Freitag, 21. November 2008:
Podiumsdiskussion im Kloster Kappel, Kappel am Albis
„Wer definiert die Würde des
abhängigen Menschen?“
Irène Gysel, Kirchenrätin, im Gespräch mit Diakonisse Margrit Muther, Oberin der Diakonissen-Schwesternschaft
Neumünster; Prof. Ralph Kunz, Praktische Theologie Universität Zürich; Robert
Neukomm, Vorsteher Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich; Renate
Hauser-Hudelmayer, Gemeindepfarrerin Hedingen / Spitalpfarrerin Kilchberg
Impulsreferat von Thomas Huonker (Schriftliche Fassung)
Die Menschenwürde ist ein zentraler Wert sowohl der
Religionen wie des menschenrechtlichen Denkens. Die Würde der Lebewesen, die
Ehrfurcht vor dem Leben, wie sie uns Albert Schweitzer, der Hinduismus, der
Jainismus sowie viele animistische Religionen lehren, sollte auch nicht auf die
menschliche Art beschränkt sein, doch dies ist eine Debatte der Ethik, die wir
heute nicht traktandiert haben.
Bleiben wir also bei der Menschenwürde, und zwar bei der
Menschenwürde gerade in Situationen der Not, der Abhängigkeit.
Ich möchte mit einer Szene aus der Theaterwelt beginnen.
Wie liess doch Georg Büchner seinen Woyzeck sprechen, der
als gehetztes Opfer von gnadenlosem Bossing sowie von medizinischen
Experimenten schliesslich selber zum Täter wurde?
Als Woyzeck, der gehetzte Untertan, im Gespräch mit seinem
wohlgenährten, glattrasierten und gutbesoldeten Hauptmann noch einigermassen
bei Verstand war, fasste er seine Situation als armer, abhängiger Kerl so
zusammen:
„Ja, Herr Hauptmann, die Tugend - ich hab's noch nit so aus.
Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur;
aber wenn ich ein Herr wär und hätt' ein' Hut und eine Uhr und eine Anglaise
und könnt' vornehm rede, ich wollt' schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes
sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!“
Mit „Natur“ meinte Woyzeck die Abhängigkeit von
existenziellen Trieben: Hunger, Sexualität. Er beklagte das Fehlen von
Ressourcen, Reserven, Annehmlichkeiten und Komfort, welche das Ausgesetztsein
der menschlichen Existenz gegenüber diesen Naturbedürfnissen in der Situation
der Armut und Abhängigkeit noch verschärfen und allzuoft zu Situationen der
Entwürdigung führen. Selbstverständlich haben auch die Reichen, Unabhängigen,
in vollem Komfort lebenden und mit überdurchschnittlichen materiellen
Ressourcen ausgestatteten Menschen damit noch kein Abonnement auf ein
tugendhaftes und würdiges Leben – aber doch grössere Chancen dazu, ausser aus
einer moralischen Sicht, welche den Reichen diese Chancen prinzipiell
abspricht.
Wie auch immer – es ist nur allzu gut belegt, dass Armut, Not und Abhängigkeit der Entwürdigung, dem Entzug und Verlust der Menschenwürde Tür und Tor öffnen, dass es schwieriger ist, in Extremsituationen seine Würde zu wahren als in gesichertem Komfort. Das zeigt sich beim Zusammenbruch gesicherter Situationen, wenn etwa eine Krankheit, ein Herzstillstand, eine Psychose oder einfach nur die Altersschwäche, Abhängigkeiten entstehen lässt, die viele als entwürdigend empfinden. Nun, heute ist man rasch bei der Hand mit dem Argument: Eben deshalb hat der Mensch ja die Freiheit zum Entscheid, sein Leben zu beenden. Er kann sich, wenn er noch bei Kräften ist, selbst umbringen. Oder er kann sich bei Organisationen wie Exit oder Dignitas melden. Dignitas, dieses schöne lateinische Wort, heute zu unschönen Zwecken eingespannt, heisst ja nichts anderes als Würde. Ich will nicht bestreiten, dass Selbstmord in gewissen Grenzsituationen ein respektabler Abgang sein kann, noch weniger, dass manche sehr tugendhafte, sehr riskante Handlungen, etwa Akte des Widerstands gegen Gewaltherrschaft, auch etwas Selbstmörderisches an sich haben können. Ausgereiften Argumentationen in Handlungsfeldern dieser Art will ich keineswegs widersprechen, sehr wohl aber Argumentationen, welche Alten, Kranken und Abhängigen im Namen einer missverstandenen „Würde“ die zügige Selbstentsorgung empfehlen. Dass Adepten dieser Vereine oft auch noch den Begriff „Euthanasie“ verwenden, verweist auf einen weiteren Pferdefuss solcher zeitgenössischer Abwandlungen ausgerechnet des Begriffs „Würde“. Denn der Begriff „Euthanasie“ wurde bekanntlich gerade auch von jenen Experten eines effizienten Herrenmenschentums verwendet, welche die Entwürdigung von Millionen von Menschen bis zu deren industrieller Vernichtung und Verwertung vorangetrieben haben.
Weniger
bekannt ist, dass auch Schweizer Politiker diese Art der so genannten
„Euthanasie“ propagierten. Im Berner Kantonsparlament wurde an den Sitzungen
vom 12. und 13. September 1923 eine Motion des Berner Stadtarzts und Grossrats der
Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, Vorläuferpartei der gegenwärtigen SVP)
Alfred Hauswirth abgehandelt. Die Motion schlug vor, «unheilbare Geisteskranke
und Idioten» zu töten.
Hauswirth begründete dies so: «Der Idiot, der komplett
schwachsinnige Mensch, der als solcher auf die Welt kommt oder infolge von
Kinderkrankheiten in diesen Zustand verfällt, muss ein möglichst hohes Alter
erreichen, wird aufgepäppelt, vielleicht mit der grössten Kunst, um ihn ja
lange leben zu lassen, statt dass man das genau gleich humane Verfahren
einschlagen würde, das die Spartaner lange vor uns eingeführt haben, nämlich
dass man ihn rechtzeitig beseitigte.»
Dasselbe «humane
Verfahren» der Beseitigung sollte nach dem Vorhaben des Berner Stadtarzts auch
angewendet werden auf den „unheilbar Geisteskranken, der jahrzehntelang in
einer Irrenanstalt vegetiert, seiner Familie und der ganzen Öffentlichkeit zur
Last fällt».
