Tages-AnzeigerZürichKulturJenische Kartenlegerin Foto: Gertrud Vogler |
DAS BUCHSergius Golowin: Von jenischen Kesslern und Korbern . . . listigen Fahrenden, Buchhändlern, Kartenlegern, Kräuterfrauen, Schaustellern, Baderinnen, Waldzigeunern und Moosleuten im Land der grünen Freiheit. Edition Heuwinkel, Carouge 1999.352 S., 42.80 Fr. |
Buchbesprechung Golowin erzählt die Saga von der jenischen SchweizSergius Golowin sieht seinen Lebenszweck in der Aufgabe, gegen die puritanisch-wissenschaftliche Reinigung des Schweiz-Bildes anzukämpfen. Von Thomas Huonker Der wohlwollend-listige Sammler- und Sucherblick Golowins kreist um die Magie und die Mythen, in denen die Hexen, Fahrenden und Älpler eine wichtige Rolle spielen. In seinem neuen Buch verbindet der Berner Archivar und Alt-Hippie dokumentarische Genauigkeit mit Fabulierlust. Dabei kann er aus dem Vollen schöpfen: Seine Jenischen-Saga ist eine Quintessenz, ein Destillat sowohl aus seinen mehr dokumentarisch angelegten früheren Schriften als auch aus den über 2000 Vortrags- und Erzählabenden. Landauf, landab brachte der Meister der freien Rede die Alphirten, Feckerinnen, Bibliothekare, Wilderer und ganz gewöhnlichen Leute zum Reden. Der durchgehende Verweis auf mündliche Quellen macht das Buch nicht nur thematisch, sondern auch im ganzen Aufbau erzählter Überlieferungen zu einer Hommage an die Schweizer Fahrenden. Bedrohtes VolkVon ihren geschichtlichen und aktuellen Verbindungen in die Kulturen aller Herren Länder lässt der subtile Kenner keine noch so entlegene ausser Betracht, ebenso wenig wie die vielfältigen Verbundenheiten der fahrenden Lebensweise mit den Gewalten der Natur. Die Wald- und Wildleute, das Nachtvolk, das Moorvolk, die Heiden in den hochalpinen Heidenhütten, die Lauener, das Hudelvolk, die Zigeuner - Golowin verwendet diese Bezeichnungen aus der volkstümlichen und literarischen Überlieferung ungeniert, nennt aber auch die Täter und Taten ebenso ungeniert beim Namen, wenn er die Versuche und Prozesse der Zerstörung und Ausrottung sowohl der Lebensräume wie auch der ökonomischen und sozialen Existenz der Jenischen anspricht. TourismuswerbungBesonders erwähnt Golowin die Freistätten der Moor- und Moosleute, der Wildheuer, der Bewohner der Lawinenhänge am Rand des kontrollierteren Siedlungsraums, aber auch die Lebensweise der halbfreien Tagelöhner oder Tauner und der auf Allmenden und ungenutzte Zwischenräume angewiesenen Geissen- und Schafhirten sowie der ebenfalls freibeuterisch existierenden Kräuterleute, Pilz- und Beerensammler. Nicht zu kurz kommt die Geschichte der Hausierer, der Schausteller und der fahrenden Handwerker und Musikanten. Als besondere Perlen überliefert er ein Verzeichnis der Familiennamen, welche laut einer neueren Umfrage unter den Schweizer Gemeindebehörden auf fahrende Abkunft hindeuten, sowie ein kleines Wörterbuch des Jenischen. Er ist dazu vom Präsidenten der Radgenossenschaft der Landstrasse, Robert Huber, autorisiert worden, der auch ein Vorwort beigesteuert hat. Dass die grossen Sümpfe zwischen Murten-, Bieler- und Neuenburgersee unter dem Titel Melioration vom unangefochtenen Reich der Zugvögel und der fahrenden Korber in die Strafanstalten Witzwil und Bellechasse umfunktioniert wurden, dass viel vom urtümlichen Brauchtum des Alpenraums zur Tourismuswerbung verkommen ist, dass die widerständige Tradition der wilden Höhenfeuerfeste seit 1891 zur Zelebration des Nationalfeiertags instrumentalisiert wurde - Golowin erwähnt es mit leichter Geste, oft witzig, oft auch ernst und traurig, mitunter im Märchenonkelstil. Aber nie lässt er die Hoffnung fahren, dass sich Mythos und Magie, Kultur und Natur auch anders verbinden lassen als in Nationalepen. Subtil rehabilitiert Golowin den Köhlerglauben mit seinen archaischen Geistergeschichten. Er beharrt auf allen Phasen multikultureller Unter- und Überschichtung im Alpenraum und exemplifiziert diese unter anderm mit überraschenden Bezügen zwischen den neolithischen Felsritzungen, den Geheimzeichen der Steinmetze und den Zinken der Geheimschrift der Fahrenden oder mit hochaktuellen historischen Reminiszenzen zum früheren Zusammenleben von Mensch, Wolf, Luchs und Bär - auch im Wallis. Vor dem Esoterik-BoomMagischen Orten wie Steinsetzungen und Steintischen der heidnischen Vorzeit, Höhlen wie dem Kessler- oder dem Drachenloch, Fruchtbarkeitsriten wie dem Rutschen über einschlägige Felsformationen hat Golowin seit Jahrzehnten seine Aufmerksamkeit zugewendet, längst vor dem gegenwärtigen Esoterik-Boom. Ebenso ist der Autor ein Pionier des offenen Umgangs mit der Geschichte der Genussmittel in der Schweiz - er wagt die These, dass auch schon vor der Einfuhr des Tabaks aus Amerika in der Schweiz geraucht worden ist. Fast hat das Buch auch etwas von einem Vermächtnis. Golowin meint es ernst, wenn er den Umgang mit Weisheit, Erfahrung und Gespür oder das Verhältnis zwischen Alt und Jung thematisiert. Und so freihändig dahergefabelt manchem Leser viele Sätze des fantasievollen und kritischen Forschers erscheinen mögen - Golowin kann sie auf nähere Nachfrage hin bis ins erschöpfendste Detail belegen und vernetzen, auch wenn er den narrativen Bogen manchmal überspannt. Giftpfeile führt er nicht im Köcher. Sein Anliegen ist es, Respekt vor dem Reichtum einer Kultur herzustellen, die oft als armseliges soziales Konstrukt oder gar als auszumerzender, minderwertiger Schandfleck abgewertet wurde und weiterhin wird. Und es spricht auch die Zuversicht aus dem schönen, mit einer ganzen Ikonografie illustrierten Buch, dass auch weiterhin wieder mehr Schweizerinnen und Schweizer zum Jenischen als einem unverzichtbaren Teil der hiesigen Multikultur stehen können, ohne dafür Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
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