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Schriftliche Fassung des Referats von Thomas Huonker

an der Tagung des NFP 51 vom 22. Februar 2005 in Murten im Rahmen des Workshops "Stigma, Identität, Differenz"

(Wegen einer Halsreizung des Autors konnte das Referat nicht verlesen werden, sondern musste schriftlich an die Workshop-Teilnehmer verteilt werden.)

 

Bemerkungen zu Identität und Differenz, Wahnsinn und Methode, Herrschaft und Diskurs

 

Zum Stand unseres Projekts verweise ich auf die Angaben im Tagungsmaterial. Sie können in der Diskussion gerne konkrete Fragen dazu stellen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich jedoch etwas weiter ausholen.

Ich bin als meine Aktivitäten bei Gelegenheit philosophisch reflektierender Historiker und als ab und zu politisch Intervenierender von der Lektüre meiner jungen Jahre geprägt. Als einer der jüngsten 1968er – ich klebte in diesem heissen Sommer als 14jähriger meine ersten politischen Plakate an die Wände und verfasste meine ersten Wandzeitungen – las ich die damals angesagten Schriften im Vergleich zu anderen Aktivisten recht gründlich, und zwar in einem anregenden und widersprüchlichen Mix. Diese zeitaufwendige, aber lohnende Lektüre, mit der ich nach meiner Mittelschulzeit auch die damalige Pflichtlektüre des akademischen Bereichs meiner Studienzeit in Genf und Zürich ergänzte, reichte von Georg Friedrich Wilhelm Hegel bis zu Hans Georg Gadamer und Ludwig Wittgenstein, von den Werken von Karl Marx, Friedrich Engels und Mao Tse-tung bis zur Metakritik der Erkenntnistheorie von Theodor W. Adorno, von Lenin bis Leo Kofler, von Sigmund Freud bis zu Max Horkheimer und Herbert Marcuse, von Ernst Bloch und Vittorio Lanternari bis zu Jürgen Habermas, von Antonio Gramsci bis zu Eric Hobsbawm, von Karl Mannheim zu Peter Berger und Thomas Luckmann, von Eduard Fuchs bis zu Walter Benjamin und Norbert Elias, von Jean-Paul Sartre zu Michel Foucault und Claude Lévy-Strauss, von Frantz Fanon bis zu Georges Devereux –  und bis zum Situationisten Guy Debord, dessen eindrücklichen Adlaten Gianfranco Sanguinetti ich 1971 in Florenz im Alter von 17 Jahren persönlich kennen zu lernen die Ehre hatte, als ich dort in den Sommerferien auch italienische Sprache, Kunst und Küche studierte. 

 

In vielen meiner Publikationen finden sich kaum explizite Hinweise auf diese erkenntnistheoretische Lektüre. In meinem Buch „Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt“ [1] fehlen solche, weil der Verlag Fussnoten sowie eine längere Einleitung zu den Interviews als Beeinträchtigung der Lesbarkeit dieses Buches wertete und strich. Das Buch wiederum war ein Ersatzprojekt, in Gratisarbeit erstellt, für ein im Frühjahr 1987 abgelehntes Nationalfondsprojekt; in dessen Rahmen hätte ich sicher ausgedehntere methodologische Überlegungen eingebracht.

 

Meinen Beitrag zur Arbeit der Bergier-Kommission habe ich zwar recht rasch nach Beginn der Forschungsarbeit, schon im Oktober 1998, als umfangreiches Manuskript abgeliefert. Einige in dieser Kommission Mitwirkende wollten das Thema Roma, Sinti und Jenische jedoch gar nicht oder nur in einem Mini-Beitrag publizieren. Es war einmal die Rede von 30 Seiten. Andere in dieser Kommission Mitwirkende arbeiteten jedoch darauf hin, dass der Beitrag mit Verspätung in der von Regula Ludi überarbeiteten und immer noch recht kurzen und konzentrierten Fassung im Jahr 2000 schliesslich doch erschien.[2] Primäres Anliegen war die konzentrierte Wiedergabe eines Teils der von mir aufgefundenen Quellen betreffend die antiziganistische Politik der Schweiz; hinzu kam noch der Wunsch der Kommission, die bestehende Literatur zur nazistischen Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma zusammenfassend zu referieren. Somit blieb auch hier nur minimaler Raum für Methodologisches.

 

Die Arbeiten zu Zwangsmassnahmen wie Zwangssterilisation im Fürsorgebereich, zur „Rassenhygiene“ in der schweizerischen Gesundheits- und Sozialpolitik sowie zur Anstaltsversorgung, die ich 2002 und 2003 publizierte, waren Auftragsarbeiten, ebenfalls mit dem Wunsch nach leichter Lesbarkeit und breit verständlicher Sprache verbunden.[3] Diesem Wunsch der Auftraggebenden kam ich zwar gerne nach, doch ging auch dies auf Kosten der Darstellung methodologischer Überlegungen. Umso lieber tue ich das nun im Rahmen dieses NFP-51-Projektes.

 

Ab 1990 verlor ich die Geschichtswissenschaft ziemlich aus den Augen, einerseits wegen der Ablehnung des erwähnten Nationalfondsprojekts, andererseits, weil ich mich einige Jahre lang als Kunstschaffender versuchte. Das erwies sich zwar als beflügeltes und herausforderndes Tun, doch der Verkauf meiner Hervorbringungen blieb unter meinen Erwartungen. Deshalb wandte ich mich wieder der Geschichtsschreibung zu.

 

Sie können sich kaum vorstellen, wie sehr mich anlässlich meines historischen comebacks Ende der 1990er Jahre als Mitarbeiter der Bergier-Kommission und als Erforscher von Stadtzürcher Fürsorge-, Vormundschafts- und Psychiatrieakten die Feststellung erfreute, dass inzwischen in den sozialwissenschaftlichen Fakultäten der „linguistic and cultural turn“ stattgefunden hatte. Paul Ricoeur und Hayden White sowie viele andere sprachsensible und narrationsbewusste Denker waren nun in aller Munde, Texte wurden als Texte interpretiert und Sätze als Sätze. Das Zauberwort von der qualitativen Wissenschaft schaffte Raum für sprachlich wohlkonstruierte Arbeiten, die man auch ohne Statistik-Ausbildung verfassen, publizieren und lesen konnte.

