Thomas
Huonker
A rchiv
Texte
A nderes
www.thata.ch
Inhalt
- Liste aller thata-Seiten
- Histodrom
- Dokumente - Bilder
- Jenische in der Schweiz
- Jenische in Europa
- Roma in der Schweiz
- Sinti und Roma in Europa
- Roma in der Welt
- Der Umgang mit Fahrenden in der Schweiz bis 1798 - Auszüge aus Chroniken
- Fahrende und Bürgerrechte - Zwangseinbürgerung 1851
- Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" (1926-1975)
- Verdingkinder - "Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz
- Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen
- Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus
- Der Sammler, Historiker und Flüchtling Eduard Fuchs (1870-1940)
- Menschenrechte und Minderheitsrechte - Texte von Thomas Huonker - Pressespiegel
- Bilder und Objekte von Thomas Huonker - Ausstellungen - Vita - Publikationen
- Literaturverzeichnis - Service - Animalorama - Sitemap/Index - home

index



links



mail

(Erschienen in: Megafon. Zeitung aus der Reithalle Bern. Nr. 236, Mai 2001)

 

Psychiatrisierung, Registrierung, Grenzsperre, Genozid

Das verfehlte Ziel: Eine Schweiz ohne Zigeuner

Multiethnische Willensnation - freiheitliche Demokratie - tolerantes Nebeneinander verschiedener Sprach- und Religionsgruppen - Asyl für Verfolgte. So lauten Kernsätze schweizerischer Werte. Im Konsumbereich ist in der Schweiz nur das Beste gut genug. Aber bei der Umsetzung dieser hohen Werte hapert es - speziell für Jenische, Sinti und Roma. Eine Darstellung des Antiziganismus in der Schweiz.

Die heutige Flüchtlingspolitik mit Rollstuhlfesselung, Zwangsmedikation und Todesfällen bei Ausschaffungen (ein Palästinenser in Bern, ein Nigerianer im Wallis) passt ebenso wenig ins helvetische Wunsch-Selbstbild wie die damalige wissentliche und brutale Rückweisung von Verfolgten wie Juden und Roma in die Nazi-Mordmaschinerie.

Auch die unschöne Kontinuität schweizerischer Ausgrenzung von Roma, Sinti und Jenischen stört das idealisierte Schweiz-Bild im Gold-Rahmen.

Die Schweiz war das erste und blieb das letzte Land, welches sein Staatsgebiet von Zigeunern freihalten wollte.

1471 erliess die Schweiz das erste Aufenthaltsverbot für „Zeginer“ und „Heiden“. Erlasse zum Straftarif folgten: Brandmarken, Stäupen, Deportation in französische und italienische Galeerensklaverei, Hängen. Der Schweizer Staat gab in Sachen Antiziganismus schliesslich gar das Gewaltmonopol ab und erklärte die unerwünschten Nomaden für vogelfrei; Ihre Ermordung blieb straffrei.

Straffrei blieben auch die Mittäter jener Zigeunerpolitik im 20.Jahrhundert, die gegen innen selber Tatbestände des Völkermords vollstreckte, nämlich gezielte Kindswegnahmen und Geburtenverhinderungen an einer Gruppe,  gegen aussen dem Völkermord der Nazis Beihilfe leistete.

Die Politik, keine Zigeuner in der Schweiz zu dulden, wurde nur in der revolutionären Phase des Bundesstaates gelockert, als die Schweiz  gegenüber den europäischen Monarchien als widerborstige Rebellenrepublik auftrat.  Schon 1888 erneuerten zuerst die Grenzkantone, ab 1906 auch der Bund das Verbot des Aufenthalts von Zigeunern in der Schweiz. Sogar das Fahren in Eisenbahn und auf Dampfschiffen wurde ihnen untersagt. Ähnliche Grenzsperren, kombiniert mit Vertreibungspolitik, beschlossen im Verlauf des ersten Weltkriegs Dänemark und Schweden, im Jahr 1926 auch Mussolinis Italien. Die Schweizer Grenzsperre, als erste erlassen, blieb bis 1972 in Kraft.