Glücklicherweise
blieb der BGB-Politiker Hauswirth mit seinen Vorhaben in der Minderheit.
Doch das
Kostenargument, das hinter der von Männern wie Hauswirth propagierten
„Euthanasie“ von so genannten „Ballastexistenzen“ stand,
ist immer noch
virulent.
Bis vor kurzem trugen Apologeten des kaltherzigen,
profitorientierten Neoliberalismus lauthals ihre Diskurse von Kosteneffizienz,
ungünstiger demografischer Entwicklung, überproportionaler Kostensteigerung im
Alterspflegebereich, angeblicher finanzieller Schieflage der staatlichen Alters-
und Sozialversicherungssysteme vor. Diese Diskurse verunsicherten viele. Alte,
Kranke, Invalide, Behinderte erhielten bei zunehmender medialer Berieselung
durch solche Diskurse den Eindruck, sozial untragbar, kaum finanzierbar,
überflüssig, kostensteigernd etc. zu sein. Dies ist auch ein Druck, und zwar
ein menschenunwürdiger. Es ist auch dieser Druck, welcher manche dazu trieb,
die eigene Existenz als Problem und Sterbehilfe als dessen moderne Lösung zu
sehen.
Solche Diskurse und Statistiken zum Lob der
Profitmechanismen und zur Streichung von Sozialausgaben, angereichert mit dem
dicksten Selbstlob der angeblich so kosteneffizienten und produktiven
neoliberalen Wort- und Wirtschaftsführer, wurden in den letzten Monaten
allerdings schlagartig von breitesten Kreisen als Makulatur erkannt. Die
aktuelle Finanzkrise hat gezeigt, dass eben diese hochbezahlten CEO’s und der
von ihnen propagierte Casinokapitalismus Riesenverluste verursachen, die
Rücklagen der Pensionskassen schröpfen und die Realwirtschaft schädigen. Dass
die vormaligen Hohepriester des Neoliberalismus nun auch noch Staatsgeld in
einem Ausmass und in einer arroganten Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen
und willfährig ausgehändigt bekommen, wie dies kein Invalidenverband, keine
Altersgruppe, keine Gewerkschaft, kein Staatsbetrieb tun könnte oder tut,
erweist definitiv auch jene neoliberalen Argumentationen als obsolet, welche
Staatsausgaben, insbesondere für soziale Zwecke, für Arme, Abhängige und so
weiter, als überflüssig und unwirtschaftlich bekämpften. Dieser Diskurs wird
noch verfehlter, wenn die neuen Subventionsempfänger aus der Hochfinanz auch
weiterhin, nach dem von ihren Maximen verursachten Finanzcrash, Sparprogramme
gegenüber Armen, Ausgegrenzten, Abhängigen und sozial Schwachen propagieren
wollen.
Es ist zu hoffen, dass die in den letzten Jahren im
öffentlichen Diskurs arg zurückgedrängten Haltungen der Solidarität mit
Schwachen, der Grosszügigkeit beim Investieren in den sozialen Bereich, der
Zielsetzung eines sozialen Ausgleichs, der sozialen und globalen Gerechtigkeit,
in der demokratischen Entscheidfindung wieder jenes Gewicht erhalten, das ihnen
zusteht.
Pflegebedürftige brauchen Pflege. Pflegende helfen solchen,
die von ihrer Hilfe abhängig sind. Wir alle sind zunächst als sozial Schwache
geboren: Der Mensch braucht als Kind Jahre der Pflege. In diesem Sinn waren wir
alle Pflegekinder. Der Begriff Pflegekinder lässt aber anderes anklingen.
Hiessen nicht die Verdingkinder, gnadenlos ausgebeutet und oft sexuell missbraucht,
amtlich Pflegekinder? Und waren diese nicht von vornherein sozial noch weit
schwächer als die Gleichaltrigen, die in der Sicherheit und im Schutz
angesehener und einflussreicher elterlicher Verhältnisse aufwuchsen? Und gibt
es nicht auch heute noch misshandelte Pflegekinder sowie Ausbeutung von
Kinderarbeit?
Allerdings sind auch bei manchem und mancher, die in
Umfeldern liebevollster Pflege und Geborgenheit aufwuchsen, in den
Dunkelkammern fast verdrängter Erinnerungen eigene Situationen von Entwürdigung,
Hilflosigkeit, ausgenutzter Abhängigkeit gespeichert. Die Erinnerung daran kann
entweder verdrängt werden, oder sie kann helfen bei Versuchen, sich in
Ausgegrenzte und Abgedrängte einzufühlen.
Der Begriff Pflege umfasst ein weites Feld. Die Schulpflege, die Kirchenpflege, die Instanzen, die noch bis vor kurzem Armenpflege hiessen – gilt es da nicht auch Fragen der Würde der Abhängigen zu thematisieren? Und tangieren Situationen, in denen die Menschenwürde der Abhängigen missachtet wird, nicht auch die Menschlichkeit der Helfenden, der Pflegenden, der Unabhängigen, der An- und Abweisenden, der Einweisenden?
Ich habe im Auftrag von nunmehr vier Institutionen – dem
Zürcher Sozialdepartement, dem Werk- und Wohnhaus zur Weid, der
Vormundschaftsbehörde Adliswil, dem Kloster Kappel – solche Situationen
historisch untersucht.[1]
Und ich habe das mit einer Sichtweise getan, die vom Kontakt und Austausch
weniger mit den Pflegenden als mit den Gepflegten geprägt ist, die mehr im
Kontakt mit den Ausgegrenzten, Verdingten, Eingewiesenen, Abhängigen und
Ausgewiesenen zu Stande kam als im Austausch mit den behördlichen Instanzen
dieses Bereichs.
Diese Sichtweise konnte ich mir aneignen, weil ich mit
vielen solchen Menschen gesprochen habe. Sie haben mir ihre Lebensgeschichten
anvertraut. Es waren einige darunter, die ihre Lebensgeschichte, weil sie so
voll erniedrigender und entwürdigender Situationen war, vorher noch niemandem,
nicht einmal den eigenen Familienangehörigen, erzählt hatten. Dass ich diese
Geschichten publizierte, hat anderen Mut gemacht, es ebenso zu tun, oder ihre
Geschichten selber aufzuschreiben.