Oral history, vorher gewissermassen ein permanentes Foul gegenüber den hochverschriftlichten Spielregeln des akademischen Spielgrunds, war nun Trend, Mode und förderungsfähig. Selbst die Geschichte der Körperfunktionen, für deren Behandlung Forscher wie Eduard Fuchs und Norbert Elias noch akademisch abgestraft worden waren, wurde nun professoral empfohlen. Kulturgeschichte war vom verstaubten Ladenhüter wieder zum trendigen Label geworden.

 

Ich schliesse daraus: Man soll die Hoffnung nie fahren lassen und an seinen ureigenen, kontingenten, idiosynkratischen Vorlieben methodologischer, philosophischer und inhaltlicher Art auch dann festhalten, wenn sie gerade geächtet sind. Irgendwann schlägt ihre Stunde wieder.

 

Sie erkennen an meiner leicht selbstironischen Referenz auf Begriffe wie Kontingenz und Idiosynkrasie ohne Zweifel, dass ich auch in neuerer Zeit weiterhin erkenntnistheoretische Werke lese und dabei kürzlich die erfrischende Bekanntschaft mit Richard Rortys Büchern gemacht habe. Am Werk von Rorty schätze ich besonders, dass er souveräne Respektlosigkeit gegenüber ewigen Fragen der Transzendentalphilosophie mit der entschlossenen Grundlegung eines wissenschaftlichen Wertesystems verknüpft, das Autorität und Dogma tief einstuft, gegenseitigen Respekt, Empathie, Solidarität, Diskussion und Differenz jedoch hoch hält.[4]

 

Dies war die Einleitung. Nun folgt der Hauptteil des Referats zur Frage: Was kann man zur konkreten historischen und sozialwissenschaftlichen Arbeit von den genannten Autoren lernen?

 

Ich greife dazu zunächst zwei Autoren unter den oben Genannten heraus, die selber historische oder sozialwissenschaftliche Werke schrieben, und zwar zuerst Walter Benjamin, dann Eric Hobsbawm.

 

Benjamins Werk ist von hinreissender sprachlicher und gedanklicher Subtilität, und er hatte den Mut, zu Thesen und Theorien zu stehen, die ihm eine Universitätskarriere verunmöglichten. Er bearbeitete bevorzugt Themen, die vor ihm kaum jemand einer näheren Betrachtung würdigte. Zur Arbeitsweise des Historikers sagt Benjamin in seinem mangels finanzieller Förderung Fragment gebliebenen sogenannten Passagenwerk:

„Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darlegung zugrunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur die Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heisst also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt es aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.“ [5]

 

Man kann diesen schön formulierten Hinweis darauf, was Historiker schreiben, und darauf, was sie nicht schreiben, was aber als sympathetischer Subtext ihrer Darstellungen durchscheint, sehr gut exemplifizieren an einer anderen historischen Arbeit Benjamins. Diese hat er dank dem Drängen und der finanziellen Unterstützung Max Horkheimers vollendet. Ich meine seinen Aufsatz über den Sammler und Historiker Eduard Fuchs. Benjamin widmet diesem grossen Kulturhistoriker und Kunstsammler eine sehr gediegene Darstellung unter fast vollständiger Ausblendung seiner persönlichen Antipathie gegen diesen politisch überaus korrekten, finanziell sehr erfolgreichen und theoretisch höchst dogmatischen Autor anrüchiger Bestseller wie der „Illustrierten Sittengeschichte“. Seiner Antipathie gegen Fuchs lässt Benjamin dafür in Briefen an Adorno freien Lauf. Benjamin hat also beim Verfassen dieser historischen Arbeit seine persönlichen Gefühle mitreflektiert, ganz im Sinne des obigen Zitats.

Doch Walter Benjamin hat seine persönliche Distanz und Abneigung gegenüber seinem konkreten Forschungsobjekt Fuchs nicht nur reflektiert, sondern auch praktisch überwunden. Er suchte den persönlichen Kontakt mit seinem Forschungssubjekt. Benjamin machte anlässlich eines Besuchs in dessen Wohnung eine Art Interview mit Eduard Fuchs und notierte sich die Kern-Aussagen. Leider sind seine Notizen keine vollständige Transkription des Gesprächs, aber es gab damals (1935) wohl auch noch keine portablen Audiorecorder. Benjamin hat schliesslich einige dieser Selbstaussagen von Fuchs in seine Darstellung eingebaut, die allerdings kaum biografisch zu nennen ist.[6]

 

Eine allzu grosse wissenschaftliche Distanz gegenüber den Erforschten kann zu seltsamen Auffassungen führen. Thomas Dominik Meier und Rolf Wolfensberger haben zwar die fahrenden Schweizer Heimatlosen anhand der reichlich vorliegenden papierenen Quellen in den Archiven gründlich erforscht, jedoch erst anlässlich einer Ausstellung ihrer Polizeifotografien mit heute lebenden Nachfahren dieser Familien Kontakt aufgenommen. Nur so konnten sie zur Auffassung kommen:

„Die in dieser Arbeit beschriebenen Menschen sind alle im Archiv geboren.“ [7]

 

Der einzige von den eingangs Genannten, den man sinnvollerweise einfach als Historiker bezeichnen kann, ist Eric Hobsbawm. Von ihm las ich auf Empfehlung meines Mittelschullehrers Hans Schäppi, welcher der Wissenschaft den Rücken zukehrte und sich der Gewerkschaftsbewegung verschrieb, zuerst die Bücher, die anfangs der 1970er Jahre unter den deutschen Titeln „Sozialrebellen“ [8] und

