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Freitag, 21. November 2008:

Podiumsdiskussion im Kloster Kappel, Kappel am Albis

Wer definiert die Würde des abhängigen Menschen?

Irène Gysel, Kirchenrätin, im Gespräch mit Diakonisse Margrit Muther, Oberin der Diakonissen-Schwesternschaft Neumünster; Prof. Ralph Kunz, Praktische Theologie Universität Zürich; Robert Neukomm, Vorsteher Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich; Renate Hauser-Hudelmayer, Gemeindepfarrerin Hedingen / Spitalpfarrerin Kilchberg

 

Impulsreferat von Thomas Huonker  (Schriftliche Fassung)

 

Menschenwürde und Abhängigkeit

 

Die Menschenwürde ist ein zentraler Wert sowohl der Religionen wie des menschenrechtlichen Denkens. Die Würde der Lebewesen, die Ehrfurcht vor dem Leben, wie sie uns Albert Schweitzer, der Hinduismus, der Jainismus sowie viele animistische Religionen lehren, sollte auch nicht auf die menschliche Art beschränkt sein, doch dies ist eine Debatte der Ethik, die wir heute nicht traktandiert haben.

 

Bleiben wir also bei der Menschenwürde, und zwar bei der Menschenwürde gerade in Situationen der Not, der Abhängigkeit.

Ich möchte mit einer Szene aus der Theaterwelt beginnen.

Wie liess doch Georg Büchner seinen Woyzeck sprechen, der als gehetztes Opfer von gnadenlosem Bossing sowie von medizinischen Experimenten schliesslich selber zum Täter wurde?

Als Woyzeck, der gehetzte Untertan, im Gespräch mit seinem wohlgenährten, glattrasierten und gutbesoldeten Hauptmann noch einigermassen bei Verstand war, fasste er seine Situation als armer, abhängiger Kerl so zusammen:

„Ja, Herr Hauptmann, die Tugend - ich hab's noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt' ein' Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt' vornehm rede, ich wollt' schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!“

Mit „Natur“ meinte Woyzeck die Abhängigkeit von existenziellen Trieben: Hunger, Sexualität. Er beklagte das Fehlen von Ressourcen, Reserven, Annehmlichkeiten und Komfort, welche das Ausgesetztsein der menschlichen Existenz gegenüber diesen Naturbedürfnissen in der Situation der Armut und Abhängigkeit noch verschärfen und allzuoft zu Situationen der Entwürdigung führen. Selbstverständlich haben auch die Reichen, Unabhängigen, in vollem Komfort lebenden und mit überdurchschnittlichen materiellen Ressourcen ausgestatteten Menschen damit noch kein Abonnement auf ein tugendhaftes und würdiges Leben – aber doch grössere Chancen dazu, ausser aus einer moralischen Sicht, welche den Reichen diese Chancen prinzipiell abspricht.

Wie auch immer – es ist nur allzu gut belegt, dass Armut, Not und Abhängigkeit der Entwürdigung, dem Entzug und Verlust der Menschenwürde Tür und Tor öffnen, dass es schwieriger ist, in Extremsituationen seine Würde zu wahren als in gesichertem Komfort. Das zeigt sich beim Zusammenbruch gesicherter Situationen, wenn etwa eine Krankheit, ein Herzstillstand, eine Psychose oder einfach nur die Altersschwäche, Abhängigkeiten entstehen lässt, die viele als entwürdigend empfinden. Nun, heute ist man rasch bei der Hand mit dem Argument: Eben deshalb hat der Mensch ja die Freiheit zum Entscheid, sein Leben zu beenden. Er kann sich, wenn er noch bei Kräften ist, selbst umbringen. Oder er kann sich bei Organisationen wie Exit oder Dignitas melden. Dignitas, dieses schöne lateinische Wort, heute zu unschönen Zwecken eingespannt, heisst ja nichts anderes als Würde. Ich will nicht bestreiten, dass Selbstmord in gewissen Grenzsituationen ein respektabler Abgang sein kann, noch weniger, dass manche sehr tugendhafte, sehr riskante Handlungen, etwa Akte des Widerstands gegen Gewaltherrschaft, auch etwas Selbstmörderisches an sich haben können. Ausgereiften Argumentationen in Handlungsfeldern dieser Art will ich keineswegs widersprechen, sehr wohl aber Argumentationen, welche Alten, Kranken und Abhängigen im Namen einer missverstandenen „Würde“ die zügige Selbstentsorgung empfehlen. Dass Adepten dieser Vereine oft auch noch den Begriff „Euthanasie“ verwenden, verweist auf einen weiteren Pferdefuss solcher zeitgenössischer Abwandlungen ausgerechnet des Begriffs „Würde“. Denn der Begriff „Euthanasie“ wurde bekanntlich gerade auch von jenen Experten eines effizienten Herrenmenschentums verwendet, welche die Entwürdigung von Millionen von Menschen bis zu deren industrieller Vernichtung und Verwertung vorangetrieben haben.

 

Weniger bekannt ist, dass auch Schweizer Politiker diese Art der so genannten „Euthanasie“ propagierten. Im Berner Kantonsparlament wurde an den Sitzungen vom 12. und 13. September 1923 eine Motion des Berner Stadtarzts und Grossrats der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, Vorläuferpartei der gegenwärtigen SVP) Alfred Hauswirth abgehandelt. Die Motion schlug vor, «unheilbare Geisteskranke und Idioten» zu töten.

Hauswirth begründete dies so: «Der Idiot, der komplett schwachsinnige Mensch, der als solcher auf die Welt kommt oder infolge von Kinderkrankheiten in diesen Zustand verfällt, muss ein möglichst hohes Alter erreichen, wird aufgepäppelt, vielleicht mit der grössten Kunst, um ihn ja lange leben zu lassen, statt dass man das genau gleich humane Verfahren einschlagen würde, das die Spartaner lange vor uns eingeführt haben, nämlich dass man ihn rechtzeitig beseitigte.»

Dasselbe «humane Verfahren» der Beseitigung sollte nach dem Vorhaben des Berner Stadtarzts auch angewendet werden auf den „unheilbar Geisteskranken, der jahrzehntelang in einer Irrenanstalt vegetiert, seiner Familie und der ganzen Öffentlichkeit zur Last fällt».