 

Psychiatrie gegen Jenische

Das Verbot, „zigeunerhaft“ zu leben, erstreckte sich auch auf jene Fahrenden, denen der Bund im 1851 durch Zwangsverfahren gegenüber einbürgerungsunwillige Gemeinden Bürgerrechte gab, um die damaligen sans papiers, die Heimatlosen, rechtlich besser anbinden zu können. Die eingebürgerten Jenischen sollten ihre Kultur und Lebensweise aufgeben. Umherziehen mit schulpflichtigen Kindern wurde verboten, der Hausierhandel mit schikanösen Regulierungen erschwert, das Leben in Wohnwagen und Zelten als „unhygienisch“ und „primitiv“ diffamiert. Zwischen 1926 und 1973 wurden den von Gemeindebehörden und Pro Juventute mittels Stammbäumen erfassten Fahrenden eine noch nicht genau dokumentierte Zahl von Kindern weggenommen. Die Eltern landeten, falls sie Widerstand leisteten, in Arbeitsanstalten oder psychiatrischen Kliniken. Bleibende psychische Schäden, Selbstmorde, Tabletten-, Drogen- und Alkoholsucht, früher Tod waren die Folgen für viele Opfer. Andere wehrten sich, leisteten Widerstand durch stete Flucht, Alarmierung der Öffentlichkeit, Gründung von Organisationen - schliesslich mit Erfolg.

Wissenschaftliche Vorarbeit zur zwangsweisen Auflösung der als erblich minderwertig diffamierten jenischen Grossfamilien hatte ab 1905 der Bündner Psychiater Josef Jörger (1860-1933) geleistet. Seine „Psychiatrischen Familiengeschichten“, aus denen noch die offizielle Bündner Kantonsgeschichte des Jahres 1993  zustimmend zitiert, lieferten anhand der kommentierten Stammbäume von zwei jenischen Familien deren Kollektivdiagnose als „erbkrank“. Die von Jörger erfundenen „anonymisierenden“ Decknamen für jenische Sippen übernahm der Leiter des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“ bei der Pro Juventute, der vorher wegen Pädophilie entlassene Lehrer Dr. Alfred Siegfried (1890-1972). Familie Mehr wurde so zur Familie Zero. Diese nullifizierende Etikettierung sagt alles über die Wertung dieser Menschen durch Psychiater und Fürsorger.

Im Auftrag der Bündner Regierung skizzierte Jörger 1924 das Vorgehen, das die Pro Juventute dann, staatlich subventioniert, durchzog: Kindswegnahme, strikte Trennung der Weggenommenen von Eltern und Geschwistern, Internierung zwecks Fortpflanzungsverhinderung. Obwohl Jörger und Siegfried katholisch waren und somit pro forma gegen Abtreibung, Sterilisation und Geburtenplanung auftraten,  kam es auch gegenüber den Jenischen zu Zwangsabtreibungen, Eheverboten und Zwangssterilisationen mit jenen eugenischen Begründungen, wie sie Medizin und Psychiatrie vor allem in den wissenschaftlichen Zentren der reformierten Schweiz damals propagierten.

Josef Jörgers wissenschaftliche Diffamierung der Jenischen fand in den Forschungen von Robert Ritter (1900-1952) ihren Fortgang. Ritter kam 1931 als Praktikant am Burghölzli auf das Thema Jenische, berief sich auf Schweizer Gewährsleute und verfertigte psychiatrische Familiengeschichten und Stammbäume von jenischen Familien in Deutschland. Zusammen mit der Polizei erfasste Ritters Forschungsgruppe Jenische, Sinti und Roma. Vorselektiert als „Strolchengeschlechter“, „Zigeunermischlinge“, „jenische Zigeunerlinge“ oder „Rassezigeuner“ kamen sie in die Lager oder wurden zwangssterilisiert. Etliche fielen auch den Experimenten des Auschwitz-Lagerarztes Josef Mengele (1911-1979) zum Opfer, der sich nach dem Krieg unter anderem in der Schweiz der Justiz zu entziehen wusste.