Wie bin ich dazu gekommen? Nicht durch meine
kleinbürgerliche Herkunft als
Lehrerskind, oder höchstens insofern, als ich im Umfeld von Elternhaus und
Schule früh schon eindrückliche Autobiografien armer Leute, wie die von Thomas
Platter [2]
oder von Ulrich Bräker,[3]
zu lesen Gelegenheit erhielt. Ich las, ebenfalls schon als Halbwüchsiger, mit
grossem Interesse Bücher mit Interviews gewöhnlicher Leute, so von Studs
Terkel: „Bericht aus einer amerikanischen Stadt, Chicago“ [4]
oder von Laurence Wylie: „Dorf in der Vaucluse, Der Alltag einer französischen
Gemeinde“.[5]
Dass aber in nächster Nähe, in der heutigen Schweiz,
Menschen leben, die Unerhörtes zu erzählen haben, erlebte ich erstmals als
21jähriger Student, an einer sogenannten Sommerunversität in Genf, 1975
organisiert von einem christlich-sozialistischen Umfeld. Diese
Sommeruniversität befasste sich mit Fragen der Urbanistik, der Sozialarbeit und
des sozialen Lernens, und zwar in Le Lignon.
Le Lignon ist eine riesige Beton-Satellitenstadt, gebaut von
1963 bis 1971, bestehend aus Hochhäusern von 26 und 30 Stockwerken und einem
Wohnblock von über einem Kilometer Länge, mit insgesamt 2780 normierten
Wohnungen, davon 1097 Sozialwohnungen, für rund 6500 Bewohner, mit einem
Minimum an Infrastruktur. Zum Programm der Sommeruniversität gehörte auch ein
Ausflug in eine ähnliche städtebauliche Situation in Grenoble sowie ein Treffen
mit Paulo Freire, dem Verfasser der „Pädagogik der Unterdrückten“;[6]
Paulo Freire wirkte von 1970 bis 1980 als
"Counsellor of the Office of Education" im ökumenischen
Weltkirchenrat in Genf. Wir machten eine Umfrage bei Bewohnern von Le Lignon,
indem wir von Tür zu Tür gingen und diejenigen, die dafür Zeit hatten, über
ihre soziale Situation befragten. Das alles war nicht akademisch, im Hinblick
auf eine Publikation, aufgezogen, sondern eben im Zeichen des sozialen Lernens
und Austauschs. Die Fragebogen waren kein Selbstzweck, sondern Mittel der Kontaktaufnahme,
die Auswertung erfolgte in den Diskussionsrunden mündlich.
Ihm Rahmen dieser Umfrage begegnete ich in einer mit
billigen Möbeln vollgestellten Einzimmerwohnung einer älteren Frau aus der
Innerschweiz. Wir waren froh, uns auf deutsch verständigen zu können, und sie
erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Ich hatte kein Tonband dabei, ich machte
nicht einmal Notizen, den Fragebogen liess ich auch unausgefüllt. Als sie nach
einer oder zwei Stunden ans Ende ihrer Geschichte, zu ihrer gegenwärtigen
Situation, gekommen war, war ich betroffen und berührt. Ich sagte ihr, ich
hätte von ihr in diesen zwei Stunden mehr gelernt als in meinen bisherigen zwei
Jahren Geschichtsstudium an der Universität Zürich von allen Professoren.
Was die Frau in Le Lignon mir erzählt hatte, habe ich im Lauf der Jahre vergessen. Geblieben ist mir nur ihr Name und der Eindruck, den mir ihre Geschichte machte. Und geblieben ist mir die Gewissheit, dass solche Lebensgeschichten, so unwahrscheinlich und ungewohnt sie einem Bewohner anderer Lebenswelten erscheinen mögen, eine klar spürbare Authentizität haben und soziale Wirklichkeiten sehr aussagekräftig, detailreich und lebensecht darstellen. Ich habe in der Folge dafür gesorgt, dass ich in späteren solchen Erzählsituationen ein Tonband dabei hatte, um solche Lebensgeschichten, die mich weiterhin stark beeindruckten, auch für andere zu dokumentieren.
Eines der faszinierendsten Erlebnisse meiner
Archivforschungen war es dann, 31 Jahre später, im Bundesarchiv in Bern, in
einem Bestand mit vielen autobiografischen Briefen und selbstverfassten
Lebensläufen, einen vor nunmehr 23 Jahren erschienen Zeitungsartikel zu finden
mit dem von Heimaufenthalten und Ausbeutung geprägten Lebenslauf eben jener
Frau, die mir damals ihre Geschichte in Le Lignon erzählt hatte. Gut möglich,
dass mein Zuhören und mein Zuspruch in Le Lignon ihr den Mut gegeben haben,
ihre Geschichte später einem Journalisten zur Veröffentlichung anzuvertrauen.
So habe ich, lange nach ihrem Tod und 31 Jahre nach unserem Gespräch, dessen
Inhalt wieder aufgefunden.
Dies zu meiner Prägung im Umfeld von Armenpflege und
Krankenpflege; sie erfolgte nicht an einer Ausbildungsstätte für soziale
Arbeit, für Krankenpflege, für Diakonie oder Psychiatrie, und die Menschen, die
mich so prägten, waren nicht professionelle Helfer und Behördemitglieder,
sondern solche, die ihre Helfer und Pfleger und Vormünder vielfach verfluchten,
allerdings nicht ohne die gewissenhafte Erwähnung positiver Ausnahmen, die es
auch gab.
Bei den erwähnten historischen Arbeiten für die genannten
vier Insitutionen hatte ich auch Zugang zu deren schriftlichen Quellen und
Aktenbeständen. Diese wurden, mit Ausnahme weniger Selbstzeugnisse wie
Lebensläufe, Rekurse oder Protestbriefe, von den Helfenden, Pflegenden, Beaufsichtigenden,
Einweisenden, Bevormundenden, Begutachtenden, Überwachenden, Verhaftenden und
Strafenden verfasst, und zwar vielfach in der Meinung, dass die Betroffenen und
Beschriebenen niemals Einsicht in diese Akten erhalten würden, wofür auch lange
genug gesorgt wurde.