„Die Banditen“ [9] erschienen sind. Zusammen mit den Werken von Ernst Bloch [10] und von Vittorio Lanternari [11] öffnete mir Hobsbawm einen genaueren Blick auf utopistisch-heilsgeschichtliche Massenbewegungen von unten, aber auch auf einzelne Rebellen und Sozialbanditen sowie auf andere Aussenseiter und Ausgegrenzte. Vor allem aber vermittelte mir Hobsbawm insbesondere durch den Anhang „Selbstzeugnisse“ im Band „Sozialrebellen“ [12] die Faszination authentischer Selbstzeugnisse und Interviews. Was im übrigen an Hobsbawm auffällt, ist die Sparsamkeit, mit der er sich zu methodischen Fragen äussert. Er erzählt die Geschichte und sagt nur wenig dazu, weshalb, wie und gestützt auf welche wissenschaftlichen Autoritäten er sie erzählen wird oder würde. Selbstzeugnisse gibt er möglichst vollständig und unverändert wieder, ohne diese authentischen Stimmen und deren Aussagen analytisch in jener Weise zu verhackstücken, wie dies bei neueren sozialwissenschaftlichen Arbeiten allzu oft gemacht wird. Dies auch aus einer Haltung heraus, welche Vittorio Lanternari, ähnlich wie die meisten Intellektuellen, die mich geprägt haben, schon 1960 so vertreten hat: „Der Aufschrei der Kolonialvölker – und im allgemeinen der Völker und Volksgruppen, die durch die Bedingungen des Notstandes, welche immer sie auch seien, unterdrückt werden, gewinnt für uns ganz bestimmte kulturelle Bedeutung: Er zeigt im Lichte der neuen Kulturwelten, die das Bewusstsein ihrer selbst gewonnen haben, die unserer Kultur eigenen Mängel und Widersprüche auf.“ [13]

Gross ist übrigens das Zutrauen von Hobsbawm in die mündliche Überlieferung schriftloser Kulturen, sagt er doch: „Mündliche Überlieferung vermag nämlich sehr wohl zehn oder zwölf Generationen zu überdauern.“ [14]

 

Nach diesen Bemerkungen zum Lobe Hobsbawms möchte ich mich nun einem ausgesprochenen Methodologen zuwenden. Unter allen sozialwissenschaftlichen Denkern, die sich überwiegend mit Methodologie befasst haben, scheint mir Georges Devereux der originellste und offenste zu sein. Die Bekanntschaft mit seinem Werk verdanke ich, wie so manchen Hinweis, meinem langjährigen Mentor, dem Psychoanalytiker und Ethnologen Mario Erdheim. Das Hauptwerk von Devereux  „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ [15] ist eines der wenigen rein methodologischen Bücher, welches neben seinen analytischen auch ausgesprochen narrative Qualitäten hat.

Jeden seiner methodologischen Hinweise nennt der Psychiater und Ethnologe Devereux einen „Fall“, und viele davon sind kurz gefasste Erzählungen von konkreten Vorkommnissen in der Wissenschaft, aus denen er dann vielfach noch einige generalisierende Merksätze ableitet.

Ich zitiere folgende Passage von Georges Devereux, welche für Psychiatriehistoriker, aber auch für andere Forschende im Feld von Stigma, Identität und Differenz von zentraler Bedeutung sind:

„Kandidaten der Psychiatrie – und manchmal sogar qualifizierte Psychiater – neigen, ehe sie Kurse in Ethnopsychiatrie absolviert haben, dazu, jede Abweichung von Standards ihrer eigenen Gruppe als symptomatisch für psychische Krankheiten zu nehmen; übliche indianische Verhaltensmuster können folglich als Symptome gewertet werden. Die Bedeutung eines eher individuellen Selbst-Modells für die Diagnose und die Formulierung therapeutischer Ziele wird durch das bittere Scherzwort beleuchtet, dass jedes psychiatrische Lehrbuch den Titel tragen sollte: „Wie du mehr so wie ich werden kannst.“ [16]

Devereux wäre aber nicht Devereux, wenn er dem methodologisch Suchenden im Rahmen dieses „Falls 231“ betreffend „Selbst-Modell“ anschliessend nicht auch noch die Gefahren des Gegenpols solch ethnozentrischer Auffassungen, nämlich der Falle der Idealisierung des Differenten, anschaulich vor Augen führen würde:

„Nach ethnopsychiatrischen Kursen werden Kandidaten der Psychiatrie manchmal spitzfindig und definieren selbst manifeste Symptome für Nervenkrankheiten als ‚normales Indianerverhalten’. Ich konnte einst zwei Pueblo-Indianer vor dem elektrischen Stuhl retten, deren Halluzinationen und Wahnbildungen man fälschlich als ‚indianischen Glauben’ diagnostiziert hatte.“ [17]

Ich kann hier auf Psychiatrie-Akten verweisen, die wir im aktuellen Projekt untersuchen. Der langjährige Leiter der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, Gottlob Pflugfelder, hat in seiner Befassung mit den Jenischen, die er von seinem Vorgänger Josef Jörger übernahm und die auch noch sein Nachfolger Benedikt Fontana im gleichen Ungeist weiterführte, zwischen 1950 und 1975 die psychiatrischen Diagnosen „Vagantenblut“ und „Vagantentemperament“ verwendet. Somit brachte er es zustande, nicht nur an das „Liber vagatorum“ [18] aus Jahr 1509, sondern, noch weiter zurückgehend, an die antike Lehre des Claudius Galenus von den Temperamenten anzuknüpfen, sowie an die rassistischen Blutlehren des Faschismus.

