Schriftliche
Fassung des Referats von Thomas Huonker
an der Tagung des
NFP 51 vom 22. Februar 2005 in Murten im Rahmen des Workshops "Stigma,
Identität, Differenz"
Bemerkungen
zu Identität und Differenz, Wahnsinn und Methode, Herrschaft und Diskurs
Zum Stand unseres
Projekts verweise ich auf die Angaben im Tagungsmaterial. Sie können in der
Diskussion gerne konkrete Fragen dazu stellen. Bei dieser Gelegenheit möchte
ich jedoch etwas weiter ausholen.
Ich bin als meine
Aktivitäten bei Gelegenheit philosophisch reflektierender Historiker und als ab
und zu politisch Intervenierender von der Lektüre meiner jungen Jahre geprägt.
Als einer der jüngsten 1968er – ich klebte in diesem heissen Sommer als
14jähriger meine ersten politischen Plakate an die Wände und verfasste meine
ersten Wandzeitungen – las ich die damals angesagten Schriften im Vergleich zu
anderen Aktivisten recht gründlich, und zwar in einem anregenden und
widersprüchlichen Mix. Diese zeitaufwendige, aber lohnende Lektüre, mit der ich
nach meiner Mittelschulzeit auch die damalige Pflichtlektüre des akademischen
Bereichs meiner Studienzeit in Genf und Zürich ergänzte, reichte von Georg
Friedrich Wilhelm Hegel bis zu Hans Georg Gadamer und Ludwig Wittgenstein, von
den Werken von Karl Marx, Friedrich Engels und Mao Tse-tung bis zur Metakritik
der Erkenntnistheorie von Theodor W. Adorno, von Lenin bis Leo Kofler, von
Sigmund Freud bis zu Max Horkheimer und Herbert Marcuse, von Ernst Bloch und
Vittorio Lanternari bis zu Jürgen Habermas, von Antonio Gramsci bis zu Eric
Hobsbawm, von Karl Mannheim zu Peter Berger und Thomas Luckmann, von Eduard
Fuchs bis zu Walter Benjamin und Norbert Elias, von Jean-Paul Sartre zu Michel
Foucault und Claude Lévy-Strauss, von Frantz Fanon bis zu Georges Devereux – und bis zum Situationisten Guy Debord,
dessen eindrücklichen Adlaten Gianfranco Sanguinetti ich 1971 in Florenz im
Alter von 17 Jahren persönlich kennen zu lernen die Ehre hatte, als ich dort in
den Sommerferien auch italienische Sprache, Kunst und Küche studierte.
In vielen meiner
Publikationen finden sich kaum explizite Hinweise auf diese
erkenntnistheoretische Lektüre. In meinem Buch „Fahrendes Volk – verfolgt und
verfemt“ [1]
fehlen solche, weil der Verlag Fussnoten sowie eine längere Einleitung zu den
Interviews als Beeinträchtigung der Lesbarkeit dieses Buches wertete und
strich. Das Buch wiederum war ein Ersatzprojekt, in Gratisarbeit erstellt, für
ein im Frühjahr 1987 abgelehntes Nationalfondsprojekt; in dessen Rahmen hätte
ich sicher ausgedehntere methodologische Überlegungen eingebracht.
Meinen Beitrag zur
Arbeit der Bergier-Kommission habe ich zwar recht rasch nach Beginn der
Forschungsarbeit, schon im Oktober 1998, als umfangreiches Manuskript
abgeliefert. Einige in dieser Kommission Mitwirkende wollten das Thema Roma,
Sinti und Jenische jedoch gar nicht oder nur in einem Mini-Beitrag
publizieren. Es war einmal die Rede von 30 Seiten. Andere in dieser Kommission Mitwirkende
arbeiteten jedoch darauf hin, dass der Beitrag mit Verspätung in
der von Regula Ludi überarbeiteten und immer noch recht kurzen und
konzentrierten Fassung im Jahr 2000 schliesslich doch erschien.[2]
Primäres Anliegen war die konzentrierte Wiedergabe eines Teils der von mir
aufgefundenen Quellen betreffend die antiziganistische Politik der Schweiz;
hinzu kam noch der Wunsch der Kommission, die bestehende Literatur zur
nazistischen Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma zusammenfassend
zu referieren. Somit blieb auch hier nur minimaler Raum für Methodologisches.
Die Arbeiten zu
Zwangsmassnahmen wie Zwangssterilisation im Fürsorgebereich, zur
„Rassenhygiene“ in der schweizerischen Gesundheits- und Sozialpolitik sowie zur
Anstaltsversorgung, die ich 2002 und 2003 publizierte, waren Auftragsarbeiten,
ebenfalls mit dem Wunsch nach leichter Lesbarkeit und breit verständlicher
Sprache verbunden.[3] Diesem
Wunsch der Auftraggebenden kam ich zwar gerne nach, doch ging auch dies auf
Kosten der Darstellung methodologischer Überlegungen. Umso lieber tue ich das
nun im Rahmen dieses NFP-51-Projektes.
Ab 1990 verlor ich
die Geschichtswissenschaft ziemlich aus den Augen, einerseits wegen der
Ablehnung des erwähnten Nationalfondsprojekts, andererseits, weil ich mich
einige Jahre lang als Kunstschaffender versuchte. Das erwies sich zwar als
beflügeltes und herausforderndes Tun, doch der Verkauf meiner Hervorbringungen
blieb unter meinen Erwartungen. Deshalb wandte ich mich wieder der
Geschichtsschreibung zu.