Das Frappante bei der Lektüre dieser Texte in Archiven und
kalten Kellern war der schneidende, oft verachtungsvolle, manchmal auch
hämische und verspottende Ton eines Grossteils dieser Behördentexte. Texte wie
Verfügungen und Anweisungen, die an die Menschen, über welche diese Akten
angelegt wurden, gerichtet waren, sind zwar meist etwas korrekter und
formeller, aber doch in kaltem Amtsdeutsch verfasst und enthalten oft massive
Drohungen, wo sie nicht schon direkte Erlasse zur Durchführung von
Zwangsmassnahmen sind.
Wurden solche Texte von wissenschaftlich Ausgebildeten
verfasst oder in wissenschaftliche Publikationen eingebaut, wurden sie zwar
anonymisiert, manchmal aber noch kälter und verachtungsvoller abgefasst. Gerade
in wissenschaftlichen Umfeldern auffallend ist die Prägung durch Axiome des
damaligen wissenschaftlichen Mainstreams, bis hin zu über Jahrzehnte hinweg
serienweise wiederkehrenden fixen Formeln und starren Stereotypisierungen. Sie
belegen, dass gerade auch Wissenschaft Vorurteile und Diffamierungen tradieren
kann.
Neuere Untersuchungen haben diesen Vorgang der
Stigmatisierung der Armen, Abhängigen, Befürsorgten etc. durch die Aktenführung
jener, welche sich als deren Helfer auffassten, genauer thematisiert, so die
Arbeit von Andrea Tischhauser: „Stigmatisierung durch Akten und Fallführung?“, [7]
oder das Nationalfonds-Forschungsprojekt "Aktenführung und
Stigmatisierung. Institutionelle Ausschlussprozesse am Beispiel der Aktion
‚Kinder der Landstrasse’ 1926–1973" von Sara Galle, Thomas Meier und Roger
Sablonier.[8]
Ich werde ihnen nun einige solcher Formulierungen vorlesen,
welche die Beschriebenen entwürdigten, herabsetzten und in der Folge oft
gravierenden Zwangsmassnahmen wie Vertreibung, Kastration, Sterilisation,
Kindswegnahme, Eheauflösung, Anstaltseinweisung etc. auslieferten. Einige davon
haben einen Bezug zu Institutionen in Kappel, andere zu anderen Insititutionen.
Letzteres, neben inhaltlichen Querbezügen, auch deshalb, weil von der
Armenanstalt und von der Korrektionsanstalt in Kappel, ebenso wie vom Asyl,
also der Krankenabteilung, kaum noch persönliche Aktendossiers vorliegen, wie
ich sie in den anderen erwähnten Institutionen zu Hunderten, ja zu Tausenden
vorfand. Die wenigen aus Kappel vorliegenden Dokumente unterscheiden sich aber
in der Tonart nicht gross von jenen zeitgleicher Institutionen des
Sozialbereichs und des Gesundheitswesens.
Aus dem Umfeld von Kappel sind aber einige sehr frühe Texte
zum Umgang mit Armen überliefert.
So ein Text von Heinrich Bullinger, der, bevor er in Zürich
Nachfolger Zwinglis wurde, auch in Kappel wirkte, aus dem Jahr 1558. Bullinger
sieht in den Armen, welche sich durch Bettel statt durch geordnete Fürsorge
ernähren, eine Gefahr. Er schreibt:
„Diejenigen, die sich der Bettelei hingeben, kommen nie in eine Kirche, beten nicht, fühlen sich keinen Gesetzen unterstellt, fügen sich keiner Ordnung, tun ungestraft, was sie wollen, sind verdorben und verlassen. Man hat von ihnen nichts als Unruhe und Schlimmes zu gewärtigen.“
Als besonders gefährlich empfand Bullinger ein solches Leben, wenn es im Familienverband und generationenübergreifend der Fall war. Er sah in einer solchen Tradierung von Überlebensstrategie eine gefährliche Unordnung und moralische Verworfenheit und formulierte das so: Sie «leiten auch ihre Kinder zum Betteln und damit zu einem ungeordneten Leben an – der Quelle alles Bösen». Diese Ausführungen lässt Bullinger übrigens auf ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium folgen, wo es [in Kapitel 3, Vers 17] heisst: „Wer Geld und irdisches Gut hat und zusieht, wie sein Bruder Not leidet, in dem ist keine Liebe Gottes.“ [9]
Das Klosteramt konnte sich angesichts der
schriftlichen Grundlagen christlicher Ethik also weder der Fürsorge für Bettler
noch derjenigen für nicht einheimische Arme, für Fremde, Durchreisende,
Obdachlose gänzlich entziehen. Es verknüpfte sie aber mit der Pflicht zur
Weiterreise. Im Rahmen einer solche Fürsorge, die gleichzeitig eine Wegweisung
war, kam es auch in Kappel zu entwürdigenden Szenen, so etwa zu folgendem
Drama, überliefert in einem Schreiben des Landvogts von Knonau an den
Bürgermeister von Zürich vom 5. August 1619. Es schildert die Verzweiflungstat
einer obdachlosen Bettlerin: Einer «armen frouw samt driyen Kindern (deren das
eine noch so klein, dass sie es tragen muessen)» habe man die einmalige
Übernachtung gestattet; am nächsten Morgen habe sie sich mit dem Messer den
Hals aufgestochen. Die überlebenden Kinder erzählten, der Vater sei
weggelaufen, und sie kämen aus dem Aargau.[10]
Anschliessend debattierten die zuständigen
Obrigkeiten noch darüber, ob man diese Bettlerin und Selbstmörderin christlich
bestatten dürfe, was schliesslich gestattet wurde, da sie den Selbstmord vor
ihrem Tod noch bereut habe.
Ganz im Sinn dieser Kombination von Almosenamt
und Wegweisungsinstanz hatten die Amtmänner, auch der von Kappel, die
«Betteljagden» mitzuorganisieren,
die periodisch zur Vertreibung eben solcher armer Leute, die unterwegs waren,
darunter auch der so genannten «Zigeuner», durchgeführt wurden.
