnahme, wie Thomas Huonker am Beispiel von Akten Zürcher Fürsorgeeinrichtungen und aufgrund der systematischen Durchsicht der zeitgenössischen Fachliteratur belegt. Zu den Befürwortern eugenischer Ideen gehören berühmte Schweizer Psychiater, unter ihnen August Forel, Eugen und Manfred Bleuler. Die renommierte Zürcher Nervenheilanstalt Burghölzli war eine Hochburg dieses Denkens - auch noch nach 1945.

Der Schweizer Kanton Waadt war, was bereits seit längerem in der Forschung bekannt ist, in Europa ein Vorreiter in der gesetzlichen Regelung einer Zwangssterilisation "Minderwertiger". Andere Kantone, darunter Zürich, kamen ohne ein entsprechendes Gesetz aus, wie der Basler Schularzt und Anhänger der Rassenhygiene Carl Brugger 1939 erklärte: "Die Tatsache, daß einerseits im Kanton Waadt trotz oder vielleicht gerade wegen der dortigen gesetzlichen Regelung nur ganz selten eugenische Unfruchtbarkeitsmachungen vorgenommen werden, daß andererseits in Zürich ohne besondere Regelungen Erbgeisteskranke und Schwachsinnige häufig sterilisiert werden, zeigt am besten, daß in unseren Verhältnissen mit einer gesetzlichen Regelung allein nicht viel gewonnen ist." Daß diese Einschätzung durchaus der damaligen Praxis entsprach, belegen die von Huonker genannten Zahlen. Allein im Kanton Zürich sollen nach der Hochrechnung von Huonker zwischen 1892 und 1970 "mehrere Tausende von Frauen und eine weit kleinere, aber auch nicht zu vernachlässigende Zahl von Männern unfruchtbar gemacht" worden sein.

Zu den berühmten Patienten, die in Schweizer Irrenanstalten mit oft fadenscheinigen Diagnosen einsaßen und vor der Alternative "freiwillige" Sterilisation oder lebenslanger Anstaltsaufenthalt gestellt waren, gehört auch der Schriftsteller Friedrich Glauser (1896 bis 1938). Seine bewegende Krankengeschichte allein lohnt die Lektüre dieses Buches, dessen Stärke nicht die stringente Argumentation, sondern die Aneinanderreihung spannender Fallgeschichten ist, die in den jeweiligen zeitgenössischen medizin-psychiatrischen und fürsorgerischen Diskurs eingeordnet werden. Nicht weniger erschütternd ist das Patienten-Dossier von Albert Einsteins Sohn Eduard, den man 1944 im Burghölzli-Spital - vermutlich ebenfalls nicht ganz freiwillig - einer "Elektrokur" unterzog.

ROBERT JÜTTE

Thomas Huonker: "Diagnose: ,moralisch defekt'". Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970". Orell Füssli Verlag, Zürich 2003. 286 S., geb., 29,50 [Euro].


Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
26.01.2004, Nr. 21 / Seite 35