Sie können sich
kaum vorstellen, wie sehr mich anlässlich meines historischen comebacks Ende
der 1990er Jahre als Mitarbeiter der Bergier-Kommission und als Erforscher von
Stadtzürcher Fürsorge-, Vormundschafts- und Psychiatrieakten die Feststellung
erfreute, dass inzwischen in den sozialwissenschaftlichen Fakultäten der
„linguistic and cultural turn“ stattgefunden hatte. Paul Ricoeur und Hayden
White sowie viele andere sprachsensible und narrationsbewusste Denker waren nun
in aller Munde, Texte wurden als Texte interpretiert und Sätze als Sätze. Das
Zauberwort von der qualitativen Wissenschaft schaffte Raum für sprachlich
wohlkonstruierte Arbeiten, die man auch ohne Statistik-Ausbildung verfassen,
publizieren und lesen konnte.
Oral history,
vorher gewissermassen ein permanentes Foul gegenüber den hochverschriftlichten
Spielregeln des akademischen Spielgrunds, war nun Trend, Mode und
förderungsfähig. Selbst die Geschichte der Körperfunktionen, für deren
Behandlung Forscher wie Eduard Fuchs und Norbert Elias noch akademisch
abgestraft worden waren, wurde nun professoral empfohlen. Kulturgeschichte war
vom verstaubten Ladenhüter wieder zum trendigen Label geworden.
Ich schliesse
daraus: Man soll die Hoffnung nie fahren lassen und an seinen ureigenen,
kontingenten, idiosynkratischen Vorlieben methodologischer, philosophischer und
inhaltlicher Art auch dann festhalten, wenn sie gerade geächtet sind.
Irgendwann schlägt ihre Stunde wieder.
Sie erkennen an
meiner leicht selbstironischen Referenz auf Begriffe wie Kontingenz und
Idiosynkrasie ohne Zweifel, dass ich auch in neuerer Zeit weiterhin
erkenntnistheoretische Werke lese und dabei kürzlich die erfrischende
Bekanntschaft mit Richard Rortys Büchern gemacht habe. Am Werk von Rorty
schätze ich besonders, dass er souveräne Respektlosigkeit gegenüber ewigen
Fragen der Transzendentalphilosophie mit der entschlossenen Grundlegung eines
wissenschaftlichen Wertesystems verknüpft, das Autorität und Dogma tief
einstuft, gegenseitigen Respekt, Empathie, Solidarität, Diskussion und
Differenz jedoch hoch hält.[4]
Dies war die
Einleitung. Nun folgt der Hauptteil des Referats zur Frage: Was kann man zur
konkreten historischen und sozialwissenschaftlichen Arbeit von den genannten
Autoren lernen?
Ich greife dazu
zunächst zwei Autoren unter den oben Genannten heraus, die selber historische
oder sozialwissenschaftliche Werke schrieben, und zwar zuerst Walter Benjamin,
dann Eric Hobsbawm.
Benjamins Werk ist
von hinreissender sprachlicher und gedanklicher Subtilität, und er hatte den
Mut, zu Thesen und Theorien zu stehen, die ihm eine Universitätskarriere
verunmöglichten. Er bearbeitete bevorzugt Themen, die vor ihm kaum jemand einer
näheren Betrachtung würdigte. Zur Arbeitsweise des Historikers sagt Benjamin in
seinem mangels finanzieller Förderung Fragment gebliebenen sogenannten
Passagenwerk:
„Das Geschehen,
das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit
sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darlegung zugrunde liegen. Die
Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem
Text und nur die Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise
vorliegen. Geschichte schreiben heisst also Geschichte zitieren. Im Begriff des
Zitierens liegt es aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem
Zusammenhange gerissen wird.“
[5]
Man kann diesen
schön formulierten Hinweis darauf, was Historiker schreiben, und darauf, was
sie nicht schreiben, was aber als sympathetischer Subtext ihrer Darstellungen
durchscheint, sehr gut exemplifizieren an einer anderen historischen Arbeit
Benjamins. Diese hat er dank dem Drängen und der finanziellen Unterstützung Max
Horkheimers vollendet. Ich meine seinen Aufsatz über den Sammler und Historiker
Eduard Fuchs. Benjamin widmet diesem grossen Kulturhistoriker und Kunstsammler
eine sehr gediegene Darstellung unter fast vollständiger Ausblendung seiner
persönlichen Antipathie gegen diesen politisch überaus korrekten, finanziell
sehr erfolgreichen und theoretisch höchst dogmatischen Autor anrüchiger
Bestseller wie der „Illustrierten Sittengeschichte“. Seiner Antipathie gegen
Fuchs lässt Benjamin dafür in Briefen an Adorno freien Lauf. Benjamin hat also
beim Verfassen dieser historischen Arbeit seine persönlichen Gefühle
mitreflektiert, ganz im Sinne des obigen Zitats.
Doch Walter
Benjamin hat seine persönliche Distanz und Abneigung gegenüber seinem konkreten
Forschungsobjekt Fuchs nicht nur reflektiert, sondern auch praktisch
überwunden. Er suchte den persönlichen Kontakt mit seinem Forschungssubjekt.