Glücklicherweise blieb der BGB-Politiker Hauswirth mit seinen Vorhaben in der Minderheit.

Doch das Kostenargument, das hinter der von Männern wie Hauswirth propagierten „Euthanasie“ von so genannten „Ballastexistenzen“ stand,

ist immer noch virulent.

 

Bis vor kurzem trugen Apologeten des kaltherzigen, profitorientierten Neoliberalismus lauthals ihre Diskurse von Kosteneffizienz, ungünstiger demografischer Entwicklung, überproportionaler Kostensteigerung im Alterspflegebereich, angeblicher finanzieller Schieflage der staatlichen Alters- und Sozialversicherungssysteme vor. Diese Diskurse verunsicherten viele. Alte, Kranke, Invalide, Behinderte erhielten bei zunehmender medialer Berieselung durch solche Diskurse den Eindruck, sozial untragbar, kaum finanzierbar, überflüssig, kostensteigernd etc. zu sein. Dies ist auch ein Druck, und zwar ein menschenunwürdiger. Es ist auch dieser Druck, welcher manche dazu trieb, die eigene Existenz als Problem und Sterbehilfe als dessen moderne Lösung zu sehen.

 

Solche Diskurse und Statistiken zum Lob der Profitmechanismen und zur Streichung von Sozialausgaben, angereichert mit dem dicksten Selbstlob der angeblich so kosteneffizienten und produktiven neoliberalen Wort- und Wirtschaftsführer, wurden in den letzten Monaten allerdings schlagartig von breitesten Kreisen als Makulatur erkannt. Die aktuelle Finanzkrise hat gezeigt, dass eben diese hochbezahlten CEO’s und der von ihnen propagierte Casinokapitalismus Riesenverluste verursachen, die Rücklagen der Pensionskassen schröpfen und die Realwirtschaft schädigen. Dass die vormaligen Hohepriester des Neoliberalismus nun auch noch Staatsgeld in einem Ausmass und in einer arroganten Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen und willfährig ausgehändigt bekommen, wie dies kein Invalidenverband, keine Altersgruppe, keine Gewerkschaft, kein Staatsbetrieb tun könnte oder tut, erweist definitiv auch jene neoliberalen Argumentationen als obsolet, welche Staatsausgaben, insbesondere für soziale Zwecke, für Arme, Abhängige und so weiter, als überflüssig und unwirtschaftlich bekämpften. Dieser Diskurs wird noch verfehlter, wenn die neuen Subventionsempfänger aus der Hochfinanz auch weiterhin, nach dem von ihren Maximen verursachten Finanzcrash, Sparprogramme gegenüber Armen, Ausgegrenzten, Abhängigen und sozial Schwachen propagieren wollen.

 

Es ist zu hoffen, dass die in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs arg zurückgedrängten Haltungen der Solidarität mit Schwachen, der Grosszügigkeit beim Investieren in den sozialen Bereich, der Zielsetzung eines sozialen Ausgleichs, der sozialen und globalen Gerechtigkeit, in der demokratischen Entscheidfindung wieder jenes Gewicht erhalten, das ihnen zusteht.

 

Pflegebedürftige brauchen Pflege. Pflegende helfen solchen, die von ihrer Hilfe abhängig sind. Wir alle sind zunächst als sozial Schwache geboren: Der Mensch braucht als Kind Jahre der Pflege. In diesem Sinn waren wir alle Pflegekinder. Der Begriff Pflegekinder lässt aber anderes anklingen. Hiessen nicht die Verdingkinder, gnadenlos ausgebeutet und oft sexuell missbraucht, amtlich Pflegekinder? Und waren diese nicht von vornherein sozial noch weit schwächer als die Gleichaltrigen, die in der Sicherheit und im Schutz angesehener und einflussreicher elterlicher Verhältnisse aufwuchsen? Und gibt es nicht auch heute noch misshandelte Pflegekinder sowie Ausbeutung von Kinderarbeit?

 

Allerdings sind auch bei manchem und mancher, die in Umfeldern liebevollster Pflege und Geborgenheit aufwuchsen, in den Dunkelkammern fast verdrängter Erinnerungen eigene Situationen von Entwürdigung, Hilflosigkeit, ausgenutzter Abhängigkeit gespeichert. Die Erinnerung daran kann entweder verdrängt werden, oder sie kann helfen bei Versuchen, sich in Ausgegrenzte und Abgedrängte einzufühlen.

 

Der Begriff Pflege umfasst ein weites Feld. Die Schulpflege, die Kirchenpflege, die Instanzen, die noch bis vor kurzem Armenpflege hiessen – gilt es da nicht auch Fragen der Würde der Abhängigen zu thematisieren? Und tangieren Situationen, in denen die Menschenwürde der Abhängigen missachtet wird, nicht auch die Menschlichkeit der Helfenden, der Pflegenden, der Unabhängigen, der An- und Abweisenden, der Einweisenden?

 

Ich habe im Auftrag von nunmehr vier Institutionen – dem Zürcher Sozialdepartement, dem Werk- und Wohnhaus zur Weid, der Vormundschaftsbehörde Adliswil, dem Kloster Kappel – solche Situationen historisch untersucht.[1] Und ich habe das mit einer Sichtweise getan, die vom Kontakt und Austausch weniger mit den Pflegenden als mit den Gepflegten geprägt ist, die mehr im Kontakt mit den Ausgegrenzten, Verdingten, Eingewiesenen, Abhängigen und Ausgewiesenen zu Stande kam als im Austausch mit den behördlichen Instanzen dieses Bereichs.

Diese Sichtweise konnte ich mir aneignen, weil ich mit vielen solchen Menschen gesprochen habe. Sie haben mir ihre Lebensgeschichten anvertraut. Es waren einige darunter, die ihre Lebensgeschichte, weil sie so voll erniedrigender und entwürdigender Situationen war, vorher noch niemandem, nicht einmal den eigenen Familienangehörigen, erzählt hatten. Dass ich diese Geschichten publizierte, hat anderen Mut gemacht, es ebenso zu tun, oder ihre Geschichten selber aufzuschreiben.