Dazu schrieben Heinrich Bullinger und Rudolf
Gwalther (ein in Kappel ausgebildeter Pfarrer) in ihrer gemeinsam verfassten
Schrift zur Bekämpfung des Bettels von 1572: «Die Landstreicher aus deutschen,
französischen und italienischen Gegenden muss man […] entweder wieder zurückschicken
oder anweisen, auf den gewöhnlichen Verkehrswegen ohne Umwege durchzuziehen,
nicht zu betteln und nirgends Gaben zu verlangen […] Arbeitsfähige unter ihnen
[…] soll man […] gefangen nehmen, sie durchsuchen, wie es der eidenössische
Erlass erlaubt […]. Denn da sie einen neuen Stand und Beruf hervorgebracht
haben und auch sonst in jeder Hinsicht den Zigeunern gleich sind, kann man mit
ihnen wie mit diesen verfahren.»[11]
Die stets
wiederkehrenden Debatten über Bettelverbote und Wegweisungen von so genannten
„Zigeunern“ in der Schweiz habe ich in anderen Publikationen über die
Jahrhunderte hinweg dokumentiert, und wie Sie wissen, werden solche Debatten
auch heute noch geführt, wobei den Roma auch heute noch allzuoft nicht die gleiche
Menschenwürde und das gleiche Menschenrecht zugesprochen wird wie andern, die
ebenso auf finanzielle Unterstützung durch Staatsgelder oder andere
Fördermittel angewiesen sind.
Nun einige Zitate zur
Anstaltszeit aus dem 19. und 20. Jahrhundert, ebenfalls mit Bezug auf Kappel:
Am 26. April 1858 schrieb die
Aufsichtskommission der Bezirksarmenanstalt Kappel an die kantonale
Armendirektion, «es gebe eine Klasse von Armen, deren Charaktereigenschaften
ihnen den Zugang in jede Familie verschliesse: Vagabunden mit ihrer unausrottbaren
Arbeitsscheu und freche, zu keinem freundlichen Verhalten fähige Menschen.
Solche Typen könnten nur in einer Anstalt zweckmässig untergebracht werden».[12]
Einige Jahrzehnte später formulierten die
Verantwortlichen:
«Unter den Versorgten, namentlich in der
Anstalt, gab es zudem auffallend viele, die geistig minderwertig waren. 1880
waren z. B. nach dem Urteil des Anstaltsarztes Dr. Kämmer 4 geistesschwach, 8
blödsinnig, 2 verrückt, 2 periodisch verrückt, 1 periodisch geisteskrank, 2
epileptisch.»[13]
Und weiter:
«Wohl gab es immer wieder Insassen, die
dankbar waren für alles, was man ihnen bot; die meisten jedoch besassen eine
unausrottbare Kritiksucht, die überall etwas zu nörgeln fand. Am
unerträglichsten waren die im Armenhaus untergebrachten Frauen der
Korrektionsabteilung. Ursache ihrer Versorgung waren fast immer Prostitution,
Trunksucht oder Arbeitsscheu.»[14]
Es gab auch Stimmen, welche von mehr Sensibilität und
Einfühlung für die Anstaltsbewohner zeugten, selbst für die von Amtes wegen als
„liederlich“ und „arbeitsscheu“ bezeichneten Korrektionshäftlinge. Ein anonymer
Korrespondent unterzog in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juli 1911 den
aktuellen Betrieb der Korrektionsanstalten scharfer Kritik. Insbesondere
vermisste er deren „bessernde“ Wirkung.
Er schrieb:
„Zeit für die Seele dieser Korrektionsbedürftigen bleibt
selbst in einer staatlichen Anstalt keine. Überall schaut der Geschäftsmensch
heraus, der bezahlte Mietling. Opfer und Herz sucht ihr umsonst. Eintönig, frostig,
kalt, wie das gelblich schmutzige Korrektionsgewand, ist der Lauf des Tages.
(...) Und der Detinierte? Glauben Sie etwa, er fühle das alles nicht? Besser
und tiefer als wir. Für ihn ist ein Tag, was der andere – wenn er nur herum
ist! Sie wissen wohl und sagen es auch mit finsterem Trotz, dass diese
Korrektion ihnen nicht auf die Beine hilft, dass sie elender dran sind nach
ihrer Detentionszeit als vorher.“ Und weiter: „Heute treibt in unsern
Korrektionsanstalten, dank dem geltenden System, dem ungenügenden und zum Teil
minderwertigen Personal, ein krasser Arbeitsschlendrian volle Blüten. (...) Den
durch den ökonomischen Haushalt schwer belasteten Verwaltungen ist es absolut
unmöglich, für die Korrektion der Insassen etwas Erspriessliches zu leisten. Dadurch
verwildert die Grosszahl der Detinierten gänzlich, statt gehoben zu werden.
Sagte mir doch erst kürzlich ein solcher: Wenn ich hinauskomme, muss ich erst
wieder lernen mit den Leuten umzugehen.’“
Ernst Hanhart war
ein bekannter Exponent der schweizerischen Rassenhygiene. Er war Dozent an der
Universität Zürich und Mitarbeiter bei gesundheitspolitischen
Grosspublikationen des Nazireichs. Einer seiner Schüler war G. Edward Buda, der
unter der Anleitung Hanharts im Jahr 1937 folgende Dissertation verfasste:
„Über das Vorhandensein bzw. Fehlen von sog. Entartungszeichen bei 72
Verwahrungs-gefangenen (Haltlosen Psychopathen, Debilen und Psychotikern)“.[15]
Buda war sich des begrifflichen Umfelds seiner
„Entartungsforschung“ durchaus bewusst und schrieb: „Die unbestreitbare
Problematik des leider vielerorts zum Schlagwort gewordenen Begriffs
„Entartung“ darf uns nicht davon abhalten, die im Vergleich zur Exterieurkunde
der Tierärzte und Züchter noch stark vernachlässigte Somatologie des Menschen
im Allgemeinen und vor allem der konstitutionell minderwertigen [...]
Individuen besser auszubauen.“ [16]
Dieser Forscher durfte „dank dem freundlichen und
verständnisvollen Entgegenkommen der Hohen Regierung des Kantons Zürich sowie
der Direktion der Kantonalen Strafanstalt Regensdorf“, wie er es formulierte,
57 männliche Verwahrungsgefangene in Regensdorf einer „Inspektion“ unterziehen,
wobei auch „die bekleideten Körperteile kurz berücksichtigt werden“ konnten. Er
untersuchte auch weibliche Verwahrte und bemerkte dazu: „Bei den 15 weiblichen
verwahrten Insassen verbot sich leider jegliche Entkleidung aus Rücksicht auf
den Strafvollzug und die Möglichkeit falscher Auslegung unserer
wissenschaftlichen Absichten.“ [17]
Dass ein solches Untersuchungsverfahren auch entwürdigend
sein könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Dem entspricht auch Budas Wortwahl. Buda schildert einen der
von ihm Untersuchten wie folgt:
„S. F., geb. 17. 1. 1890, Handlanger aus der Zürcher
Landschaft. Ledig. Erbliche Belastung: Nicht erwiesen. Vorleben: Immer wieder
rückfälliger, verwahrloster Trinker, der aus den offenen Anstalten U[itikon] a. A,
Ue[tikon] a.S., R[inglikon] und K[appel] a.A. wiederholt entwich und deshalb in
R[egensdorf] verwahrt werden musste. 3 Vorstrafen. Psychiatrische Diagnose (Heilanstalt
B[urghölzli]): Psychopathische Haltlosigkeit mit Alkoholismus und
Verstimmungen, ohne Selbst- und Gemeingefährlichkeit. Körperlicher Befund (8.