Benjamin machte anlässlich eines Besuchs in dessen Wohnung eine Art Interview
mit Eduard Fuchs und notierte sich die Kern-Aussagen. Leider sind seine Notizen
keine vollständige Transkription des Gesprächs, aber es gab damals (1935) wohl
auch noch keine portablen Audiorecorder. Benjamin hat schliesslich einige
dieser Selbstaussagen von Fuchs in seine Darstellung eingebaut, die allerdings
kaum biografisch zu nennen ist.[6]
Eine allzu grosse
wissenschaftliche Distanz gegenüber den Erforschten kann zu seltsamen
Auffassungen führen. Thomas Dominik Meier und Rolf Wolfensberger haben zwar die
fahrenden Schweizer Heimatlosen anhand der reichlich vorliegenden papierenen
Quellen in den Archiven gründlich erforscht, jedoch erst anlässlich einer
Ausstellung ihrer Polizeifotografien mit heute lebenden Nachfahren dieser
Familien Kontakt aufgenommen. Nur so konnten sie zur Auffassung kommen:
„Die in dieser
Arbeit beschriebenen Menschen sind alle im Archiv geboren.“ [7]
Der einzige von den
eingangs Genannten, den man sinnvollerweise einfach als Historiker bezeichnen
kann, ist Eric Hobsbawm. Von ihm las ich auf Empfehlung meines
Mittelschullehrers Hans Schäppi, welcher der Wissenschaft den Rücken zukehrte
und sich der Gewerkschaftsbewegung verschrieb, zuerst die Bücher, die anfangs
der 1970er Jahre unter den deutschen Titeln „Sozialrebellen“ [8]
und
„Die Banditen“ [9]
erschienen sind. Zusammen mit den Werken von Ernst Bloch [10]
und von Vittorio Lanternari [11]
öffnete mir Hobsbawm einen genaueren Blick auf utopistisch-heilsgeschichtliche
Massenbewegungen von unten, aber auch auf einzelne Rebellen und Sozialbanditen
sowie auf andere Aussenseiter und Ausgegrenzte. Vor allem aber vermittelte mir
Hobsbawm insbesondere durch den Anhang „Selbstzeugnisse“ im Band
„Sozialrebellen“ [12]
die Faszination authentischer Selbstzeugnisse und Interviews. Was im übrigen an
Hobsbawm auffällt, ist die Sparsamkeit, mit der er sich zu methodischen Fragen
äussert. Er erzählt die Geschichte und sagt nur wenig dazu, weshalb, wie und
gestützt auf welche wissenschaftlichen Autoritäten er sie erzählen wird oder
würde. Selbstzeugnisse gibt er möglichst vollständig und unverändert wieder,
ohne diese authentischen Stimmen und deren Aussagen analytisch in jener Weise
zu verhackstücken, wie dies bei neueren sozialwissenschaftlichen Arbeiten allzu
oft gemacht wird. Dies auch aus einer Haltung heraus, welche Vittorio
Lanternari, ähnlich wie die meisten Intellektuellen, die mich geprägt haben,
schon 1960 so vertreten hat: „Der Aufschrei der Kolonialvölker – und im
allgemeinen der Völker und Volksgruppen, die durch die Bedingungen des
Notstandes, welche immer sie auch seien, unterdrückt werden, gewinnt für uns
ganz bestimmte kulturelle Bedeutung: Er zeigt im Lichte der neuen Kulturwelten,
die das Bewusstsein ihrer selbst gewonnen haben, die unserer Kultur eigenen
Mängel und Widersprüche auf.“ [13]
Gross ist übrigens
das Zutrauen von Hobsbawm in die mündliche Überlieferung schriftloser Kulturen,
sagt er doch: „Mündliche Überlieferung vermag nämlich sehr wohl zehn oder
zwölf Generationen zu überdauern.“ [14]
Nach diesen
Bemerkungen zum Lobe Hobsbawms möchte ich mich nun einem ausgesprochenen
Methodologen zuwenden. Unter allen sozialwissenschaftlichen Denkern, die sich überwiegend
mit Methodologie befasst haben, scheint mir Georges Devereux der originellste
und offenste zu sein. Die Bekanntschaft mit seinem Werk verdanke ich, wie so
manchen Hinweis, meinem langjährigen Mentor, dem Psychoanalytiker und
Ethnologen Mario Erdheim. Das Hauptwerk von Devereux „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ [15]
ist eines der wenigen rein methodologischen Bücher, welches neben seinen
analytischen auch ausgesprochen narrative Qualitäten hat.
Jeden seiner
methodologischen Hinweise nennt der Psychiater und Ethnologe Devereux einen
„Fall“, und viele davon sind kurz gefasste Erzählungen von konkreten
Vorkommnissen in der Wissenschaft, aus denen er dann vielfach noch einige
generalisierende Merksätze ableitet.