 

Wie bin ich dazu gekommen? Nicht durch meine kleinbürgerliche  Herkunft als Lehrerskind, oder höchstens insofern, als ich im Umfeld von Elternhaus und Schule früh schon eindrückliche Autobiografien armer Leute, wie die von Thomas Platter [2] oder von Ulrich Bräker,[3] zu lesen Gelegenheit erhielt. Ich las, ebenfalls schon als Halbwüchsiger, mit grossem Interesse Bücher mit Interviews gewöhnlicher Leute, so von Studs Terkel: „Bericht aus einer amerikanischen Stadt, Chicago“ [4] oder von Laurence Wylie: „Dorf in der Vaucluse, Der Alltag einer französischen Gemeinde“.[5]

Dass aber in nächster Nähe, in der heutigen Schweiz, Menschen leben, die Unerhörtes zu erzählen haben, erlebte ich erstmals als 21jähriger Student, an einer sogenannten Sommerunversität in Genf, 1975 organisiert von einem christlich-sozialistischen Umfeld. Diese Sommeruniversität befasste sich mit Fragen der Urbanistik, der Sozialarbeit und des sozialen Lernens, und zwar in Le Lignon.

Le Lignon ist eine riesige Beton-Satellitenstadt, gebaut von 1963 bis 1971, bestehend aus Hochhäusern von 26 und 30 Stockwerken und einem Wohnblock von über einem Kilometer Länge, mit insgesamt 2780 normierten Wohnungen, davon 1097 Sozialwohnungen, für rund 6500 Bewohner, mit einem Minimum an Infrastruktur. Zum Programm der Sommeruniversität gehörte auch ein Ausflug in eine ähnliche städtebauliche Situation in Grenoble sowie ein Treffen mit Paulo Freire, dem Verfasser der „Pädagogik der Unterdrückten“;[6] Paulo Freire wirkte von 1970 bis 1980 als  "Counsellor of the Office of Education" im ökumenischen Weltkirchenrat in Genf. Wir machten eine Umfrage bei Bewohnern von Le Lignon, indem wir von Tür zu Tür gingen und diejenigen, die dafür Zeit hatten, über ihre soziale Situation befragten. Das alles war nicht akademisch, im Hinblick auf eine Publikation, aufgezogen, sondern eben im Zeichen des sozialen Lernens und Austauschs. Die Fragebogen waren kein Selbstzweck, sondern Mittel der Kontaktaufnahme, die Auswertung erfolgte in den Diskussionsrunden mündlich.

Ihm Rahmen dieser Umfrage begegnete ich in einer mit billigen Möbeln vollgestellten Einzimmerwohnung einer älteren Frau aus der Innerschweiz. Wir waren froh, uns auf deutsch verständigen zu können, und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Ich hatte kein Tonband dabei, ich machte nicht einmal Notizen, den Fragebogen liess ich auch unausgefüllt. Als sie nach einer oder zwei Stunden ans Ende ihrer Geschichte, zu ihrer gegenwärtigen Situation, gekommen war, war ich betroffen und berührt. Ich sagte ihr, ich hätte von ihr in diesen zwei Stunden mehr gelernt als in meinen bisherigen zwei Jahren Geschichtsstudium an der Universität Zürich von allen Professoren.

Was die Frau in Le Lignon mir erzählt hatte, habe ich im Lauf der Jahre vergessen. Geblieben ist mir nur ihr Name und der Eindruck, den mir ihre Geschichte machte. Und geblieben ist mir die Gewissheit, dass solche Lebensgeschichten, so unwahrscheinlich und ungewohnt sie einem Bewohner anderer Lebenswelten erscheinen mögen, eine klar spürbare Authentizität haben und soziale Wirklichkeiten sehr aussagekräftig, detailreich und lebensecht darstellen. Ich habe in der Folge dafür gesorgt, dass ich in späteren solchen Erzählsituationen ein Tonband dabei hatte, um solche Lebensgeschichten, die mich weiterhin stark beeindruckten, auch für andere zu dokumentieren.

Eines der faszinierendsten Erlebnisse meiner Archivforschungen war es dann, 31 Jahre später, im Bundesarchiv in Bern, in einem Bestand mit vielen autobiografischen Briefen und selbstverfassten Lebensläufen, einen vor nunmehr 23 Jahren erschienen Zeitungsartikel zu finden mit dem von Heimaufenthalten und Ausbeutung geprägten Lebenslauf eben jener Frau, die mir damals ihre Geschichte in Le Lignon erzählt hatte. Gut möglich, dass mein Zuhören und mein Zuspruch in Le Lignon ihr den Mut gegeben haben, ihre Geschichte später einem Journalisten zur Veröffentlichung anzuvertrauen. So habe ich, lange nach ihrem Tod und 31 Jahre nach unserem Gespräch, dessen Inhalt wieder aufgefunden.

 

Dies zu meiner Prägung im Umfeld von Armenpflege und Krankenpflege; sie erfolgte nicht an einer Ausbildungsstätte für soziale Arbeit, für Krankenpflege, für Diakonie oder Psychiatrie, und die Menschen, die mich so prägten, waren nicht professionelle Helfer und Behördemitglieder, sondern solche, die ihre Helfer und Pfleger und Vormünder vielfach verfluchten, allerdings nicht ohne die gewissenhafte Erwähnung positiver Ausnahmen, die es auch gab.

 

Bei den erwähnten historischen Arbeiten für die genannten vier Insitutionen hatte ich auch Zugang zu deren schriftlichen Quellen und Aktenbeständen. Diese wurden, mit Ausnahme weniger Selbstzeugnisse wie Lebensläufe, Rekurse oder Protestbriefe, von den Helfenden, Pflegenden, Beaufsichtigenden, Einweisenden, Bevormundenden, Begutachtenden, Überwachenden, Verhaftenden und Strafenden verfasst, und zwar vielfach in der Meinung, dass die Betroffenen und Beschriebenen niemals Einsicht in diese Akten erhalten würden, wofür auch lange genug gesorgt wurde.