11. 34): Habitus pyknisch-athletisch. Konfluierende Augenbauen (Synophris).
Trinkerphysiognomie, starker Händetremor. Nebenbefund Tätowage.“ [18]
Über einen anderen zeitweise auch in Kappel internierten so
genannten „Liederlichen“ schrieb Buda:
„Sp. R.,
geb. 6.8.1886, Handlanger aus der Zürcher Landschaft. Militärfrei wegen
Plattfüssen. Ledig. Erbliche Belastung: Mutter schwere Trinkerin. Ein Bruder
des Expl. ebenfalls Trinker. Vorleben: Zeichnete sich schon als Jüngling durch
Roheit und Liederlichkeit aus, sodass er mit 19 Jahren in die Erziehungsanstalt
R[inglikon] versorgt werden musste. Konnte es nirgends lange aushalten,
wechselte Beruf und Stellungen ausserordentlich häufig, trieb sich als Vagabund
herum und kam schon sehr früh ins Trinken hinein. Bietet jetzt geistig und
körperlich das Bild eines heruntergekommenen Trinkers. Wurde mit 42 Jahren zuerst
in der Anstalt K[appel] a. A., dann im Männerheim R[ossau] untergebracht, wo er
aber immer wieder entwich, sodass er in die geschlossene Verwahrungsanstalt
R[egensdorf] eingewiesen werden musste. Kann unter Aufsicht ein guter Arbeiter
sein, wenn er will. 7 Vorstrafen, meist wegen Diebstahls. Psychiatrische
Diagnose: Angeborener Schwachsinn leichteren Grades bei chronischem
Alkoholismus mit Neigung zu explosiven Reaktionen im Trunk. Da völlige
Einsichtslosigkeit – schlechte Prognose. Körperlicher Befund (8.11.34): Habitus
leptosom-asthenisch. Stärker dysplastische Schädel- und Gesichtsbildung. Sehr
plumpe Ohrmuscheln, angeborene Startrübung am rechten Auge, das blind ist und
infolgedessen nach aussen schielt (Strabismus divergens). Äusserst plumpe
Hände, besonders die Daumen. Beidseits Unterschenkelvarizen, namentlich rechts.
Epikrise: 45jähriger, intellektuell debiler Alkoholiker und Vagant mit
kriminellen Neigungen und ausgesprochener körperlicher Stigmatisierung.“ [19]
Eine Frau beschrieb Buda mit diesen Worten:
„G.A., 48jährig, geschiedene Kellnerin. 4 Kinder,
wovon ihr zuerst 2 durch das Scheidungsurteil zugesprochen wurden. Nach 5
Jahren verlor sie wegen ihrer gewerbsmässigen Unzucht die elterliche Gewalt
auch über diese beiden Kinder. Mit 47 Jahren bevormundet. Erbliche Belastung:
Nicht erwiesen. Vorleben: Zog sich durch ihre Lebensweise 1 Jahr nach der
Scheidung eine syphilitische Infektion zu und wurde 3 Monate lang in der
Dermatologischen Klinik interniert. Vermochte sich dann eine Zeit lang mehr oder
weniger einwandfrei durchzubringen, musste in den folgenden Jahren aber nach
mehrmaliger Verwarnung wegen Gewerbsunzucht polizeilich mit Haft bestraft
werden. Wurde dann 2 Jahre in der Korrektionsanstalt Kappel a. A. versorgt,
jedoch ohne Erfolg. Kam ins Trinken hinein und konnte sich wegen ihrer
Liederlichkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit und Frechheit nirgends mehr halten.
Wurde dann eine Zeit lang in der Korrektionsanstalt L[ittenheid] (Kt. St.
G[allen]) versorgt, beging aber nach ihrem Austritt ein Betrugs- und
Diebstahlsdelikt, so dass sie zur Strafe von 3 Wochen Gefängnis verurteilt
werden musste. Soziale Diagnose: Raubdirne und notorische Trinkerin, früher
syphilitisch. Körperlicher Befund (8. 11. 34): Physiognomie unauffällig, ebenso
der Körperbau, soweit das die Kleidung erkennen lässt. Merkwürdig sind einzig
die überschlanken Finger. Epikrise: Psychopathisch haltlose Dirne und Trinkerin
von einstweilen leichterer Kriminalität. Körperlich: Forme fruste von
Arachnodaktylie.“ [20]
Galten Buda bei
Sp. R. die „plumpen“ Daumen als „Entartungszeichen“, waren es bei G.A. „die
überschlanken Finger“.