 

Auch Claude Lévy-Strauss äussert sich sehr dezidiert zu solchen ethnozentrischen „Selbst-Modellen“ und bezeichnet jede Weltsicht, welche andern Gruppen das Recht auf Differenz und prinzipielle Gleichheit abspricht, als egozentrisch und naiv:

„Il faut beaucoup  d’égocentrisme et de naïveté pour croire que l’homme est tout entier réfugié dans un seul des modes historiques ou géographiques de son être, alors que la vérité de l’homme réside dans le système de leurs différences et de leurs communes propriétés.“ [19]

Aus dieser Optik heraus publizierte Claude Lévy-Strauss schon 1952 im Auftrag der Unesco eine klare Abgrenzung von rassistischen Lehren, insbesondere auch von solchen, die im Kleid einer Evolutions- oder Fortschrittslehre einherkommen.[20]

 

Ich mache nun einen kleinen Zeitsprung. Sich heute als Hegelianer zu bekennen ist unzeitgemäss. Dieser Denker wird, gemäss  einer inzwischen 140jährigen Formulierung von Marx, nach zwei Zwischenblüten zur Zeit wieder als „toter Hund“ behandelt. Aber warum sollte ich nicht darlegen, was mir meine langjährigen Hegel-Studien von bleibendem Nutzen zur Geschichtsschreibung vermittelt haben? Jedermann zur Lektüre empfehlen kann ich Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Es ist immer gut zu wissen, dass es auch noch andere Denkweisen gibt nebst der eigenen. Ferner zu nennen wären sicher auch die bekannten Aphorismen Hegels von der Geschichte als einer „Schlachtbank“ [21] oder betreffend die Schwierigkeiten, die Geschichte als Lernprozess aufzufassen: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen wären, gehandelt haben.“ [22] 

Als Beispiel historischer Lernunfähigkeit schildert Hegel im Jahr 1817 den französischen Adel und die Württemberger Landstände der Restaurationszeit:

 „Man konnte von den württembergischen Landständen sagen, was von den französischen Remigranten gesagt worden ist: sie haben nichts vergessen und nichts gelernt; sie scheinen die letzten 25 Jahre, die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns lehrreichsten, weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören, verschlafen zu haben. Es konnte kaum einen furchtbareren Mörser geben als das Gericht dieser 25 Jahre; aber diese Landstände sind unversehrt daraus hervorgegangen, wie sie vorher waren.“ [23]

Dasselbe gilt auch für die Patriziate der Schweizer Kantone. Hegel, der von 1793 bis 1796 in Bern lebte, kam dort zur punktgenau zum Untergang des alten Bern im Jahr 1798 publizierten Überzeugung, „dass in keinem der Länder, die ich kenne, nach Verhältnis der Grösse so viel gehängt, gerädert, geköpft, verbrannt wird als in diesem Kanton“.[24] Unser Projekt umfasst auch das frühe 19. Jahrhundert, und es ist auch für die Schweiz zu konstatieren, dass insbesondere die rechtsstaatlichen Neuerungen der Helvetik, etwa bezüglich Bürgerrecht und Strafsystem, in der Restaurationsphase wieder rückgängig gemacht wurden, gerade auch, was das Köpfen und Hängen betrifft, von welchem die Nicht-Sesshaften in weit überproportionalem Mass betroffen waren.

 

Die erwähnten Hegel-Zitate sind gesichert; in jeder Hinsicht ungesichert ist der ihm (und gelegentlich auch anderen Philosophen) zugeschriebene Spruch angesichts von Tatsachen, die nicht in eine Theorie passen: „Umso schlimmer für die Tatsachen!“

Eine meiner methodologischen Neuentdeckungen der letzten Jahre ist neben Richard Rorty der polnische Arzt und Forscher Ludwik Fleck. Fleck hat den angeblich so harten Tatsachen und Fakten, von denen die sogenannte objektive Wissenschaft ausgehen möchte, endgültig das Grab geschaufelt, und zwar auf dem Feld der Naturwissenschaft.[25] Dass Ludwik Fleck damit zu seinen Lebzeiten ähnlich wenig Gehör fand wie Norbert Elias in seinen jungen Jahren, das hat nebst dem Wüten des Faschismus in beiden Fällen auch mit dem Paria-Syndrom zu tun. Fleck entwickelte seine Wissenschaftstheorie in einem sehr anrüchigen Bereich, nämlich anhand der wechselnden wissenschaftlichen Auffassungen über die Syphilis, so dass ein wohlanständiger Mensch dieses Buch eines jüdischen Emigranten gar nicht lesen durfte, als es 1935 bei Schwabe in Basel erschien.

Als Thomas S. Kuhn 1962 ähnliche Beobachtungen anhand weniger geächteter Themen darlegte, war sein Erfolg sofortig und durchschlagend.[26]

 

Dieselbe Wirkung hatte auch, dass sich Norbert Elias in seinem Buch über den Prozess der Zivilisation ausführlich zu Themen wie Spucken, andere Sekretionen und Rülpsen äussert. Kein Wunder, dass in der damaligen hochanständigen Schweiz wiederum praktisch niemand dieses Buch eines anderen jüdischen Emigranten lesen wollte, als es 1939 ebenfalls in Basel erstmals gedruckt wurde. Dass Elias später in England ausgerechnet mit dem Thema „Outsider“ in höheren wissenschaftlichen Sphären Fuss zu fassen versuchte, war natürlich eine nochmalige Missachtung des Paria-Syndroms (respektive des wissenschaftlichen Kasten-Denkens) und wurde mit weiteren Jahren der Exklusion aus dem Reich der finanziell gesicherten und geförderten Wissenschaft sanktioniert. Gerade dieses Buch von Elias, das er zusammen mit John L. Scotson schrieb, ist mir aber besonders lieb, weil es zeitgenössische Verhaltensmuster der Exklusion und Inklusion schildert, bei denen man gar nicht auf die – immer unselige – Idee kommen kann, sie hätten etwas mit Genen, Hautfarbe oder dem gerade auch für die biochemische Genetik unhaltbaren Begriff „Rasse“ zu tun. Elias und Scotson zeigen, wie die Bewohner reicher und armer Quartiere derselben Stadt einander gegenseitig sehen, und ich kann als ein in Schwamendingen Aufgewachsener, den es dann unter die Kinder des Zürichbergs, Zumikons und Zollikons ans Gymnasium verschlug, nur wiederholen, was Elias und Scotson formulierten, und was leider heute noch für alle Randgruppen in der Sichtweise aller Mehrheiten oder sonstigen etablierten Machtstrukturen gilt:

„Das Bild, das die ‚Etablierten’, das mächtige herrschende Sektionen einer Gesellschaft von sich selbst haben und anderen mitteilen, wird eher nach der ‚Minorität der Besten’ geformt; es hat eine Tendenz zur Idealisierung. Das Bild der ‚Aussenseiter’, der gegenüber den ‚Etablierten’ relativ machtschwachen Sektionen, wird eher nach der ‚Minorität der Schlechtesten’ geformt; es hat eine Tendenz zur Herabsetzung.“ [27]

Als geradezu klassische Neuauflage dieses alten Mechanismus spielt sich dieses Zuschreibungs-Zeremoniell in der Schweiz zur Zeit anhand des Roma-Mädchens aus Rüschlikon ab.[28]

Wir dokumentieren demgegenüber in unserem Projekt unter anderem ein Interview mit einem anderen Roma-Mädchen, das erfolgreich die Mittelschule absolviert, demzufolge mit keinerlei Medien-Berichterstattung gewürdigt wird und keine Politkampagnen von SVP und FDP zur weiteren Verschärfung des Asylrechts hervorruft, allerdings auch keine zu dessen Milderung.

 

Ich möchte nun auch etwas generalisieren. Mit wissenschaftlicher Methodik wurde schon die Existenz von Hexen und die Notwendigkeit von deren Verbrennung oder auch die Existenz von Unter- und Übermenschen und die Berechtigung von deren selektiver Herrschaft respektive Ausrottung gelehrt. Auch andere Irrtümer und Grausamkeiten wurden mit wissenschaftlicher Brillanz verteidigt. Somit zeigt die Geschichte der Wissenschaft, dass kritische Methoden die besten sind, dass Lehrstühle nicht vor Irrtümern und Abwegigkeiten bis hin zur Propagierung und Praktizierung von Massenmord schützen, dass die gängigen Methoden nicht unbedingt die besten sind und dass Nicht-Wissenschafter dem Wissenschaftsbetrieb wichtige Erkenntnisse liefern können.

 

Von grosser Bedeutung zu sein scheinen mir deshalb jene Erkenntnistheoretiker und Methodologen, welche die Elemente von Herrschaft, Zwang und Ausgrenzung im Wissenschaftsbetrieb aufspüren, schildern und kritisieren, entsprechende methodologische Schlüsse ziehen und den Institutionen von Lehre und Forschung entsprechende Empfehlungen abgeben.

 

Ich zitiere hierzu einige Sätze von Adorno zum verfehlten Omnipotenzanspruch der jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen Methodik:

„Nur in Augenblicken des geschichtlichen Hiatus wie dem zwischen der Lockerung des scholastischen Zwangs und dem Beginn der neuen, bürgerlich-szientifischen hat der Gedanke Atem geschöpft; in Montaigne etwa verbindet sich die schüchterne Freiheit des denkenden Subjekts mit Skepsis gegen die Omnipotenz der Methode, nämlich die Wissenschaft.“ [29]        „Ihre Geschlossenheit ist selber der Bruch. Daher die fanatische Intoleranz der Methode, der totalen Willkür, gegen alle Willkür als Abweichung. Ihr Subjektivismus richtet das Gesetz von Objektivität auf.“ [30]

 

In einfacherer Sprache und anhand vieler Beispiele, teilweise von ähnlicher narrativer Konkretion wie bei Georges Devereux, hat diesen Gedanken auch  Paul Feyerabend in seinem Buch „Wider den Methodenzwang“ dargelegt.[31]

 

Umgekehrt hat ein weiterer Autor, den ich erst in den letzten Jahren entdeckte, Pierre Bourdieu, in seinem Werk „Homo academicus“ die Hierarchien und Rollenspiele von Inklusion und Exklusion im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb (am Beispiel Frankreichs) detailliert und subtil dargelegt.[32]

Bourdieu hat übrigens auch ein grosses Stück weit das von Benjamin angegangene Paris des 19. Jahrhunderts dargestellt, allerdings unter stärkerer Fokussierung auf das Feld der Kunst und auf das Werk des Romanciers Gustave Flaubert als in Benjamins  Passagenwerk – auf welches Bourdieu jedoch keinerlei Bezug nimmt.[33] Bourdieu ist auch ein Werk gelungen, das als vielstimmiger Chor von authentischen Selbstzeugnissen auftritt.[34] Schliesslich hat sich der Elite-Wissenschafter Pierre Bourdieu in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend ausserhalb der Universitäten verstanden gefühlt, im weiten Kreis der jüngeren Globalisierungskritiker um Organisationen wie attac oder das Weltsozialforum in Porto Alegre.

 

Es sollte ein Fingerzeig für die Institutionen der Wissenschaft sein, dass in der aktuellen Umbruchsphase einige innovative Intellektuelle, etwa Naomi Klein, die gegenwärtigen Universitätsdebatten als eher begrenzt empfinden und sich mit Hilfe eigener Recherchen, vielfältiger Vernetzung im Internet sowie in Zusammenarbeit mit Gewerkschaftsaktivisten und Globalisierungs- und Firmenkritikern ans Verfassen höchst informativer und angenehm zu lesender Bücher machen, gerade auch zur aktuellen und globalen Thematik Identität und Differenz, etwa zu den von Marketingexperten, Markendesignern und Life-Style-Beratern sehr erfolgreich angebotenen Identitäten aus dem Reich des Warenfetischismus. Ausseruniversitäre Werke solchen Zuschnitts können etlichen teilweise grob simplifizierenden universitären Produktionen zur Gegenwartsanalyse auf sehr kreative Art locker die Stange halten. Und so formuliert Naomi Klein, was sie an den universitären Debatten zur Identitätspolitik bemängelt: „Mit der Zeit ging die Identitätspolitik an den Hochschulen so stark in der Personalpolitik auf, dass der Rest der Welt fast dahinter verschwand.“ [35]