Ritters Habilitationsschrift gegen den jenischen „Menschenschlag“ finanzierte auf Antrag von Ernst Rüdin die deutsche Forschungsgemeinschaft. Der St.Galler Rüdin (1874-1952) amtete 1924 bis 1928 als Professor und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Basel, bevor er zur wissenschaftlichen Vaterfigur der Nazi-Psychiatrie wurde.

Unter Rüdins Mitarbeit entstand vor 1933 das deutsche „Gesetz zur Verhütung von erbkrankem Nachwuchs“, das ab 1. Januar 1934 von den Nazis praktiziert wurde.

40'000 Personen hat Rüdin, NSDAP-Mitglied seit 1937, in Deutschland untersucht - und somit einen wesentlichen Anteil der rund 400'000 von den Nazi-Ärzten Zwangssterilisierten persönlich begutachtet. Nicht mitgerechnet die Schweizer Fälle, die über seinen Schreibtisch gingen. Hier begannen die Zwangsterilisationen früher, dauerten auch nach 1945 bis in die 70erJahre an und werden erst jetzt erforscht.

Bei den Schweizer Zwangsterilisationen und –kastrationen bestand der Zwang in Eheverbot oder Anstaltsversorgung bei Nichteinwilligung. Sie waren in der Schweiz schon lange vor 1933 gebräuchlich, im Waadtland seit 1928 aufgrund des ersten europäischen Sterilisationsgesetzes mit eugenischer Indikation, in den übrigen Kantonen in einer rechtlichen Grauzone. Es war ja der Burghölzli-Direktor Auguste Forel, der 1894 in Zürich die erste eugenisch begründete Unfruchtbarmachung überhaupt veranlasst hatte.

>Die genealogischen Arbeiten von Jörger, Bleuler und Geistesverwandten erschienen im „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“. Dessen Herausgeber Alfred Ploetz hatte sich ebenfalls am Burghölzli in Zürich weitergebildet. Vor diesem Hintergrund ist erklärlich, dass viele Krankengeschichten von jenischen Patienten des Burghölzli mit dem stereotypen Vermerk beginnen: „Krank seit: Geburt“.



Interpol gegen Zigeuner

Nicht nur die von Psychiatern wissenschaftlich abgesegnete Verfolgung der Jenischen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich verlief international vernetzt. Ebenso war es bei der polizeilich-juristischen Registratur, Erfassung, Vertreibung und schliesslich Vernichtung der Sinti und Roma. Auch hier wirkten Schweizer mit.

National- und Ständerat bewilligten 1910 einen regelmässigen Jahreskredit von 2000 Franken für ein Zigeunerregister. Die als Zigeuner Registrierten wurden wegen „Gefährdung der innern Sicherheit“ nach Art. 70 BV ausgewiesen. Alle an der Grenze aufgehaltenen oder im Landesinnern aufgegriffenen Roma, Sinti oder Jenische ausländischer Herkunft wurden fortan verhaftet. Frauen und Kinder kamen in Asyle der Heilsarmee, die Männer in die Strafanstalt Witzwil. Sie wurden fotografiert und wie Kriminelle samt Fingerabdrücken registriert. Dieses vom Polizeibeamten Eduard Leupold entwickelte Verfahren mit seiner oft Monate dauernden polizeilichen Familientrennung wirkte abschreckend auf die Fahrenden mit ihrem Familiensinn. Im Lauf dieser Familientrennungen blieben einzelne Kinder von ausgewiesenen „Zigeunersippen“ in der Schweiz zurück. Die Familienzusammenführung an der Grenze fiel zusammen mit der Ausschaffung, oft bei Nacht, Nebel, Schneetreiben und auch währen des Ersten und, mit den entsprechenden Folgen, auch während des Zweiten sWeltkriegs.