Ich zitiere
folgende Passage von Georges Devereux, welche für Psychiatriehistoriker, aber
auch für andere Forschende im Feld von Stigma, Identität und Differenz von
zentraler Bedeutung sind:
„Kandidaten der
Psychiatrie – und manchmal sogar qualifizierte Psychiater – neigen, ehe sie
Kurse in Ethnopsychiatrie absolviert haben, dazu, jede Abweichung von Standards
ihrer eigenen Gruppe als symptomatisch für psychische Krankheiten zu nehmen;
übliche indianische Verhaltensmuster können folglich als Symptome gewertet
werden. Die Bedeutung eines eher individuellen Selbst-Modells für die Diagnose
und die Formulierung therapeutischer Ziele wird durch das bittere Scherzwort
beleuchtet, dass jedes psychiatrische Lehrbuch den Titel tragen sollte: „Wie du
mehr so wie ich werden kannst.“
[16]
Devereux wäre aber
nicht Devereux, wenn er dem methodologisch Suchenden im Rahmen dieses „Falls
231“ betreffend „Selbst-Modell“ anschliessend nicht auch noch die Gefahren des
Gegenpols solch ethnozentrischer Auffassungen, nämlich der Falle der
Idealisierung des Differenten, anschaulich vor Augen führen würde:
„Nach
ethnopsychiatrischen Kursen werden Kandidaten der Psychiatrie manchmal
spitzfindig und definieren selbst manifeste Symptome für Nervenkrankheiten als
‚normales Indianerverhalten’. Ich konnte einst zwei Pueblo-Indianer vor dem
elektrischen Stuhl retten, deren Halluzinationen und Wahnbildungen man
fälschlich als ‚indianischen Glauben’ diagnostiziert hatte.“ [17]
Ich kann hier auf
Psychiatrie-Akten verweisen, die wir im aktuellen Projekt untersuchen. Der
langjährige Leiter der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, Gottlob
Pflugfelder, hat in seiner Befassung mit den Jenischen, die er von seinem
Vorgänger Josef Jörger übernahm und die auch noch sein Nachfolger Benedikt
Fontana im gleichen Ungeist weiterführte, zwischen 1950 und 1975 die
psychiatrischen Diagnosen „Vagantenblut“ und „Vagantentemperament“ verwendet.
Somit brachte er es zustande, nicht nur an das „Liber vagatorum“ [18]
aus Jahr 1509, sondern, noch weiter zurückgehend, an die antike Lehre des
Claudius Galenus von den Temperamenten anzuknüpfen, sowie an die rassistischen
Blutlehren des Faschismus.
Auch Claude
Lévy-Strauss äussert sich sehr dezidiert zu solchen ethnozentrischen
„Selbst-Modellen“ und bezeichnet jede Weltsicht, welche andern Gruppen das
Recht auf Differenz und prinzipielle Gleichheit abspricht, als egozentrisch und
naiv:
„Il faut beaucoup
d’égocentrisme et de naïveté pour croire que l’homme est tout entier
réfugié dans un seul des modes historiques ou géographiques de son être, alors
que la vérité de l’homme réside dans le système de leurs différences et de
leurs communes propriétés.“ [19]
Aus dieser Optik
heraus publizierte Claude Lévy-Strauss schon 1952 im Auftrag der Unesco eine
klare Abgrenzung von rassistischen Lehren, insbesondere auch von solchen, die
im Kleid einer Evolutions- oder Fortschrittslehre einherkommen.[20]
Ich mache nun einen
kleinen Zeitsprung. Sich heute als Hegelianer zu bekennen ist unzeitgemäss.
Dieser Denker wird, gemäss einer
inzwischen 140jährigen Formulierung von Marx, nach zwei Zwischenblüten zur Zeit
wieder als „toter Hund“ behandelt. Aber warum sollte ich nicht darlegen, was
mir meine langjährigen Hegel-Studien von bleibendem Nutzen zur
Geschichtsschreibung vermittelt haben? Jedermann zur Lektüre empfehlen kann ich
Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Es ist immer gut zu wissen,
dass es auch noch andere Denkweisen gibt nebst der eigenen. Ferner zu nennen
wären sicher auch die bekannten Aphorismen Hegels von der Geschichte als einer „Schlachtbank“
[21]
oder betreffend die Schwierigkeiten, die Geschichte als Lernprozess
aufzufassen: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses,
dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach
Lehren, die aus derselben zu ziehen wären, gehandelt haben.“ [22]
Als Beispiel
historischer Lernunfähigkeit schildert Hegel im Jahr 1817 den französischen
Adel und die Württemberger Landstände der Restaurationszeit:
„Man konnte von den württembergischen
Landständen sagen, was von den französischen Remigranten gesagt worden ist: sie
haben nichts vergessen und nichts gelernt; sie scheinen die letzten 25 Jahre,
die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns
lehrreichsten, weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören,
verschlafen zu haben. Es konnte kaum einen furchtbareren Mörser geben als das
Gericht dieser 25 Jahre; aber diese Landstände sind unversehrt daraus
hervorgegangen, wie sie vorher waren.“
[23]
Dasselbe gilt auch
für die Patriziate der Schweizer Kantone. Hegel, der von 1793 bis 1796 in Bern
lebte, kam dort zur punktgenau zum Untergang des alten Bern im Jahr 1798
publizierten Überzeugung, „dass in keinem der Länder, die ich kenne, nach
Verhältnis der Grösse so viel gehängt, gerädert, geköpft, verbrannt wird als in
diesem Kanton“.[24]
Unser Projekt umfasst auch das frühe 19. Jahrhundert, und es ist auch für die
Schweiz zu konstatieren, dass insbesondere die rechtsstaatlichen Neuerungen der
Helvetik, etwa bezüglich Bürgerrecht und Strafsystem, in der Restaurationsphase
wieder rückgängig gemacht wurden, gerade auch, was das Köpfen und Hängen
betrifft, von welchem die Nicht-Sesshaften in weit überproportionalem Mass
betroffen waren.