Das Frappante bei der Lektüre dieser Texte in Archiven und kalten Kellern war der schneidende, oft verachtungsvolle, manchmal auch hämische und verspottende Ton eines Grossteils dieser Behördentexte. Texte wie Verfügungen und Anweisungen, die an die Menschen, über welche diese Akten angelegt wurden, gerichtet waren, sind zwar meist etwas korrekter und formeller, aber doch in kaltem Amtsdeutsch verfasst und enthalten oft massive Drohungen, wo sie nicht schon direkte Erlasse zur Durchführung von Zwangsmassnahmen sind.

Wurden solche Texte von wissenschaftlich Ausgebildeten verfasst oder in wissenschaftliche Publikationen eingebaut, wurden sie zwar anonymisiert, manchmal aber noch kälter und verachtungsvoller abgefasst. Gerade in wissenschaftlichen Umfeldern auffallend ist die Prägung durch Axiome des damaligen wissenschaftlichen Mainstreams, bis hin zu über Jahrzehnte hinweg serienweise wiederkehrenden fixen Formeln und starren Stereotypisierungen. Sie belegen, dass gerade auch Wissenschaft Vorurteile und Diffamierungen tradieren kann.

 

Neuere Untersuchungen haben diesen Vorgang der Stigmatisierung der Armen, Abhängigen, Befürsorgten etc. durch die Aktenführung jener, welche sich als deren Helfer auffassten, genauer thematisiert, so die Arbeit von Andrea Tischhauser: „Stigmatisierung durch Akten und Fallführung?“, [7] oder das Nationalfonds-Forschungsprojekt "Aktenführung und Stigmatisierung. Institutionelle Ausschlussprozesse am Beispiel der Aktion ‚Kinder der Landstrasse’ 1926–1973" von Sara Galle, Thomas Meier und Roger Sablonier.[8]

 

Ich werde ihnen nun einige solcher Formulierungen vorlesen, welche die Beschriebenen entwürdigten, herabsetzten und in der Folge oft gravierenden Zwangsmassnahmen wie Vertreibung, Kastration, Sterilisation, Kindswegnahme, Eheauflösung, Anstaltseinweisung etc. auslieferten. Einige davon haben einen Bezug zu Institutionen in Kappel, andere zu anderen Insititutionen. Letzteres, neben inhaltlichen Querbezügen, auch deshalb, weil von der Armenanstalt und von der Korrektionsanstalt in Kappel, ebenso wie vom Asyl, also der Krankenabteilung, kaum noch persönliche Aktendossiers vorliegen, wie ich sie in den anderen erwähnten Institutionen zu Hunderten, ja zu Tausenden vorfand. Die wenigen aus Kappel vorliegenden Dokumente unterscheiden sich aber in der Tonart nicht gross von jenen zeitgleicher Institutionen des Sozialbereichs und des Gesundheitswesens.

 

Aus dem Umfeld von Kappel sind aber einige sehr frühe Texte zum Umgang mit Armen überliefert.

So ein Text von Heinrich Bullinger, der, bevor er in Zürich Nachfolger Zwinglis wurde, auch in Kappel wirkte, aus dem Jahr 1558. Bullinger sieht in den Armen, welche sich durch Bettel statt durch geordnete Fürsorge ernähren, eine Gefahr. Er schreibt:

„Diejenigen, die sich der Bettelei hingeben, kommen nie in eine Kirche, beten nicht, fühlen sich keinen Gesetzen unterstellt, fügen sich keiner Ordnung, tun ungestraft, was sie wollen, sind verdorben und verlassen. Man hat von ihnen nichts als Unruhe und Schlimmes zu gewärtigen.“

Als besonders gefährlich empfand Bullinger ein solches Leben, wenn es im Familienverband und generationenübergreifend der Fall war. Er sah in einer solchen Tradierung von Überlebensstrategie eine gefährliche Unordnung und moralische Verworfenheit und formulierte das so: Sie «leiten auch ihre Kinder zum Betteln und damit zu einem ungeordneten Leben an – der Quelle alles Bösen». Diese Ausführungen lässt Bullinger übrigens auf ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium folgen, wo es [in Kapitel 3, Vers 17] heisst: „Wer Geld und irdisches Gut hat und zusieht, wie sein Bruder Not leidet, in dem ist keine Liebe Gottes.“ [9]

 

Das Klosteramt konnte sich angesichts der schriftlichen Grundlagen christlicher Ethik also weder der Fürsorge für Bettler noch derjenigen für nicht ein­heimische Arme, für Fremde, Durchreisende, Obdachlose gänzlich entziehen. Es verknüpfte sie aber mit der Pflicht zur Weiterreise. Im Rahmen einer solche Fürsorge, die gleichzeitig eine Wegweisung war, kam es auch in Kappel zu entwürdigenden Szenen, so etwa zu folgendem Drama, überliefert in einem Schreiben des Landvogts von Knonau an den Bürgermeister von Zürich vom 5. Au­gust 1619. Es schildert die Verzweiflungstat einer obdachlosen Bettlerin: Einer «armen frouw samt driyen Kindern (deren das eine noch so klein, dass sie es tragen muessen)» habe man die einmalige Übernachtung gestattet; am nächsten Morgen habe sie sich mit dem Messer den Hals aufgesto­chen. Die überlebenden Kinder erzählten, der Vater sei weggelaufen, und sie kämen aus dem Aargau.[10] 

Anschliessend debattierten die zuständigen Obrigkeiten noch darüber, ob man diese Bettlerin und Selbstmörderin christlich bestatten dürfe, was schliesslich gestattet wurde, da sie den Selbstmord vor ihrem Tod noch bereut habe.

Ganz im Sinn dieser Kombination von Almosenamt und Wegweisungsinstanz hatten die Amtmänner, auch der von Kappel, die «Betteljagden» mitzuorga­nisieren, die periodisch zur Vertreibung eben solcher armer Leute, die unterwegs waren, darunter auch der so genannten «Zigeuner», durchgeführt wurden.