 

Hochuniversitär ist etwa das Buch „The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order“ des Harvard-Professors Samuel P. Huntington,[36] welcher im Kern seiner naiven „Selbst-Modell“-Argumentation die „anständige“ eigene Identität im Herrschaftsbereich der weissen Christen unter Einschluss der Juden festmacht und sie in simplen und strikten Gegensatz zur islamischen Religion sowie zu den sonstigen nicht-westlichen Kulturen setzt, die alle irgendwelche Defizite, hauptsächlich betreffend Freiheit und Demokratie, aufweisen sollen und die er identitätsmässig ebenfalls hauptsächlich nach Religionen sortiert. Es ist kein Zufall, dass es gerade ein Religionssoziologe ist, der mit einer starken Kritik an diesem Neo-Manichäismus Huntingtons auftritt, nämlich Martin Riesebrodt.[37]

 

Ein Ärgernis sind mir auch viele Sätze aus den Büchern „Identitätswahn“ und „Identitätspolitik“ von Thomas Meyer.[38] Es ist ja durchaus angebracht, von Hexenwahn und vom Rassenwahn zu schreiben. Rassen wie Hexen sind phantasmagorische Kategorien, und der Rassenwahn wie der Hexenwahn hatten krass eliminatorische Züge. Es wäre aber unsinnig, vom Nationenwahn zu sprechen, obwohl der Nationalismus, insbesondere in Form des Nationalstaats, in Bezug auf andere Nationen bekanntlich gewaltige und restlos irrationale Eliminationsenergien entwickeln kann. Die Rede vom Nationalwahn wäre aber falsch, denn Nationen gibt es, und ebenso das durchaus zur Kennzeichnung der eliminatorischen und ausschliessenden Tendenzen dieser Art ausreichende Wort Nationalismus oder Chauvinismus. (Chauvin war ein französischer Kolonialsoldat, verewigt in folgendem Refrain eines Kriegslieds aus Anlass der Eroberung Algeriens 1831: „Je suis Français, je suis Chauvin / et je tape sur le bédouin.“ )

Ebenso wie Nationen gibt es Identitäten; ich verstehe sie als Muster von spezifischen Kulturelementen, über welche sich Gruppen definieren. Identitäten müssen weder eliminatorisch noch ausschliessend sein. Glücklicherweise gibt es auch Gruppen mit toleranter und offener Identität. Es bleibt uns nicht viel anderes übrig, als auf deren immer weitere Verbreitung zu hoffen und hinzuarbeiten. Menschen deklarierter Identitätszugehörigkeit alle als vom Identitätswahn befallen zu bezeichnen wäre etwa dasselbe, wie alle religiös empfindenden Menschen als von religiösen Wahnvorstellungen Besessene zu stigmatisieren, oder alle Wissenschafter als vom Wissenschaftswahn Befallene. Was es möglicherweise brauchen würde, wäre allenfalls ein Wort wie „Identismus“ für Konstrukteure und Anhänger eliminatorischer, gleichschaltender und ausschliessender Identitäten. Es gibt zwar dafür auch schon Worte wie Faschismus, Konformismus, Patriotismus, Sektierertum oder Fundamentalismus; es ist aber sowohl der Vorteil als auch der Nachteil dieser Begriffe, im Zusammenhang mit jeweils unterschiedlichen konkreten gesellschaftlichen Mustern geprägt worden zu sein.

Ein Behelf ist die Unterscheidung zwischen „zivilen“ und „mörderischen“ Identitäten, wie sie Amin Maalouf macht; letztlich plädiert auch Maalouf für ein tolerantes, friedliches und offenes Nebeneinander der verschiedenen Identitäten, unter besonderer Betonung der Offenheit der Identitäten, um die Wahlmöglichkeiten der Individuen zwischen verschiedenen Identitäten zu erleichtern.[39]

 

Es macht in fast allem einen grossen Unterschied, ob sich ein Mensch aus seinen Diskriminationserfahrungen heraus äussert oder ob ein unangefochten und erfolgsgewohnt dahinlebender Mensch aus einem herrschaftlich abgesicherten gesellschaftlichen Gehäuse heraus spricht oder schreibt. Einen ganz zentralen Unterschied macht das gerade beim Thema Minorität und Identität. Thomas Meyers Versuch, das freischwebende identitätskritische Individuum zu konstruieren, verbunden mit hartem Tadel an Identitätspolitikern, die er als eine Art raffgieriger Schlaumeiercliquen schildert, ist deshalb weniger ernst zu nehmen als Maaloufs hoffnungsvolle Analyse, das Seinsgefühl von Minoritäten und Migranten sei zum allgemeinen Life-Style geworden: „Besteht die Eigenart unserer Epoche nicht gerade darin, dass sie in gewissem Sinne alle Menschen zu Migranten und Angehörigen einer Minderheit gemacht hat?“ [40]

 

Zu konstatieren bleibt jedoch, dass es gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie ebenso wie Ausgrenzung und Unterdrückung von Minderheiten leider nach wie vor in grossem Ausmass und in krassen Formen gibt.