Die erwähnten
Hegel-Zitate sind gesichert; in jeder Hinsicht ungesichert ist der ihm (und
gelegentlich auch anderen Philosophen) zugeschriebene Spruch angesichts von
Tatsachen, die nicht in eine Theorie passen: „Umso schlimmer für die
Tatsachen!“
Eine meiner
methodologischen Neuentdeckungen der letzten Jahre ist neben Richard Rorty der
polnische Arzt und Forscher Ludwik Fleck. Fleck hat den angeblich so harten
Tatsachen und Fakten, von denen die sogenannte objektive Wissenschaft ausgehen
möchte, endgültig das Grab geschaufelt, und zwar auf dem Feld der
Naturwissenschaft.[25]
Dass Ludwik Fleck damit zu seinen Lebzeiten ähnlich wenig Gehör fand wie Norbert
Elias in seinen jungen Jahren, das hat nebst dem Wüten des Faschismus in beiden
Fällen auch mit dem Paria-Syndrom zu tun. Fleck entwickelte seine
Wissenschaftstheorie in einem sehr anrüchigen Bereich, nämlich anhand der
wechselnden wissenschaftlichen Auffassungen über die Syphilis, so dass ein
wohlanständiger Mensch dieses Buch eines jüdischen Emigranten gar nicht lesen
durfte, als es 1935 bei Schwabe in Basel erschien.
Als Thomas S. Kuhn
1962 ähnliche Beobachtungen anhand weniger geächteter Themen darlegte, war sein
Erfolg sofortig und durchschlagend.[26]
Dieselbe Wirkung
hatte auch, dass sich Norbert Elias in seinem Buch über den Prozess der
Zivilisation ausführlich zu Themen wie Spucken, andere Sekretionen und Rülpsen
äussert. Kein Wunder, dass in der damaligen hochanständigen Schweiz
wiederum praktisch niemand dieses Buch eines anderen jüdischen Emigranten lesen wollte, als es 1939
ebenfalls in Basel erstmals gedruckt wurde. Dass Elias später in England
ausgerechnet mit dem Thema „Outsider“ in höheren wissenschaftlichen Sphären
Fuss zu fassen versuchte, war natürlich eine nochmalige Missachtung des
Paria-Syndroms (respektive des wissenschaftlichen Kasten-Denkens) und wurde mit
weiteren Jahren der Exklusion aus dem Reich der finanziell gesicherten und
geförderten Wissenschaft sanktioniert. Gerade dieses Buch von Elias, das er
zusammen mit John L. Scotson schrieb, ist mir aber besonders lieb, weil es
zeitgenössische Verhaltensmuster der Exklusion und Inklusion schildert, bei
denen man gar nicht auf die – immer unselige – Idee kommen kann, sie hätten
etwas mit Genen, Hautfarbe oder dem gerade auch für die biochemische Genetik
unhaltbaren Begriff „Rasse“ zu tun. Elias und Scotson zeigen, wie die Bewohner reicher
und armer Quartiere derselben Stadt einander gegenseitig sehen, und ich kann
als ein in Schwamendingen Aufgewachsener, den es dann unter die Kinder des
Zürichbergs, Zumikons und Zollikons ans Gymnasium verschlug, nur wiederholen,
was Elias und Scotson formulierten, und was leider heute noch für alle
Randgruppen in der Sichtweise aller Mehrheiten oder sonstigen etablierten
Machtstrukturen gilt:
„Das Bild, das
die ‚Etablierten’, das mächtige herrschende Sektionen einer Gesellschaft von
sich selbst haben und anderen mitteilen, wird eher nach der ‚Minorität der
Besten’ geformt; es hat eine Tendenz zur Idealisierung. Das Bild der
‚Aussenseiter’, der gegenüber den ‚Etablierten’ relativ machtschwachen
Sektionen, wird eher nach der ‚Minorität der Schlechtesten’ geformt; es hat
eine Tendenz zur Herabsetzung.“
[27]
Als geradezu
klassische Neuauflage dieses alten Mechanismus spielt sich dieses
Zuschreibungs-Zeremoniell in der Schweiz zur Zeit anhand des Roma-Mädchens aus
Rüschlikon ab.[28]
Wir dokumentieren
demgegenüber in unserem Projekt unter anderem ein Interview mit einem anderen
Roma-Mädchen, das erfolgreich die Mittelschule absolviert, demzufolge mit
keinerlei Medien-Berichterstattung gewürdigt wird und keine Politkampagnen von
SVP und FDP zur weiteren Verschärfung des Asylrechts hervorruft, allerdings
auch keine zu dessen Milderung.