Dazu schrieben Heinrich Bullinger und Rudolf Gwalt­her (ein in Kappel ausgebildeter Pfarrer) in ihrer gemeinsam verfassten Schrift zur Bekämpfung des Bettels von 1572: «Die Landstreicher aus deutschen, französischen und ita­lienischen Gegenden muss man […] entweder wieder zurück­schicken oder anweisen, auf den gewöhnlichen Verkehrswegen ohne Umwege durchzuziehen, nicht zu betteln und nirgends Gaben zu verlangen […] Arbeitsfähige unter ihnen […] soll man […] gefangen nehmen, sie durchsuchen, wie es der eide­nössische Erlass erlaubt […]. Denn da sie einen neuen Stand und Beruf hervorgebracht haben und auch sonst in jeder Hin­sicht den Zigeunern gleich sind, kann man mit ihnen wie mit diesen verfahren.»[11]

Die stets wiederkehrenden Debatten über Bettelverbote und Wegweisungen von so genannten „Zigeunern“ in der Schweiz habe ich in anderen Publikationen über die Jahrhunderte hinweg dokumentiert, und wie Sie wissen, werden solche Debatten auch heute noch geführt, wobei den Roma auch heute noch allzuoft nicht die gleiche Menschenwürde und das gleiche Menschenrecht zugesprochen wird wie andern, die ebenso auf finanzielle Unterstützung durch Staatsgelder oder andere Fördermittel angewiesen sind.

 

Nun einige Zitate zur Anstaltszeit aus dem 19. und 20. Jahrhundert, ebenfalls mit Bezug auf Kappel:

 

Am 26. April 1858 schrieb die Aufsichtskommission der Bezirksarmenanstalt Kappel an die kan­tonale Armendirektion, «es gebe eine Klasse von Armen, deren Charaktereigenschaften ihnen den Zugang in jede Familie verschliesse: Vagabunden mit ihrer unausrott­baren Arbeitsscheu und freche, zu keinem freundlichen Verhalten fähige Menschen. Solche Typen könnten nur in einer Anstalt zweckmässig untergebracht werden».[12]

Einige Jahrzehnte später formulierten die Verantwortlichen:

«Unter den Versorgten, namentlich in der Anstalt, gab es zudem auffallend viele, die geistig minderwertig waren. 1880 waren z. B. nach dem Urteil des Anstaltsarztes Dr. Kämmer 4 geistesschwach, 8 blödsinnig, 2 verrückt, 2 periodisch verrückt, 1 perio­disch geisteskrank, 2 epileptisch.»[13]  

Und weiter:

«Wohl gab es immer wieder Insassen, die dankbar waren für alles, was man ihnen bot; die meisten jedoch besas­sen eine unausrottbare Kritiksucht, die überall etwas zu nörgeln fand. Am unerträglichsten waren die im Armen­haus untergebrachten Frauen der Korrektionsabteilung. Ursache ihrer Versorgung waren fast immer Prostitution, Trunksucht oder Arbeitsscheu.»[14]

 

Es gab auch Stimmen, welche von mehr Sensibilität und Einfühlung für die Anstaltsbewohner zeugten, selbst für die von Amtes wegen als „liederlich“ und „arbeitsscheu“ bezeichneten Korrektionshäftlinge. Ein anonymer Korrespondent unterzog in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juli 1911 den aktuellen Betrieb der Korrektionsanstalten scharfer Kritik. Insbesondere vermisste er deren „bessernde“ Wirkung.

Er schrieb:

„Zeit für die Seele dieser Korrektionsbedürftigen bleibt selbst in einer staatlichen Anstalt keine. Überall schaut der Geschäftsmensch heraus, der bezahlte Mietling. Opfer und Herz sucht ihr umsonst. Eintönig, frostig, kalt, wie das gelblich schmutzige Korrektionsgewand, ist der Lauf des Tages. (...) Und der Detinierte? Glauben Sie etwa, er fühle das alles nicht? Besser und tiefer als wir. Für ihn ist ein Tag, was der andere – wenn er nur herum ist! Sie wissen wohl und sagen es auch mit finsterem Trotz, dass diese Korrektion ihnen nicht auf die Beine hilft, dass sie elender dran sind nach ihrer Detentionszeit als vorher.“ Und weiter: „Heute treibt in unsern Korrektionsanstalten, dank dem geltenden System, dem ungenügenden und zum Teil minderwertigen Personal, ein krasser Arbeitsschlendrian volle Blüten. (...) Den durch den ökonomischen Haushalt schwer belasteten Verwaltungen ist es absolut unmöglich, für die Korrektion der Insassen etwas Erspriessliches zu leisten. Dadurch verwildert die Grosszahl der Detinierten gänzlich, statt gehoben zu werden. Sagte mir doch erst kürzlich ein solcher: Wenn ich hinauskomme, muss ich erst wieder lernen mit den Leuten umzugehen.’“

 

Ernst Hanhart war ein bekannter Exponent der schweizerischen Rassenhygiene. Er war Dozent an der Universität Zürich und Mitarbeiter bei gesundheitspolitischen Grosspublikationen des Nazireichs. Einer seiner Schüler war G. Edward Buda, der unter der Anleitung Hanharts im Jahr 1937 folgende Dissertation verfasste: „Über das Vorhandensein bzw. Fehlen von sog. Entartungszeichen bei 72 Verwahrungs-gefangenen (Haltlosen Psychopathen, Debilen und Psychotikern)“.[15]

Buda war sich des begrifflichen Umfelds seiner „Entartungsforschung“ durchaus bewusst und schrieb: „Die unbestreitbare Problematik des leider vielerorts zum Schlagwort gewordenen Begriffs „Entartung“ darf uns nicht davon abhalten, die im Vergleich zur Exterieurkunde der Tierärzte und Züchter noch stark vernachlässigte Somatologie des Menschen im Allgemeinen und vor allem der konstitutionell minderwertigen [...] Individuen besser auszubauen.“ [16]

Dieser Forscher durfte „dank dem freundlichen und verständnisvollen Entgegenkommen der Hohen Regierung des Kantons Zürich sowie der Direktion der Kantonalen Strafanstalt Regensdorf“, wie er es formulierte, 57 männliche Verwahrungsgefangene in Regensdorf einer „Inspektion“ unterziehen, wobei auch „die bekleideten Körperteile kurz berücksichtigt werden“ konnten. Er untersuchte auch weibliche Verwahrte und bemerkte dazu: „Bei den 15 weiblichen verwahrten Insassen verbot sich leider jegliche Entkleidung aus Rücksicht auf den Strafvollzug und die Möglichkeit falscher Auslegung unserer wissenschaftlichen Absichten.“ [17]