Wie sehr sich das Identitätsgefühl des Sprechers einer verfolgten Minderheit von demjenigen eines schweizerischen Gemeindepräsidenten, Regierungs- oder Bundesrats etwa anlässlich einer Ansprache zum unserem Nationalfeiertag, dem 1. August, unterscheidet, macht folgendes Zitat aus einem Interview mit dem Altvater der Schweizer Jenischen, Clemente Graff, vom 3. Juni 1986 deutlich:

„Uns hat man jetzt 40, 60 Jahre lang bekämpft, damit es uns gar nicht gibt. Wir sind ja evident identitätslos. Seit heute, wahrscheinlich, sind wir anerkannt. Dieses Datum, den 3. Juni 1986, (...) dürfen wir wirklich nicht vergessen. Der Staat entschuldigt sich ja nicht für etwas, das nicht existiert. Wir sind also tatsächlich da. Wir sind eine Minderheit. Eine Minderheit hat ihre Rechte, wie wir auch unsere Pflichten haben. Diese Rechte möchten wir vom Staat bestätigt haben. Wir möchten unser Nomadentum festgelegt haben, in der Bundesverfassung, Artikel soundsoviel, garantiert. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass, wenn der Bund zugesteht, dass wir als Minderheit anerkannt sind, wie die Rätoromanen, dass wir dann diese Diskriminierung nicht mehr haben.“ [41]

 

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen heisst unser Projekt: Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung.[42] Und es ist ein erfreuliches Zwischenresultat, dass sich immerhin aus einigen unserer Interviews und aus vielen schriftlichen Quellen der letzten Jahre ein Umdenken hin zu Respekt und Anerkennung heraushören und herauslesen lässt, dass sich ein gesellschaftliches Abrücken von alten, ausgrenzenden Kontinuitäten abzeichnet. Ziemlich genau seit dem Projektbeginn im Jahr 2003 ist aber in der Schweiz wieder ein neuer Diskurs von rechts im Aufwind, der nebst vielen anderen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auch genau dieses Umdenken gezielt wieder in Frage stellt und sich nach obsolet geglaubten Denkmodellen richtet, wie sie vor einigen Jahrzehnten im Schwang waren und wie sie uns aus den damaligen Quellen entgegentreten.

 

Ich komme zum Schluss.

Was bringt es, statt sich nur auf die erschlossenen und zur problemlosen Einsicht offenen Quellen und deren beflissene Verarbeitung gemäss den gerade geltenden oder vorgeschriebenen wissenschaftlichen Methoden zu konzentrieren, den Geist ein bisschen schweifen zu lassen in verschiedenen ethischen und philosophischen Systemen und Ansätzen?

Ich würde mit Rorty zunächst einmal antworten, das sei ein gutes Training zur Herstellung überzeugender wissenschaftlicher Ausdrucksweisen, Metaphern und Argumentationsreihen eigener Wahl und Präferenz und auch hilfreich dabei, andere Argumentationen und Metaphern „schlecht aussehen zu lassen“, wie Rorty sagt.[43] Ferner bewahrt solche Lektüre vor naiven, ausschliessenden, egozentrischen und ethnozentrischen oder gar eliminatorischen Sichtweisen und den daraus folgenden Grausamkeiten selbst bei besten Absichten.[44] Solche Lektüre hält auch die Neugier wach. Und schliesslich hat solche Lektüre manchmal auch die Qualität eines Archivbesuchs. Gelegentlich findet sich in Literatur von methodologischem Interesse ganz unverhofft ein bislang nicht beachtetes Zitat zur inhaltlichen Thematik. So erging es mir, als ich auch noch in den Werken von Marx und Engels blätterte, auf deren Studium ich in meinen Jugendjahren noch mehr Zeit verwendete als auf das Studium der Werke Hegels. Beim frühen Engels fand ich seine Beschreibung einer fahrenden jenischen Gruppe. Sie ist von seltener Anschaulichkeit und von freundlicher Unvoreingenommenheit. Friedrich Engels, der damals zu Fuss eine lange Strecke durch Frankreich ging, schildert sein Zusammentreffen mit Fahrenden im Jahr 1848 auf der Landstrasse bei Dampierre im Loire-Tal so:

“Mitten auf der Straße, nah bei einigen Bauernhäusern, traf ich eine Karawane von vier Männern, drei Weibern und mehreren Kindern, die drei schwerbeladene Eselskarren mit sich führten und auf offner Landstraße bei einem großen Feuer ihr Mittagsmahl kochten. Ich blieb einen Augenblick stehn: Ich hatte mich nicht getäuscht, sie sprachen deutsch, im härtesten oberdeutschen Dialekt. Ich redete sie an; sie waren entzückt, mitten in Frankreich ihre Muttersprache zu hören. Es waren übrigens Elsässer aus der Gegend von Strassburg, die jeden Sommer in dieser Weise ins Innere Frankreichs zogen und sich mit Korbflechten ernährten. Auf meine Frage, ob sie davon leben könnten, hieß es: "Ja schwerlich, wenn mer alles kaufe müscht'; das Mehrscht werd g'bettelt." Allmählich kroch noch ein ganz alter Mann aus einem der Eselskarren hervor, wo er ein vollständiges Bett hatte. Die ganze Bande hatte etwas sehr Zigeunerartiges in ihren zusammengebettelten Kostümen, von denen kein Stück zum andern paßte. Dabei schauten sie indes recht gemütlich drein und plauderten mir unendlich viel von ihren Fahrten vor, und mitten in der heitersten Schwatzhaftigkeit gerieten sich die Mutter und die Tochter, ein blauäugiges sanftes Geschöpf, beinahe in die struppigen roten Haare. Ich mußte bewundern, mit welcher Allgewalt sich die deutsche Gemütlichkeit und Innigkeit auch durch die zigeunerhaftesten Lebens- und Kleidungsverhältnisse Bahn bricht, wünschte guten Tag und setzte meine Reise fort, eine Strecke lang begleitet von einem der Zigeuner, der sich vor Tisch das Vergnügen eines Spazierrittes auf der spitzknochigen Croupe eines magern Esels erlaubte.“ [45]

 

Nun möchte ich Ihnen das Wort geben zu Fragen und Bemerkungen Ihrerseits, sei es zur Methodologie, zur Terminologie, zu Fragen von Stigma, Identität und Differenz oder zur Thematik Jenische, Sinti und Roma.