Ich möchte nun auch
etwas generalisieren. Mit wissenschaftlicher Methodik wurde schon die Existenz
von Hexen und die Notwendigkeit von deren Verbrennung oder auch die Existenz
von Unter- und Übermenschen und die Berechtigung von deren selektiver
Herrschaft respektive Ausrottung gelehrt. Auch andere Irrtümer und
Grausamkeiten wurden mit wissenschaftlicher Brillanz verteidigt. Somit zeigt
die Geschichte der Wissenschaft, dass kritische Methoden die besten sind, dass
Lehrstühle nicht vor Irrtümern und Abwegigkeiten bis hin zur Propagierung und
Praktizierung von Massenmord schützen, dass die gängigen Methoden nicht unbedingt
die besten sind und dass Nicht-Wissenschafter dem Wissenschaftsbetrieb wichtige
Erkenntnisse liefern können.
Von grosser
Bedeutung zu sein scheinen mir deshalb jene Erkenntnistheoretiker und
Methodologen, welche die Elemente von Herrschaft, Zwang und Ausgrenzung im
Wissenschaftsbetrieb aufspüren, schildern und kritisieren, entsprechende
methodologische Schlüsse ziehen und den Institutionen von Lehre und Forschung
entsprechende Empfehlungen abgeben.
Ich zitiere hierzu
einige Sätze von Adorno zum verfehlten Omnipotenzanspruch der jeweils
vorherrschenden wissenschaftlichen Methodik:
„Nur in
Augenblicken des geschichtlichen Hiatus wie dem zwischen der Lockerung des
scholastischen Zwangs und dem Beginn der neuen, bürgerlich-szientifischen hat
der Gedanke Atem geschöpft; in Montaigne etwa verbindet sich die schüchterne
Freiheit des denkenden Subjekts mit Skepsis gegen die Omnipotenz der Methode,
nämlich die Wissenschaft.“ [29] „Ihre Geschlossenheit ist selber
der Bruch. Daher die fanatische Intoleranz der Methode, der totalen Willkür,
gegen alle Willkür als Abweichung. Ihr Subjektivismus richtet das Gesetz von
Objektivität auf.“ [30]
In einfacherer
Sprache und anhand vieler Beispiele, teilweise von ähnlicher narrativer
Konkretion wie bei Georges Devereux, hat diesen Gedanken auch Paul Feyerabend in seinem Buch „Wider den
Methodenzwang“ dargelegt.[31]
Umgekehrt hat ein
weiterer Autor, den ich erst in den letzten Jahren entdeckte, Pierre Bourdieu,
in seinem Werk „Homo academicus“ die Hierarchien und Rollenspiele von Inklusion
und Exklusion im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb (am Beispiel Frankreichs)
detailliert und subtil dargelegt.[32]
Bourdieu hat übrigens
auch ein grosses Stück weit das von Benjamin angegangene Paris des 19.
Jahrhunderts dargestellt, allerdings unter stärkerer Fokussierung auf das Feld
der Kunst und auf das Werk des Romanciers Gustave Flaubert als in Benjamins Passagenwerk – auf welches Bourdieu jedoch
keinerlei Bezug nimmt.[33]
Bourdieu ist auch ein Werk gelungen, das als vielstimmiger Chor von
authentischen Selbstzeugnissen auftritt.[34]
Schliesslich hat sich der Elite-Wissenschafter Pierre Bourdieu in den letzten
Jahren seines Lebens zunehmend ausserhalb der Universitäten verstanden gefühlt,
im weiten Kreis der jüngeren Globalisierungskritiker um Organisationen wie
attac oder das Weltsozialforum in Porto Alegre.
Es sollte ein
Fingerzeig für die Institutionen der Wissenschaft sein, dass in der
aktuellen Umbruchsphase einige innovative Intellektuelle, etwa Naomi Klein,
die gegenwärtigen Universitätsdebatten als eher begrenzt empfinden und sich mit
Hilfe eigener Recherchen, vielfältiger Vernetzung im Internet sowie in Zusammenarbeit mit
Gewerkschaftsaktivisten und Globalisierungs- und Firmenkritikern ans Verfassen
höchst informativer und angenehm zu lesender Bücher machen, gerade auch zur
aktuellen und globalen Thematik Identität und Differenz, etwa zu den von
Marketingexperten, Markendesignern und Life-Style-Beratern sehr erfolgreich
angebotenen Identitäten aus dem Reich des Warenfetischismus. Ausseruniversitäre
Werke solchen Zuschnitts können etlichen teilweise grob simplifizierenden
universitären Produktionen zur Gegenwartsanalyse auf sehr kreative Art locker
die Stange halten. Und so formuliert Naomi Klein, was sie an den universitären
Debatten zur Identitätspolitik bemängelt: „Mit der Zeit ging die
Identitätspolitik an den Hochschulen so stark in der Personalpolitik auf, dass
der Rest der Welt fast dahinter verschwand.“ [35]
Hochuniversitär ist
etwa das Buch „The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order“ des
Harvard-Professors Samuel P. Huntington,[36]
welcher im Kern seiner naiven „Selbst-Modell“-Argumentation die „anständige“
eigene Identität im Herrschaftsbereich der weissen Christen unter Einschluss
der Juden festmacht und sie in simplen und strikten Gegensatz zur islamischen
Religion sowie zu den sonstigen nicht-westlichen Kulturen setzt, die alle
irgendwelche Defizite, hauptsächlich betreffend Freiheit und Demokratie,
aufweisen sollen und die er identitätsmässig ebenfalls hauptsächlich nach
Religionen sortiert. Es ist kein Zufall, dass es gerade ein Religionssoziologe
ist, der mit einer starken Kritik an diesem Neo-Manichäismus Huntingtons
auftritt, nämlich Martin Riesebrodt.[37]
Ein Ärgernis sind
mir auch viele Sätze aus den Büchern „Identitätswahn“ und „Identitätspolitik“
von Thomas Meyer.[38]
Es ist ja durchaus angebracht, von Hexenwahn und vom Rassenwahn zu schreiben.