Nach der Schweiz, Dänemark und Schweden war Mussolinis Italien das vierte europäische Land, das die Zigeuner vertrieb. Der Duce befahl am 8. August 1926, „das nationale Territorium sie von der Anwesenheit von Zigeunerkarawanen zu säubern.“  Die faschistischen Milizen jagten die Nomadenfamilien über die Alpenpässe, und die Schweizer Grenzer jagten sie wieder zurück. Ein Kind des in Graubünden geborenen, aber als staatenlos aus Italien gewiesenen Carlo Minster starb während der monatelangen Ausschaffungshaft im Tessiner Polizeigefängnis. Ähnlich herumgeschoben wurde eine andere Nomadenfamilie, deren Vater französische Papier hatten, welche die Franzosen aber nicht anerkannten. Diese und eine dritte Sinti-Familie, welche trotz mehrfacher Versuche während der 20er und 30er Jahren nirgendwohin ausgeschafft werden konnte, da sie immer wieder zurückspediert wurde, bekam schliesslich Bleiberecht in der Schweiz. Die Einbürgerungsgesuche dieser Einwohner, das erste datiert von 1935, wurden  erst 60 Jahre später bewilligt.

Alle anderen auswärtigen Zigeuner wurden in den 20er, 30er und 40er Jahren ausgeschafft; viele davon starben im Holocaust. So Alois Hartmann in Sachsenhausen, sein Bruder Kaspar in Mauthausen. Ihre Mutter war eine Aargauer Bürgerin, doch wegen Heirat mit dem deutschen Jenischen Hartmann galten sie und ihre Kinder als unerwünschte ausländische Vaganten und wurden in den zwanziger Jahren ausgeschafft. Der Geiger Josef F., aktenkundig als Schweizer in der Schweiz geboren, erhielt trotz wiederholten Gesuchen keinen Schweizer Pass. Die letzte Passverweigerung erfolgte am 8.7.1943; am 19. Mai 1944 wurde Josef F. aus Holland nach Auschwitz transportiert. Andere Angehörige seiner Familie hatten falsche italienische oder guatemaltekische Papiere, wurden aber von den Diplomaten dieser Länder vor der Deportation bewahrt. Am 6. August 1944 konnte F. aus einem Transport von Auschwitz nach Buchenwald fliehen, wurde aber am 6. September 1944 wieder gefasst und als „Schweizer Zigeuner“ in Buchenwald eingeliefert. Er überlebte. Nicht überlebt hat der siebzehnjährige Sinto Anton Reinhardt, Sohn einer im Berner Jura zur Welt gekommenen Sintezza. Von der Gestapo zwecks Zwangssterilisation ins Spital Waldshut eingeliefert, floh er in die Schweiz. Noch am 8. September 1944 wurde er ausgeschafft und kam, wie er es den Schweizer Behörden gesagt hatte, ins KZ. Am Ostersamstag 1945, kurz vor Kriegsende, erschoss ihn die SS. Überlebt hat der berühmte Jazz-Gitarrist Django Reinhardt, obwohl auch er von Schweizer Grenzern zurückgewiesen wurde - nachdem ihn der zuständige Deutsche schon hatte passieren lassen.

Datenaustausch zwischen der Schweiz und Deutschland festigte das gemeinsame polizeiliche Feindbild Zigeuner. Der Datenaustausch dauerte auch nach 1936 an, als die Akten und das Personal der Münchner „Zigeunerzentrale“ nach Berlin überführt und mit den Aktivitäten der Reichskriminalpolizei, der SS und des SD koordiniert wurden. Am 18.September 1941 beantwortete der Berner Polizeiabteilungs-Beamte Ernst Scheim eine Anfrage des Reichskriminalamts vom 26. August 1941 betreffend „Personenfeststellung von Zigeunern“ und ergänzte so die Zigeunerregistratur der Nazis.

Die männerbündlerische Polizisten-Kumpanei zwischen Bern und Berlin wurzelte unter anderem in der 1924 gegründeten „Internationalen Kriminalpolizeiliche Kommission“(IKPK), die in rechtlicher Kontinuität als „Interpol“ weiterbesteht. Die Schweiz war seit 1926 Mitglied. Vor, während und nach dem 2.Weltkrieg waren der Berner Kripochef Werner Müller und der Zürcher Uni-Professor Heinrich Zangger Schweizer Delegierte bei der Interpol. Die IKPK führte seit April 1936 eine „Internationale Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“.

