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Rede über das Buch von

Patrick Klötzli: Möglichkeiten eines Nesträubers. 57 Amselportraits. Zürich 2007

gehalten von Thomas Huonker an der Buchvernissage im Atelier Vulkanstrasse 114, 8048 Zürich am 30. November 2007


Liebe Anwesende,


es ist mir eine Freude, aus Anlass der Vernissage des Amselbuchs von Patrick Klötzli eine kurze Rede zu halten. Das Buch ist die zweite Publikation dieses Zürcher Kleinverlags. Die erste war eine schmale, aber inhaltlich schwer wiegende Dokumentation des Treffens von rund 220 ehemaligen Verding- und Heimkindern am 28. November 2004, an welchem dieser dunkle Aspekt der schweizerischen Geschichte thematisiert wurde. Auch bei den Fremdplatzierungen dieser Menschenkinder waren Nesträuber am Werk. Einige Exemplare dieses Büchleins liegen heute ebenfalls auf.

Patrick Klötzlis Buch „Möglichkeiten eines Nesträubers“ ist kein Geschichtsbuch, sondern ein Bilderbuch. Aber auch es erzählt Geschichten. Es ist eine Art Umkehrung jener Kurztexte oder Kurzgeschichten von Robert Musil, die er unter den Obertitel „Bilder“ stellte. Darunter sind so bekannte Texte wie derjenige über das Sterben von Fliegen („Fliegenpapier“) oder über das Schicksal von Angelwürmern („Fischer an der Ostsee“). Oder jener anschauliche Text über Hierarchien, den Musil „Die Affeninsel“ nannte. Wer diese Texte je gelesen hat, wird sich bildhaft an sie erinnern können.

Dass Patrick Klötzli seine Serie von Amselportraits mit Francisco Goyas Capricho Nr. 43 einleitet, zeugt davon, dass er an seine Arbeiten hohe Ansprüche stellt. Patrick Klötzli ist ein Perfektionist des Phantastischen. Goyas Capricho Nr. 43 illustriert den Satz: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Man kann sich nun fragen: Schlief die Vernunft, als Klötzlis kleine Amselmonster geboren wurden? Ich denke wohl, dass im Schaffensprozess dieser Serie das Unbewusste eine grosse Rolle spielte. Doch ist sie auch sehr konsequent konzipiert. So konsequent, dass sie ohne Worte auskommt. Dass es aber gerade Amseln sind, dass die Thematik des Nests, des Eis, des Vogels den Künstler umtreibt, und in welche Dimensionen und Metamorphosen der nette schwarze Gartenvogel durch die Farbstift-Finessen seines Transformators transponiert wird – da schwingt ohne Zweifel Unbewusstes mit.

Die Serie ist deshalb mehr als eine Stilübung. Sie löst einen existentiellen Schauer aus.

Wenn eine Amsel auch ein Wurm sein kann, wenn Godzilla plötzlich Federn hat, wenn ein Singvogel Katzenaugen bekommt, und wenn ein auf Papier gezeichnetes Lebewesen schliesslich doch nur das Abbild von gefaltetem Papier ist – dann ist eigentlich alles möglich.

Weil die 57 Amselportraits zwar bewusste Gestaltungen sind, die jedoch Impulse aus unbewussten Tiefen aufnehmen und einarbeiten, will sich auch der Künstler selbst nicht im Detail zu Sinn und Bedeutung seiner Amsel-Variationen äussern. Ebensowenig können die Betrachtenden die 57 Portraits schlüssig deuten. Und selbst wenn jemand zu einer solchen abschliessenden Deutung aller möglichen Amseln gelangen würde, dürfte es schwer halten, diese Deutungen auch für andere Betrachtende geltend zu machen. Für jeden und jede haben diese seltsamen Mischwesen wieder eine je andre Bedeutung. Bei aller Präzision der Darstellung öffnen sie Räume der Interpretation, die sich letztlich der Interpretation verweigern.

Es sei auch noch eine Koninzidenz erwähnt, die wohl rein zufällig ist. In den letzten Jahren wurden die europäischen Amseln, gerade in diesem Sommer 2007 insbesondere auch die Amseln in der Schweiz, von schweren Leiden und Verlusten durch das via Wien aus Afrika eingeschleppte Usutu-Virus heimgesucht. Die Amselpopulationen schrumpften stark. Es kam zu einem grossen Amselsterben. Die Amseln scheinen sich aber jetzt wieder zu vermehren.

Sicher könnten wir auch ohne Amseln überleben. Aber ein nutzloser Vogel, der so hinreissend schön singt, das ist ein Teil der Lebenswelt unseres Planeten, den man nicht missen möchte. Es gibt Menschen – ich zähle mich zu ihnen – welche den Gesang der Amseln dem Operngesang vorziehen.

Die Amsel ist kein Nutzvogel. Deshalb unterliegt sie auch keinen Züchtungen, und sie ist, von einigen Ausnahmen mit einer oder zwei weissen Federn, über lange Zeiträume hinweg in ihrem eleganten dunkeln Federkleid unverändert geblieben. Man möchte fast sagen: Die Amseln blieben sich selber, bis Patrick Klötzlis Serie von abgeänderten Amseltypen entstand. Anderen Vögeln, nützlicheren Vögeln, ging es anders. Ich denke etwa an das Huhn. Seine Urform ist das aus Indonesien stammende Bankiva-Huhn, dessen Aussehen im Typus des rebhuhnfarbigen Italieners (das ist eine Hühnerrasse) ziemlich unverändert blieb. Daneben gibt es aber bekanntlich die mannigfaltigsten Hühnerrassen, die von Liebhabern des Absurden und Speziellen aus der Urform herausgezüchtet wurden. Es gibt Kampfhühner, Zwerghühner, Fleischhühner. Es gibt, als eine der neueren Züchtungen, auch Nackthühner, die ungerupft zu Poulets verarbeitet werden können. Die Amselserie hat diesen Prozess der Veränderung, dem die Hühner, im Gegensatz zu den Amseln, biologisch unterzogen wurden, gewissermassen parallelisiert. Dass Klötzlis neue Amselformen nur auf dem Papier entstanden, ist sicher besser für die Amseln.

Ich kenne nur wenige andere Werke von Patrick Klötzli, weiss aber, dass er auch Gärtner und Familienvater ist. Nest und Nestraub, die Dimensionen von Geborgenheit versus Verletzlichkeit und Aussetzung sind Themen, die er auch in anderen Medien als der surrealistischen Zeichnung bearbeitet, seien es Werke der Land-Art, Techniken der Fotografie oder Formen filigraner Papierbearbeitung, die über das Zeichnen hinaus gehen.

Ich denke, wir dürfen aus den Mikro- und Makrokosmen, in denen Patrick Klötzli seine künstlerischen Spiele mit grosser Präzision betreibt, noch viele weitere Gewächse, Geschöpfe und Gebilde erwarten, die uns faszinieren werden.


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