Rassen wie Hexen sind phantasmagorische Kategorien, und der Rassenwahn wie der
Hexenwahn hatten krass eliminatorische Züge. Es wäre aber unsinnig, vom
Nationenwahn zu sprechen, obwohl der Nationalismus, insbesondere in Form des
Nationalstaats, in Bezug auf andere Nationen bekanntlich gewaltige und restlos
irrationale Eliminationsenergien entwickeln kann. Die Rede vom Nationalwahn
wäre aber falsch, denn Nationen gibt es, und ebenso das durchaus zur
Kennzeichnung der eliminatorischen und ausschliessenden Tendenzen dieser Art
ausreichende Wort Nationalismus oder Chauvinismus. (Chauvin war ein
französischer Kolonialsoldat, verewigt in folgendem Refrain eines Kriegslieds
aus Anlass der Eroberung Algeriens 1831: „Je suis Français, je suis Chauvin
/ et je tape sur le bédouin.“ )
Ebenso wie Nationen
gibt es Identitäten; ich verstehe sie als Muster von spezifischen
Kulturelementen, über welche sich Gruppen definieren. Identitäten müssen weder
eliminatorisch noch ausschliessend sein. Glücklicherweise gibt es auch Gruppen
mit toleranter und offener Identität. Es bleibt uns nicht viel anderes übrig,
als auf deren immer weitere Verbreitung zu hoffen und hinzuarbeiten. Menschen
deklarierter Identitätszugehörigkeit alle als vom Identitätswahn befallen zu
bezeichnen wäre etwa dasselbe, wie alle religiös empfindenden Menschen als von
religiösen Wahnvorstellungen Besessene zu stigmatisieren, oder alle
Wissenschafter als vom Wissenschaftswahn Befallene. Was es möglicherweise
brauchen würde, wäre allenfalls ein Wort wie „Identismus“ für Konstrukteure und
Anhänger eliminatorischer, gleichschaltender und ausschliessender Identitäten.
Es gibt zwar dafür auch schon Worte wie Faschismus, Konformismus, Patriotismus,
Sektierertum oder Fundamentalismus; es ist aber sowohl der Vorteil als auch der
Nachteil dieser Begriffe, im Zusammenhang mit jeweils unterschiedlichen
konkreten gesellschaftlichen Mustern geprägt worden zu sein.
Ein Behelf ist die
Unterscheidung zwischen „zivilen“ und „mörderischen“ Identitäten, wie sie Amin
Maalouf macht; letztlich plädiert auch Maalouf für ein tolerantes, friedliches
und offenes Nebeneinander der verschiedenen Identitäten, unter besonderer
Betonung der Offenheit der Identitäten, um die Wahlmöglichkeiten der Individuen
zwischen verschiedenen Identitäten zu erleichtern.[39]
Es macht in fast
allem einen grossen Unterschied, ob sich ein Mensch aus seinen
Diskriminationserfahrungen heraus äussert oder ob ein unangefochten und
erfolgsgewohnt dahinlebender Mensch aus einem herrschaftlich abgesicherten
gesellschaftlichen Gehäuse heraus spricht oder schreibt. Einen ganz zentralen
Unterschied macht das gerade beim Thema Minorität und Identität. Thomas Meyers
Versuch, das freischwebende identitätskritische Individuum zu konstruieren,
verbunden mit hartem Tadel an Identitätspolitikern, die er als eine Art
raffgieriger Schlaumeiercliquen schildert, ist deshalb weniger ernst zu nehmen
als Maaloufs hoffnungsvolle Analyse, das Seinsgefühl von Minoritäten und
Migranten sei zum allgemeinen Life-Style geworden: „Besteht die Eigenart
unserer Epoche nicht gerade darin, dass sie in gewissem Sinne alle Menschen zu
Migranten und Angehörigen einer Minderheit gemacht hat?“ [40]
Zu konstatieren
bleibt jedoch, dass es gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie ebenso wie
Ausgrenzung und Unterdrückung von Minderheiten leider nach wie vor in grossem
Ausmass und in krassen Formen gibt.