1938 übernahmen die Nazis die Interpol. Beim Einmarsch in Österreich verhaftete die SS den bisherigen IKPK-Präsidenten Michael Skubl. Die IKPK-Tagung vom Sommer 1938 in Bukarest segnete, unter Zustimmung der Schweizer Delegierten, den "Bericht über die Tätigkeit der IKPK vom 1.Mai 1937 bis zum 1.Mai 1938" ab:

Da der bisherige Präsident der Kommission, Herr Staatssekretär Dr. Michael Skubl, im März d.J. aus seinem Amte schied, war damit auch seine Funktion als Präsident der Kommission erloschen. Im April 1938 wurde der Leiter der Polizeidirektion in Wien, Herr Otto Steinhäusl, (...) Präsident der IKPK.“

Steinhäusl war ein österreichischer Nazi, der 1940 starb. Nach ihm wurde Reinhard Heydrich Präsident der Interpol. Per Post stimmten Zangger und Müller für Heydrich als Präsidenten und für die Verlegung der Interpol nach Berlin.

Am 15. April 1941 bezog die IKPK die Villa Am kleinen Wannsee 16. In Stil eines Hotelprospekts schilderte die Interpol ihre Berliner Zentrale:

Das Haus liegt in parkartigem, an den kleinen Wannsee angrenzenden Garten, in dem sich auch noch ein besonderes Gebäude für den Hausverwalter und eine Garage befinden. (...) Kraftwagen stehen den ausländischen Gästen zur Verfügung. Mit dem Haus ist auch ein kleiner Kasinobetrieb verbunden, der für das leibliche Wohl der Gäste sorgt. Mit dem Reichskriminalamt, mit dessen Zentralen das Internationale Büro naturgemäss aufs engste zusammenarbeitet, besteht zweimal täglich Aktenaustausch.“

Dort, Am kleinen Wannsee l6, logierte Polizeiabteilungschef Rothmund im Herbst 1942, als er eine dreiwöchige Dienstreise nach Berlin unter anderem mit Jagdpartien und der Besichtigung des Konzentrationslagers Sachsenhausen verbrachte.

Die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, an welcher Heydrich, Eichmann und andere die Organisation der Vernichtung aller Juden im deutschen Herrschaftsbereich absprachen, fand im Büro der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission im Gebäude Am grossen Wannsee 56/58 statt.

Die Akten der Interpol über Juden und Zigeuner dienten den Nazis bei der Durchführung des Holocaust.

Die Schweiz zahlte weiter ihre Mitgliederbeiträge, die Polizeiabteilung korrespondierte mit der IKPK über „internationale Verbrecher“, das Zentralpolizeibüro schickte seine Jahresberichte an die IKPK. Werner Müller blieb Rechnungsprüfer der IKPK. Neben Reichskriminalamtsdirektor Nebe und dem italienischen Polizeichef Pizzuto sass er in der Redaktion der IKPK-Zeitschrift „Internationale Kriminalpolizei“, und er zählte statutengemäss zu den „Gehilfen des Präsidenten“ Heydrich.

>Im November 1943, in La Cure, lieferten Schweizer Grenzer Josef Spring und seine Verwandten nicht nur an die Nazis aus. Sie informierten die Deutschen, die Papiere der Flüchtlinge seien gefälscht und es seien Juden, worauf sie nach Auschwitz transportiert wurden.

Kurz vorher, ebenfalls in La Cure, wartete in der Nacht zum 17. Juli 1943 der Lausanner François Genoud auf den Kriminalkommissar, SS-Untersturmführer und Geheimdienstmann Paul Dickopf. Genoud war ein Bewunderer Hitlers, seit er 1932 als 17jähriger dessen persönliche Bekanntschaft gemacht hatte, und er blieb bis zu seinem Tod 1996 ein führender – aber gerichtlich nie belangter – Kopf der Schweizer und internationalen Naziszene.

Während sonst François Genoud bei La Cure über die Grenze ging, um teils allein, teils in Begleitung von Dickopf seinen Aufträgen sowohl für den deutschen als auch den schweizerischen Geheimdienst sowie seinen privaten Gold- und Devisengeschäften nachzugehen, kam nun Dickopf über die Grenze, um anschliessend unter einer falschen Flüchtlingsidentität über ein Jahr lang unerkannt in Lausanne zu leben. Dickopf wurde an der Grenze zusammen mit Genoud per Auto vom schweizerischen Nachrichtenoffizier Olivet abgeholt .