Abwertende und entwürdigenden
Äusserungen finden sich aber auch über Menschen, die schlicht Verfolgte, und
zwar Verfolgte des Nazi-Regimes waren. Im Protokoll der
Kappelerpflege vom 19. November 1942 heisst es: Pfarrer Stuckert beantragte «für zwei oder mehrere alte
Flüchtlinge Freiplätze bereit zu halten bis zum Ende des Krieges. Der Antrag
erfolgt auf eine Aufforderung von Seiten der Flüchtlingshilfe, unterstützt vom
Kirchenrat unseres Kantons. […] Herr Präsident Weidmann weist darauf hin, dass
die Schweiz für die Flüchtlinge sorgen müsse, wie sie es schon in früheren
Zeiten getan habe. Er erinnerte an die vertriebenen Locarner, die Hugenotten,
die Flüchtlinge der Jahre 1847/1848. Jetzt [jedoch] handelt es sich um andere
Flüchtlinge, um Leute, die uns kulturfremd sind und die sich nur schwer
anpassen können. […] Es ist fraglich, ob sie sich reibungslos in den
reibungslos in den Betrieb der Anstalt einfügen würden und ob sie nicht Ursache
zu Unruhen und zu Unzufriedenheit wären. […] In der Diskussion wird hervorgehoben,
dass die Anstalt Eigentum der Kirchgemeinden des Bezirks sei. Diese sind
aufgerufen, für die Flüchtlinge etwas zu tun. Dies sei nicht nur ein Gebot der
Menschlichkeit, sondern Christenpflicht.» Anstaltsverwalter Bögli entgegnete,
dass er «unter keinen Umständen sich mit der Gewährung von Freiplätzen oder
der Aufnahme von Flüchtlingen einverstanden erklären könne. Mit den drei bis
jetzt vom Bund eingewiesenen Frauen habe man die schlechtesten Erfahrungen
gemacht. Sie wirkten als fremde Elemente störend auf den Betrieb und die
Disziplin. Eine Aufnahme von Flüchtlingen wäre für die Verwaltung eine
untragbare Belastung und für die Anstalt ein gefährliches Experiment.» [21]
Es fanden deshalb nur einige wenige
Flüchtlinge in Kappel Asyl. Eine der vom Verwalter als «störende fremde
Elemente» Bezeichneten war Else M., konfessionslos, Fürsorgerin aus Berlin,
Jahrgang 1899, geschieden. Sie lebte vom 15. März 1940 bis zum 28. August 1941
sowie vom 5. März 1942 bis zum 11. Mai 1942 in Kappel.
Auch nach 1945 wurde betreffend Behandlung und
Schilderung der Insassen von Armenanstalten kein grosser Wert auf deren
Menschenwürde gelegt.
Folgende Bezeichnungen verwendet in einer Publikation aus
dem Jahr 1946 der Leiter der Berner Armenanstalt Bärau, Fritz Wüthrich, für die
damaligen Bewohner seiner Institution: „Wer wird nun also versorgt? Es sind
Alte und Gebrechliche, es sind Unfähige, es sind körperlich und geistig Behinderte,
Taubstumme, Schwachsinnige, Idioten, Kretinen, Unreinliche, Ungeordnete,
Bösartige, die Streit und Händel suchen, Unbotmässige, Undisziplinierte,
unheilbare Alkoholiker, notorische Faulenzer, Vagabunden, Charakterdefekte“. [22]
Wüthrich verglich die Insassen der von ihm geleiteten
Armenanstalt mit Tieren: „Das Essen ist Inhalt ihres Daseins und geht über
alles. Dass es unter den Pfleglingen ausgesprochene Vielesser gibt, weiss
jeder, der irgendwie fürsorgerisch tätig ist. Es sind namentlich die jungen
Schwachsinnigen und Taubstummen, die das Doppelte und oft mehrfache einer
Normalration zu sich nehmen. Wenn man ihr Essen näher studiert, macht man die
fatale Feststellung, dass sie vielfach nicht kauen, sondern das Essen
hinunterschlingen in tierhaft primitiver Art.“ [23]
Ein wichtiger
Wortführer jener Männer in der Schweiz, welche die angebliche
„Minderwertigkeit“ unangepasster, kranker und arbeitsunfähiger Mitmenschen als
„erblich“ definierten und durch „eugenische“ und „rassenhygienische“
Zwangsmassnahmen wie Internierung, Zwangssterilisierung und Kastration einen
„Volkskörper“ aus möglichst „Höherwertigen“ und ohne „Minderwertige“
heranzüchten wollten, war der aus der aus der Türkei stammende Grieche Stavros
Zurukzoglu (1896-1966), Berner Bürger seit 1932. Der Dozent und
Honorarprofessor an der Universität Bern war ein Experte für Themenkreisen wie „Rassenhygiene“ bzw.
„Erbhygiene“, „Entartung“ und „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, wobei er die Internierung, Sterilisierung und
Kastration „erblich Minderwertiger“ befürwortete.
Zurukzoglu verfasste zusammen mit Walter von Gunten im
gleichen Bändchen über die Anstalt Bärau aus dem Jahr 1946 den Hauptartikel
„Die Ursachen der Armut – Sozialbiologische Untersuchungen an der
Verpflegungsanstalt Bärau“. Oberstes Ziel der Untersuchung war „das
systematische Studium der Armut, mit dem Zwecke, diese soweit wie möglich zu
bekämpfen“, und zwar unter der Maxime: „Erst dann kann die Praxis der
Armenfürsorge als richtig angesehen werden, wenn sie die Staatsfinanzen nicht
mehr übermässig belastet.“ [24]
Zurukzoglus
Ausführungen sind bei weitem nicht der einzige Beleg dafür, wie Sparwille und
Steuersenkung immer wieder hoch über einen etwas teureren, aber
menschenwürdigen Umgang mit Abhängigen gestellt werden.
Anhand von
Statistiken, Fotos von Anstaltsbewohnern sowie einzelnen Fallgeschichten legten
Zurukzoglu und von Gunten deren „Sozialbiologie“ dar. Hier einige Auszüge aus
diesen Fallgeschichten, die 1946 veröffentlicht wurden:
„H. G., m., geb. 1897. sechstes Kind von Nr. 1 und Nr.
2, war ein Idiot. Er ist 1942 in der Verpflegungsanstalt B[ärau] nach einem
Anstaltsaufenthalt von 16 Jahren gestorben. Die Armenbehörde gab für seinen
Unterhalt von 1899 bis 1942 im ganzen Fr. 13'717 aus.“
„Z. L., w. geb. 1902, verheiratet mit Z.F.,
Bahnarbeiter von W., vernachlässigte ihren Haushalt und die Kinder. Alle
Ermahnungen der Armenbehörde, welche die Frau unterstützte, nützten nichts. Von
den sechs Kindern befanden sich 1942 drei an Pflegeplätzen. Die drei andern
kamen meist schmutzig, zu spät und verwahrlost in die Schule. (...) Die
Schlafstube der Knaben sah aus wie ein Schweinestall. (...) So mussten auch die
drei übrigen Kindern in Pflegeplätzen untergebracht werden. Die Frau wurde zur
Nacherziehung in die Verpflegungsanstalt B. eingewiesen, wo sie nun seit einem
Jahr weilt. Während dieser Zeit wurde sie sterilisiert, um der Gefahr einer
neuen Schwängerung vorzubeugen.“
Das in vielen Schriften propagierte Rezept Zurukzoglus, die
Existenz solcher Menschen vorbeugend mittels „Eugenik“ zu verhindern, schimmert
deutlich durch diese Schilderungen hindurch. Kein Wort verliert der Berner
Professor jedoch darüber, dass auch damals, 1946, zahlreiche Verdingkinder an
so genannte Pflegeplätze kamen, wo sie in etlichen Fällen nicht einmal in einem
Zimmer, sondern wirklich in einem Verschlag im Stall hausen mussten und aufs
Gröbste misshandelt und ausgebeutet wurden.[25]
Meine Bücher sind voll von weiteren Fallgeschichten,[26]
aus deren Verlauf und Formulierungen eine krasse Missachtung der Menschenwürde
Befürsorgter spricht, wie sie leider vor noch nicht allzu langer Zeit gang und
gäbe war, und wie sie in vielen Bereichen, etwa im Asylbereich, auch hier und
heute zu beklagen ist.