 



[1] Thomas Huonker; Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987

[2] Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern 2000 / Zürich 2001

[3] Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, „Eugenik“ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich 2002. Eine um einige Fallgeschichten aus der übrigen Schweiz erweiterte und illustrierte Buchfassung ist: Thomas Huonker: Diagnose „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. Zürich 2003. Ferner:

Thomas Huonker: Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003.

[4] Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1989; Richard Rorty: Wahrheit und Fortschrift. Frankfurt am Main 2003. In letzterem Titel empfehle ich besonders die Artikel „Menschenrechte, Vernunft und Empfindsamkeit“, S. 241-268, sowie „Rationalität und kulturelle Verschiedenheit“, S.269-290

[5] Ibid., S. 595

[6] Vgl.  Walter Benjamin: Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker. Gesammelte Schriften Band II.2, S. 465-505 sowie die Notizen und Anmerkungen dazu in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd.II.3, S. 1316-1363. Siehe auch: Thomas Huonker: Eduard Fuchs – Leben und Werk, Zürich 1985, S. 218-224

[7] Thomas Domink Meier / Rolf Wolfensberger: „Eine Heimat und doch keine“. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz 16.-19. Jahrhundert. Zürich 1998, S.14. Sicher kann den beiden Autoren zugestanden werden, dass sie diese Formulierung dahingehend meinen, die von ihnen rekonstruierten Lebensgeschichten seien Aktenbiografien und stünden nicht in einer 1:1-Übereinstimmung mit dem gelebten Leben der Erforschten. Letzteres gilt für alle Biografien, auch für Autobiografien, und doch gibt es weder kopf- noch archivgeborene Menschen.

[8] Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen. Neuwied 1971

[9] Erich J. Hobsbawm: Banditen. Frankfurt am Main 1972

[10] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1974

[11] Vittorio Lanternari: Religiöse Freiheitsbewegungen und Heilsbewegungen unterdrückter Völker, Neuwied o.J.

[12] Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen, Frankfurt am Main 1971, S. 221-247

[13] Vittorio Lanternari: Religiöse Freiheitsbewegungen und Heilsbewegungen unterdrückter Völker, Neuwied o.J., S.25

[14] Eric J. Hobsbawm: Die Banditen. Frankfurt am Main 1972, S. 194

[15] Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München o.J

[16] Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München o.J., S.207f.

[17] Ibid. S.208

[18] Vgl. dazu Heiner Böhncke / Rolf Johannsmeier (Hrsg.): Das Buch der Vaganten. Köln 1987; darin ist auch eine deutschsprachige Textvariante des liber vagatorum enthalten (S.79-101).

[19] Claude Lévy-Strauss: La pensée sauvage. Paris 1962, S.329

[20] Claude Lévy-Strauss: Race et histoire. New York / Paris 1952

[21] Das Diktum findet sich, verquickt mit einer teleologischen Sinngebung für die Opfer der Geschichte, in Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1970, Band 12, S.35

[22] Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1970, Bd. 12, S.17

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in den Versammlungen der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1970, Bd.4, S.462-597, S.507

[24] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern. Eine völlige Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern. Aus dem Französischen eines verstorbenen Schweizers übersetzt und mit  Anmerkungen versehen, Frankfurt am Main 1798, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1970, Bd. I, S.255-267,  S.261

[25] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main 1980

[26] Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientic Revolutions. Chicago 1962

[27] Norbert Elias / John L. Scotson: Etablierte und Aussenseiter. Frankfurt am Main 2002, S.71

[28] Vgl. neben den zahlreich Medienbeiträgen, welche diese Roma-Familie sehr schlecht aussehen liessen, auch den verständigeren Artikel von Rico Czerwinski: Eine unmögliche Familie, in: Das Magazin, Nr.07/2005 vom 19. 2. 2005, S.22-28

[29] Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Frankfurt am Main 1972, S.20

[30] Ibid. S.21

[31] Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizzen einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main 1975

[32] Pierre Bourdieu: Homo academicus. Frankfurt am Main 1992

[33] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main, 2001

[34] Pierre Bourdieu et. al. : Das Elend der Welt. Konstanz 1997

[35] Naomi Klein: No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht – Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, München 2005, S.125

[36] Samuel P. Huntington: The clash of civilizations and the remaking of world order. New York 1996

[37] Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und ‚Kampf der Kulturen’. München 2001

[38] Thomas Meyer: Identitätswahn. Die Politisierung des kulturellen
Unterschieds. Berlin 1997;
Thomas Meyer: Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt am Main 2002

[39] Amin Maalouf: Mörderische Identitäten.Frankfurt am Main 1998

[40] Armin Maalouf: Mörderische Identitäten, Frankfurt am Main 1998, S.37

[41] Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987. Protokoll Hermann H. im Gespräch mit Clemenz G., S. 163-170, S. 168f.

[43] Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.84

[44] Claude Lévy-Strauss gesteht sogar dem ersten Chefideologen des Rassismus, Joseph Arthur Graf von Gobineau, „bonne foi“ zu, schildert aber gleichzeitig, wie auch Gutgläubige und in der Haltung  von „Ich bin doch kein Rassist, wenn ich sage...“ Argumentierende in den „cercle infernal“ rassistischer Argumentationen und ihrer Konsequenzen verfallen: „Le péché originel de l’anthropologie consiste dans la confusion entre la notion purement biologique de race (à supposer, d’ailleurs, que, même sur ce terrain limité, cette notion puisse prétendre à l’objectivité, ce que la génétique moderne conteste) et les productions sociologiques et psychologiques des cultures humaines. Il a suffi à Gobineau de l’avoir commis pour se trouver enfermé dans le cercle infernal qui conduit d’une erreur intellecuelle n’excluant pas la bonne foi à la légitimation involontaire de toutes les tentatives de discrimination et d’exploitation. “ (Claude Lévy-Strauss: Race et histoire, Paris 1989, S. 10)

[45] Friedrich Engels: Von Paris nach Bern. In: Marx-Engels-Werke, Band 4, S. 463-480, S.468f.