Genoud quartierte seinen SS-Freund in seiner Wohnung in Lausanne ein. Anschliessend besprach Genoud mit Olivet die Aufnahme des Flüchtlings unter falscher Identität. Am 8. August 1944 wurde Dickopf in Lausanne zwar verhaftet, bekam jedoch am 15. Dezember 1944 unter seinem richtigen Namen Asyl und erhielt ein Hotelzimmer als “Zwangsdomizil”.

> Dickopf pflegte in der Schweiz Verbindungen zum schweizerischen und amerikanischen Geheimdienst, ohne seine Freunde aus der deutschen Polizei und dem deutschen Geheimdienst zu verlieren. Das eröffnete Dickopf nach Kriegsende eine steile Polizeikarriere in Westdeutschland. Er wurde Direktor des Bundeskriminalamtes und schliesslich Präsident der Interpol. Wen wundert es, dass Dickopf, neben seinen übrigen Spezialitäten, auch als Zigeunerregistrator tätig war? Als Gestapo-Mann in Frankfurt wies Dickopf 1938 sogenannte “Asoziale” ins KZ ein, darunter auch Sinti und Jenische. 1939 leitete er die regionale “Zigeuner-Zenrale” der Kripo-Leitstelle Karlsruhe.

>1959 war Dickopf, nun als Chef des BKA, der Schweiz bei der Identifizierung von unerwünschten Zigeunern behilflich. Dr. Tschäppät von der Polizeiabteilung hatte am 20.7.1959 per Telex die Kantonspolizeien informiert:

aus frankreich sind, versehen mit abgelaufenen italienischen fluechtlingsausweisen, kuerzlich 45 zigeuner (tschechischer herkunft) in den kanton genf eingereist. die einreise war möglich durch fehlerhafte grenzkontrolle durch zollorgane. die rueckschaffung nach frankreich und italien scheiterte trotz allen versuchen, selbst in rom und paris. wir stehen vor der tatsache, dass diese leute im augenblick nicht weitergebracht werden können. diese sieben familien mit je 7 bis 8 personen (hauptsaechlich kinder) reisten mit autos und wohnwagen. diese gruppe befindet sich zur zeit in der umgebung der stadt bern. alle sind von uns mit neuen reiseausweisen fuer fluechtlinge ausgeruestet. mit diesen papieren koennten sie ohne visum nach deutschland fahren. fuer den augenblick ist ein solcher versuch aber nicht tunlich, weil in der presse bilder und berichte ueber diese zigeuner erschienen sind. wir sehen uns deshalb gezwungen, diese gruppe voruebergehend auseinander zu reissen”.

Ein von Dickopf persönlich unterzeichneter Brief des BKA vom 14. August 1959 an das Schweizer Zentralpolizeibüro listete zu vier als “Landfahrer” bezeichneten Personen dieser Gruppe, welche der Schweizer Grenzsperre entgangen war, insgesamt 47 Aufnahmen von Fingerabdrücken, Registrierungen und Ausschreibungen auf .

Die dermassen sorgfältig Registrierten waren nicht die letzten Zigeuner, die an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden. Über einen 1969 zu Unrecht diverser Verbrechen verdächtigen Rom forderten und erhielten Schweizer Polizeistellen Akten von Interpol. Polizeiliche Register von Roma-”Sippschaften” und auch spezifische Photoregister von Schweizer Jenischen, so etwa bei der Zürcher Kantonspolizei, wurden bis zu den Umbrüchen im Gefolge der Fichenaffäre 1990/91 geführt.

 

Thomas Huonker

 

Thomas Huonker. * 1954, schrieb (in Zusammenarbeit mit der Radgenossenschaft und betroffenen Jenischen): Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987; Roma – ein Volk unterwegs (St. Gallischer Lehrmittelverlag, 1999); Roma, Sinti, Jenische – Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus (zusammen mit Regula Ludi, herausgegeben von der Bergier-Kommission, Bern 2000/Zürich 2001). Dort sowie auf seiner Website www.thata.ch finden sich Details und Literaturangaben zum hier gerafft Erzählten.