Dass ein solches Untersuchungsverfahren auch entwürdigend sein könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Dem entspricht auch Budas Wortwahl. Buda schildert einen der von ihm Untersuchten wie folgt:

S. F., geb. 17. 1. 1890, Handlanger aus der Zürcher Landschaft. Ledig. Erbliche Belastung: Nicht erwiesen. Vorleben: Immer wieder rückfälliger, verwahrloster Trinker, der aus den offenen Anstalten U[itikon] a. A, Ue[tikon] a.S., R[inglikon] und K[appel] a.A. wiederholt entwich und deshalb in R[egensdorf] verwahrt werden musste. 3 Vorstrafen. Psychiatrische Diagnose (Heilanstalt B[urghölzli]): Psychopathische Haltlosigkeit mit Alkoholismus und Verstimmungen, ohne Selbst- und Gemeingefährlichkeit. Körperlicher Befund (8. 11. 34): Habitus pyknisch-athletisch. Konfluierende Augenbauen (Synophris). Trinkerphysiognomie, starker Händetremor. Nebenbefund Tätowage.“ [18]

 

Über einen anderen zeitweise auch in Kappel internierten so genannten „Liederlichen“ schrieb Buda:

 Sp. R., geb. 6.8.1886, Handlanger aus der Zürcher Landschaft. Militärfrei wegen Plattfüssen. Ledig. Erbliche Belastung: Mutter schwere Trinkerin. Ein Bruder des Expl. ebenfalls Trinker. Vorleben: Zeichnete sich schon als Jüngling durch Roheit und Liederlichkeit aus, sodass er mit 19 Jahren in die Erziehungsanstalt R[inglikon] versorgt werden musste. Konnte es nirgends lange aushalten, wechselte Beruf und Stellungen ausserordentlich häufig, trieb sich als Vagabund herum und kam schon sehr früh ins Trinken hinein. Bietet jetzt geistig und körperlich das Bild eines heruntergekommenen Trinkers. Wurde mit 42 Jahren zuerst in der Anstalt K[appel] a. A., dann im Männerheim R[ossau] untergebracht, wo er aber immer wieder entwich, sodass er in die geschlossene Verwahrungsanstalt R[egensdorf] eingewiesen werden musste. Kann unter Aufsicht ein guter Arbeiter sein, wenn er will. 7 Vorstrafen, meist wegen Diebstahls. Psychiatrische Diagnose: Angeborener Schwachsinn leichteren Grades bei chronischem Alkoholismus mit Neigung zu explosiven Reaktionen im Trunk. Da völlige Einsichtslosigkeit – schlechte Prognose. Körperlicher Befund (8.11.34): Habitus leptosom-asthenisch. Stärker dysplastische Schädel- und Gesichtsbildung. Sehr plumpe Ohrmuscheln, angeborene Startrübung am rechten Auge, das blind ist und infolgedessen nach aussen schielt (Strabismus divergens). Äusserst plumpe Hände, besonders die Daumen. Beidseits Unterschenkelvarizen, namentlich rechts. Epikrise: 45jähriger, intellektuell debiler Alkoholiker und Vagant mit kriminellen Neigungen und ausgesprochener körperlicher Stigmatisierung.“ [19]

 

Eine Frau beschrieb Buda mit diesen Worten:

G.A., 48jährig, geschiedene Kellnerin. 4 Kinder, wovon ihr zuerst 2 durch das Scheidungsurteil zugesprochen wurden. Nach 5 Jahren verlor sie wegen ihrer gewerbsmässigen Unzucht die elterliche Gewalt auch über diese beiden Kinder. Mit 47 Jahren bevormundet. Erbliche Belastung: Nicht erwiesen. Vorleben: Zog sich durch ihre Lebensweise 1 Jahr nach der Scheidung eine syphilitische Infektion zu und wurde 3 Monate lang in der Dermatologischen Klinik interniert. Vermochte sich dann eine Zeit lang mehr oder weniger einwandfrei durchzubringen, musste in den folgenden Jahren aber nach mehrmaliger Verwarnung wegen Gewerbsunzucht polizeilich mit Haft bestraft werden. Wurde dann 2 Jahre in der Korrektionsanstalt Kappel a. A. versorgt, jedoch ohne Erfolg. Kam ins Trinken hinein und konnte sich wegen ihrer Liederlichkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit und Frechheit nirgends mehr halten. Wurde dann eine Zeit lang in der Korrektionsanstalt L[ittenheid] (Kt. St. G[allen]) versorgt, beging aber nach ihrem Austritt ein Betrugs- und Diebstahlsdelikt, so dass sie zur Strafe von 3 Wochen Gefängnis verurteilt werden musste. Soziale Diagnose: Raubdirne und notorische Trinkerin, früher syphilitisch. Körperlicher Befund (8. 11. 34): Physiognomie unauffällig, ebenso der Körperbau, soweit das die Kleidung erkennen lässt. Merkwürdig sind einzig die überschlanken Finger. Epikrise: Psychopathisch haltlose Dirne und Trinkerin von einstweilen leichterer Kriminalität. Körperlich: Forme fruste von Arachnodaktylie.“ [20]

Galten Buda bei Sp. R. die „plumpen“ Daumen als „Entartungszeichen“, waren es bei G.A. „die überschlanken Finger“.

 