Es stellt sich mir als Historiker, und noch mehr den
Praktikern des heutigen Gesundheits- und Fürsorgewesens, die Frage, was denn
aus solchen historisch dokumentierten Negativbeispielen zu lernen ist, um die
Menschenwürde auch fürsorgeabhängiger oder in Pflege befindlicher Menschen zu
sichern. Ich will dazu der Diskussion nicht vorgreifen, sondern nur folgendes
sagen: Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass Fürsorgende und Pflegende die
Unterstützten und Abhängigen nicht als Minderwertige diskriminieren, sondern
dass sie sie als gleichwertige Menschen mit gleichen Rechten respektieren.
Zentral ist auch, dass der oder die Zuständigen sich in die
ihnen Zugeteilten, in die bei ihnen Vorsprechenden einfühlen können. Dass sie
sich überlegen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie nicht hinter, sondern vor
dem Schalter sitzen würden. Wenn sie nicht Arzt, sondern Patient wären. Wenn
sie nicht Sozialausgaben zu bewilligen und zu tätigen, sondern zu empfangen
hätten. Wenn sie Hilfsgesuche nicht zu befürworten oder abzulehnen, sondern zu
stellen hätten. Wenn sie nicht den Strassenbettel eindämmen, sondern selber
betteln müssten.
Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
[1] Thomas
Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen,
Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie
in Zürich zwischen 1890 und 1970. 208 Seiten. Zürich 2002. Bericht verfasst im
Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich mit einem Vorwort von
Stadträtin Monika Stocker;
Thomas Huonker: Wandlungen einer Institution Vom Männerheim
zum Werk- und Wohnhaus. Mitautor: Martin Schuppli. Fotos: Fabian Biasio. Vorwort: Hansruedi Sommer. 196 S., gebunden,
illustriert, Zürich 2003;
Thomas Huonker: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Adliswil
von 1890 bis 1970, 62 Seiten, Basel 2006;
Thomas Huonker / Peter Niederhäuser: 800 Jahre Kloster
Kappel - Abtei, Armenanstalt, Bildungshaus. 224 Seiten, gebunden, Grossformat,
mit vielen farbigen und SW-Illustrationen, Zürich 2008
[2] Thomas
Platter: Lebensbeschreibung, Basel 1944
[3] Ulrich
Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im
Tockenburg, Basel 1945
[4] deutsche
Erstausgabe München 1967
[5] deutsche Erstausgabe Frankfurt 1969
[6] Paulo
Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Bildung als Praxis der Freiheit, Hamburg
1973
[7] Abschlussarbeit
der Höheren Fachschule für den Sozialbereich Aargau, Brugg 1998
[8] Dessen
Auswertungspublikationen liegen noch nicht vollständig vor.
[9] Die beiden Zitate und das Bibelwort nach Heinrich Bullinger, Stellungnahme zur Armenfürsorge vor Bürgermeister, Räten und Bürgern der Stadt Zürich, 23. März 1558, in: Heinrich Bullinger, Schriften, Bd. 6, Zürich 2006. S. 249-355
[10] Staatsarchiv Zürich, Signatur A 112 / 1, Nr. 126
[11] Heinrich
Bullinger und Rudolf Gwalther: Niederschrift eines Vorschlags, wie man in der
Stadt Zürich und der Landschaft die schamlose Bettelei loswerden und den
wahrhaftigen Armen helfen kann, verfasst am 31. August 1572, in: Heinrich
Bullinger, Schriften, Bd. 6, Zürich 2006, S. 527-540
[12] Zitiert nach Otto Peter, Die Anstalt Kappel 1836 bis 1936, Affoltern a.
A. 1936, S. 115
[13] Zitiert nach Peter, Anstalt, S. 141
[14] Zitiert nach Peter, Anstalt, S. 141
[15] Zürich
1937
[16] Buda,
Entartungszeichen, S. 6
[17] Buda, Entartungszeichen, S. 13 f.
[18] Buda,
Entartungszeichen, S. 19
[19] Buda, Entartungszeichen, S. 37
[20] Buda,
Entartungszeichen, S. 43
[21] Staatsarchiv Zürich, Signatur W II 4.5
[22] Fritz Wüthrich: Das Leben in einer bernischen Armenanstalt, in: Untersuchungen
in der Verpflegungsanstalt Bärau, Bern 1946, S. 10
[23] Wüthrich, Leben, S. 11
[24] Stavros
Zurukzoglu / Walter von Gunten: Die Ursachen der Armut, Sozialbiologische
Untersuchungen in der Verpflegungsanstalt Bärau, in: Untersuchungen in der
Verpflegungsanstalt Bärau, Bern 1946, S. 28-88, S. 29
[25] Vgl. Fritz
Aerni: Wie es ist, Verdingkind zu sein, Ein Bericht, Zürich 200; Lotty
Wohlwend, Arthur Honegger: Gestohlene Seelen. Verdingkinder in der Schweiz,
Frauenfeld 2004; Vereinigung Verdingkinder suchen ihre Spur: Bericht zur Tagung
ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in
Glattbrugg bei Zürich, Zürich 2005; Leuenberger, Marco / Seglias, Loretta
(Hg.): Versorgt und vergessen – Ehemalige Verdingkinder erzählen,
Rotpunktverlag, Zürich 2008
[26] Fallgeschichten zur Lage der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz sind dokumentiert in: Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Jenische Lebensläufe, Zürich 1987; Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische, Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2001