Abwertende und entwürdigenden Äusserungen finden sich aber auch über Menschen, die schlicht Verfolgte, und zwar Verfolgte des Nazi-Regimes waren. Im Protokoll der Kappelerpflege vom 19. November 1942 heisst es:  Pfarrer Stuckert beantragte «für zwei oder mehrere alte Flüchtlinge Freiplätze bereit zu halten bis zum Ende des Krieges. Der Antrag erfolgt auf eine Aufforderung von Seiten der Flüchtlingshilfe, unterstützt vom Kirchenrat unseres Kantons. […] Herr Präsident Weid­mann weist darauf hin, dass die Schweiz für die Flüchtlinge sorgen müsse, wie sie es schon in früheren Zeiten getan habe. Er erinnerte an die vertriebenen Locarner, die Hugenotten, die Flüchtlinge der Jahre 1847/1848. Jetzt [jedoch] handelt es sich um andere Flüchtlinge, um Leute, die uns kulturfremd sind und die sich nur schwer anpassen können. […] Es ist fraglich, ob sie sich reibungslos in den reibungslos in den Betrieb der Anstalt einfügen würden und ob sie nicht Ursache zu Unruhen und zu Un­zufriedenheit wären. […] In der Diskussion wird hervor­gehoben, dass die Anstalt Eigentum der Kirchgemeinden des Bezirks sei. Diese sind aufgerufen, für die Flüchtlinge etwas zu tun. Dies sei nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern Christenpflicht.» Anstaltsverwalter Bögli entgegnete, dass er «unter keinen Um­ständen sich mit der Gewährung von Freiplätzen oder der Aufnahme von Flüchtlingen einverstanden erklären könne. Mit den drei bis jetzt vom Bund eingewiesenen Frauen habe man die schlechtesten Erfahrungen gemacht. Sie wirkten als fremde Elemente störend auf den Betrieb und die Disziplin. Eine Aufnahme von Flüchtlingen wäre für die Verwaltung eine untragbare Belastung und für die Anstalt ein gefährliches Experiment.» [21]

Es fanden deshalb nur einige wenige Flüchtlinge in Kappel Asyl. Eine der vom Verwalter als «störende fremde Elemente» Bezeichneten war Else M., konfessionslos, Fürsorgerin aus Berlin, Jahrgang 1899, geschieden. Sie lebte vom 15. März 1940 bis zum 28. August 1941 sowie vom 5. März 1942 bis zum 11. Mai 1942 in Kappel.

 

Auch nach 1945 wurde betreffend Behandlung und Schilderung der Insassen von Armenanstalten kein grosser Wert auf deren Menschenwürde gelegt.

Folgende Bezeichnungen verwendet in einer Publikation aus dem Jahr 1946 der Leiter der Berner Armenanstalt Bärau, Fritz Wüthrich, für die damaligen Bewohner seiner Institution: „Wer wird nun also versorgt? Es sind Alte und Gebrechliche, es sind Unfähige, es sind körperlich und geistig Behinderte, Taubstumme, Schwachsinnige, Idioten, Kretinen, Unreinliche, Ungeordnete, Bösartige, die Streit und Händel suchen, Unbotmässige, Undisziplinierte, unheilbare Alkoholiker, notorische Faulenzer, Vagabunden, Charakterdefekte“. [22]

Wüthrich verglich die Insassen der von ihm geleiteten Armenanstalt mit Tieren: „Das Essen ist Inhalt ihres Daseins und geht über alles. Dass es unter den Pfleglingen ausgesprochene Vielesser gibt, weiss jeder, der irgendwie fürsorgerisch tätig ist. Es sind namentlich die jungen Schwachsinnigen und Taubstummen, die das Doppelte und oft mehrfache einer Normalration zu sich nehmen. Wenn man ihr Essen näher studiert, macht man die fatale Feststellung, dass sie vielfach nicht kauen, sondern das Essen hinunterschlingen in tierhaft primitiver Art.“ [23]

 

Ein wichtiger Wortführer jener Männer in der Schweiz, welche die angebliche „Minderwertigkeit“ unangepasster, kranker und arbeitsunfähiger Mitmenschen als „erblich“ definierten und durch „eugenische“ und „rassenhygienische“ Zwangsmassnahmen wie Internierung, Zwangssterilisierung und Kastration einen „Volkskörper“ aus möglichst „Höherwertigen“ und ohne „Minderwertige“ heranzüchten wollten, war der aus der aus der Türkei stammende Grieche Stavros Zurukzoglu (1896-1966), Berner Bürger seit 1932. Der Dozent und Honorarprofessor an der Universität Bern war ein Experte für  Themenkreisen wie „Rassenhygiene“ bzw. „Erbhygiene“, „Entartung“ und „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, wobei er  die Internierung, Sterilisierung und Kastration „erblich Minderwertiger“ befürwortete.

Zurukzoglu verfasste zusammen mit Walter von Gunten im gleichen Bändchen über die Anstalt Bärau aus dem Jahr 1946 den Hauptartikel „Die Ursachen der Armut – Sozialbiologische Untersuchungen an der Verpflegungsanstalt Bärau“. Oberstes Ziel der Untersuchung war „das systematische Studium der Armut, mit dem Zwecke, diese soweit wie möglich zu bekämpfen“, und zwar unter der Maxime: „Erst dann kann die Praxis der Armenfürsorge als richtig angesehen werden, wenn sie die Staatsfinanzen nicht mehr übermässig belastet.“ [24]

Zurukzoglus Ausführungen sind bei weitem nicht der einzige Beleg dafür, wie Sparwille und Steuersenkung immer wieder hoch über einen etwas teureren, aber menschenwürdigen Umgang mit Abhängigen gestellt werden.

Anhand von Statistiken, Fotos von Anstaltsbewohnern sowie einzelnen Fallgeschichten legten Zurukzoglu und von Gunten deren „Sozialbiologie“ dar. Hier einige Auszüge aus diesen Fallgeschichten, die 1946 veröffentlicht wurden:

 

H. G., m., geb. 1897. sechstes Kind von Nr. 1 und Nr. 2, war ein Idiot. Er ist 1942 in der Verpflegungsanstalt B[ärau] nach einem Anstaltsaufenthalt von 16 Jahren gestorben. Die Armenbehörde gab für seinen Unterhalt von 1899 bis 1942 im ganzen Fr. 13'717 aus.“

 

Z. L., w. geb. 1902, verheiratet mit Z.F., Bahnarbeiter von W., vernachlässigte ihren Haushalt und die Kinder. Alle Ermahnungen der Armenbehörde, welche die Frau unterstützte, nützten nichts. Von den sechs Kindern befanden sich 1942 drei an Pflegeplätzen. Die drei andern kamen meist schmutzig, zu spät und verwahrlost in die Schule. (...) Die Schlafstube der Knaben sah aus wie ein Schweinestall. (...) So mussten auch die drei übrigen Kindern in Pflegeplätzen untergebracht werden. Die Frau wurde zur Nacherziehung in die Verpflegungsanstalt B. eingewiesen, wo sie nun seit einem Jahr weilt. Während dieser Zeit wurde sie sterilisiert, um der Gefahr einer neuen Schwängerung vorzubeugen.“

 

Das in vielen Schriften propagierte Rezept Zurukzoglus, die Existenz solcher Menschen vorbeugend mittels „Eugenik“ zu verhindern, schimmert deutlich durch diese Schilderungen hindurch. Kein Wort verliert der Berner Professor jedoch darüber, dass auch damals, 1946, zahlreiche Verdingkinder an so genannte Pflegeplätze kamen, wo sie in etlichen Fällen nicht einmal in einem Zimmer, sondern wirklich in einem Verschlag im Stall hausen mussten und aufs Gröbste misshandelt und ausgebeutet wurden.[25]

 

Meine Bücher sind voll von weiteren Fallgeschichten,[26] aus deren Verlauf und Formulierungen eine krasse Missachtung der Menschenwürde Befürsorgter spricht, wie sie leider vor noch nicht allzu langer Zeit gang und gäbe war, und wie sie in vielen Bereichen, etwa im Asylbereich, auch hier und heute zu beklagen ist.

 

Es stellt sich mir als Historiker, und noch mehr den Praktikern des heutigen Gesundheits- und Fürsorgewesens, die Frage, was denn aus solchen historisch dokumentierten Negativbeispielen zu lernen ist, um die Menschenwürde auch fürsorgeabhängiger oder in Pflege befindlicher Menschen zu sichern. Ich will dazu der Diskussion nicht vorgreifen, sondern nur folgendes sagen: Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass Fürsorgende und Pflegende die Unterstützten und Abhängigen nicht als Minderwertige diskriminieren, sondern dass sie sie als gleichwertige Menschen mit gleichen Rechten respektieren.

Zentral ist auch, dass der oder die Zuständigen sich in die ihnen Zugeteilten, in die bei ihnen Vorsprechenden einfühlen können. Dass sie sich überlegen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie nicht hinter, sondern vor dem Schalter sitzen würden. Wenn sie nicht Arzt, sondern Patient wären. Wenn sie nicht Sozialausgaben zu bewilligen und zu tätigen, sondern zu empfangen hätten. Wenn sie Hilfsgesuche nicht zu befürworten oder abzulehnen, sondern zu stellen hätten. Wenn sie nicht den Strassenbettel eindämmen, sondern selber betteln müssten.

Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.



[1] Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. 208 Seiten. Zürich 2002. Bericht verfasst im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich mit einem Vorwort von Stadträtin Monika Stocker;

Thomas Huonker: Wandlungen einer Institution Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Mitautor: Martin Schuppli. Fotos: Fabian Biasio. Vorwort: Hansruedi Sommer. 196 S., gebunden, illustriert, Zürich 2003;

Thomas Huonker: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Adliswil von 1890 bis 1970, 62 Seiten, Basel 2006;

Thomas Huonker / Peter Niederhäuser: 800 Jahre Kloster Kappel - Abtei, Armenanstalt, Bildungshaus. 224 Seiten, gebunden, Grossformat, mit vielen farbigen und SW-Illustrationen, Zürich 2008

[2] Thomas Platter: Lebensbeschreibung, Basel 1944

[3] Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg, Basel 1945

[4] deutsche Erstausgabe München 1967

[5] deutsche Erstausgabe Frankfurt 1969

[6] Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Bildung als Praxis der Freiheit, Hamburg 1973

[7] Abschlussarbeit der Höheren Fachschule für den Sozialbereich Aargau, Brugg 1998

[8] Dessen Auswertungspublikationen liegen noch nicht vollständig vor.

[9] Die beiden Zitate und das Bibelwort nach Heinrich Bullinger, Stellungnahme zur Armenfürsorge vor Bürgermeister, Räten und Bürgern der Stadt Zürich, 23. März 1558, in: Heinrich Bullinger, Schriften, Bd. 6, Zürich 2006. S. 249-355

 

[10] Staatsarchiv Zürich, Signatur A 112 / 1, Nr. 126

[11] Heinrich Bullinger und Rudolf Gwalther: Niederschrift eines Vorschlags, wie man in der Stadt Zürich und der Landschaft die schamlose Bettelei loswerden und den wahrhaftigen Armen helfen kann, verfasst am 31. August 1572, in: Heinrich Bullinger, Schriften, Bd. 6, Zürich 2006, S. 527-540

 

[12] Zitiert nach Otto Peter, Die Anstalt Kappel 1836 bis 1936, Affoltern a. A. 1936, S. 115

[13] Zitiert nach Peter, Anstalt, S. 141

[14] Zitiert nach Peter, Anstalt, S. 141

[15] Zürich 1937

[16] Buda, Entartungszeichen, S. 6   

[17] Buda, Entartungszeichen, S. 13 f.

[18] Buda, Entartungszeichen, S. 19

[19] Buda, Entartungszeichen, S. 37

 

[20] Buda, Entartungszeichen, S. 43

[21] Staatsarchiv Zürich, Signatur W II 4.5

[22] Fritz Wüthrich: Das Leben in einer bernischen Armenanstalt, in: Untersuchungen in der Verpflegungsanstalt Bärau, Bern 1946, S. 10   

[23] Wüthrich, Leben, S. 11

[24] Stavros Zurukzoglu / Walter von Gunten: Die Ursachen der Armut, Sozialbiologische Untersuchungen in der Verpflegungsanstalt Bärau, in: Untersuchungen in der Verpflegungsanstalt Bärau, Bern 1946, S. 28-88, S. 29

 

[25] Vgl. Fritz Aerni: Wie es ist, Verdingkind zu sein, Ein Bericht, Zürich 200; Lotty Wohlwend, Arthur Honegger: Gestohlene Seelen. Verdingkinder in der Schweiz, Frauenfeld 2004; Vereinigung Verdingkinder suchen ihre Spur: Bericht zur Tagung ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in Glattbrugg bei Zürich, Zürich 2005; Leuenberger, Marco / Seglias, Loretta (Hg.): Versorgt und vergessen – Ehemalige Verdingkinder erzählen, Rotpunktverlag, Zürich 2008

[26] Fallgeschichten zur Lage der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz sind dokumentiert in: Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Jenische Lebensläufe, Zürich 1987; Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische, Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2001