Wie sehr sich das
Identitätsgefühl des Sprechers einer verfolgten Minderheit von demjenigen eines
schweizerischen Gemeindepräsidenten, Regierungs- oder Bundesrats etwa
anlässlich einer Ansprache zum unserem Nationalfeiertag, dem 1. August,
unterscheidet, macht folgendes Zitat aus einem Interview mit dem Altvater der
Schweizer Jenischen, Clemente Graff, vom 3. Juni 1986 deutlich:
„Uns hat man
jetzt 40, 60 Jahre lang bekämpft, damit es uns gar nicht gibt. Wir sind ja
evident identitätslos. Seit heute, wahrscheinlich, sind wir anerkannt. Dieses
Datum, den 3. Juni 1986, (...) dürfen wir wirklich nicht vergessen. Der Staat
entschuldigt sich ja nicht für etwas, das nicht existiert. Wir sind also
tatsächlich da. Wir sind eine Minderheit. Eine Minderheit hat ihre Rechte, wie
wir auch unsere Pflichten haben. Diese Rechte möchten wir vom Staat bestätigt
haben. Wir möchten unser Nomadentum festgelegt haben, in der Bundesverfassung,
Artikel soundsoviel, garantiert. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass,
wenn der Bund zugesteht, dass wir als Minderheit anerkannt sind, wie die
Rätoromanen, dass wir dann diese Diskriminierung nicht mehr haben.“ [41]
Vor dem Hintergrund
solcher Überlegungen heisst unser Projekt: Unterwegs zwischen Verfolgung und
Anerkennung.[42] Und es ist
ein erfreuliches Zwischenresultat, dass sich immerhin aus einigen unserer
Interviews und aus vielen schriftlichen Quellen der letzten Jahre ein Umdenken
hin zu Respekt und Anerkennung heraushören und herauslesen lässt, dass sich
ein gesellschaftliches Abrücken von alten, ausgrenzenden Kontinuitäten
abzeichnet. Ziemlich genau seit dem Projektbeginn im Jahr 2003 ist aber in der Schweiz wieder
ein neuer Diskurs von rechts im Aufwind, der nebst vielen anderen
Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auch genau dieses Umdenken gezielt
wieder in Frage stellt und sich nach obsolet geglaubten Denkmodellen richtet,
wie sie vor einigen Jahrzehnten im Schwang waren und wie sie uns aus den
damaligen Quellen entgegentreten.
Ich komme zum
Schluss.
Was bringt es,
statt sich nur auf die erschlossenen und zur problemlosen Einsicht offenen
Quellen und deren beflissene Verarbeitung gemäss den gerade geltenden oder
vorgeschriebenen wissenschaftlichen Methoden zu konzentrieren, den Geist ein
bisschen schweifen zu lassen in verschiedenen ethischen und philosophischen
Systemen und Ansätzen?
Ich würde mit Rorty
zunächst einmal antworten, das sei ein gutes Training zur Herstellung
überzeugender wissenschaftlicher Ausdrucksweisen, Metaphern und
Argumentationsreihen eigener Wahl und Präferenz und auch hilfreich dabei,
andere Argumentationen und Metaphern „schlecht aussehen zu lassen“, wie
Rorty sagt.[43] Ferner
bewahrt solche Lektüre vor naiven, ausschliessenden, egozentrischen und
ethnozentrischen oder gar eliminatorischen Sichtweisen und den daraus folgenden
Grausamkeiten selbst bei besten Absichten.[44]
Solche Lektüre hält auch die Neugier wach. Und schliesslich hat solche Lektüre
manchmal auch die Qualität eines Archivbesuchs. Gelegentlich findet sich in
Literatur von methodologischem Interesse ganz unverhofft ein bislang nicht
beachtetes Zitat zur inhaltlichen Thematik. So erging es mir, als ich auch noch
in den Werken von Marx und Engels blätterte, auf deren Studium ich in meinen
Jugendjahren noch mehr Zeit verwendete als auf das Studium der Werke Hegels.
Beim frühen Engels fand ich seine Beschreibung einer fahrenden jenischen Gruppe.
Sie ist von seltener Anschaulichkeit und von freundlicher Unvoreingenommenheit.
Friedrich Engels, der damals zu Fuss eine lange Strecke durch Frankreich ging,
schildert sein Zusammentreffen mit Fahrenden im Jahr 1848 auf der Landstrasse
bei Dampierre im Loire-Tal so:
“Mitten auf der
Straße, nah bei einigen Bauernhäusern, traf ich eine Karawane von vier Männern,
drei Weibern und mehreren Kindern, die drei schwerbeladene Eselskarren mit sich
führten und auf offner Landstraße bei einem großen Feuer ihr Mittagsmahl
kochten. Ich blieb einen Augenblick stehn: Ich hatte mich nicht getäuscht, sie
sprachen deutsch, im härtesten oberdeutschen Dialekt. Ich redete sie an; sie
waren entzückt, mitten in Frankreich ihre Muttersprache zu hören. Es waren
übrigens Elsässer aus der Gegend von Strassburg, die jeden Sommer in dieser
Weise ins Innere Frankreichs zogen und sich mit Korbflechten ernährten. Auf
meine Frage, ob sie davon leben könnten, hieß es: "Ja schwerlich, wenn mer
alles kaufe müscht'; das Mehrscht werd g'bettelt." Allmählich kroch noch
ein ganz alter Mann aus einem der Eselskarren hervor, wo er ein vollständiges
Bett hatte. Die ganze Bande hatte etwas sehr Zigeunerartiges in ihren
zusammengebettelten Kostümen, von denen kein Stück zum andern paßte. Dabei schauten
sie indes recht gemütlich drein und plauderten mir unendlich viel von ihren
Fahrten vor, und mitten in der heitersten Schwatzhaftigkeit gerieten sich die
Mutter und die Tochter, ein blauäugiges sanftes Geschöpf, beinahe in die
struppigen roten Haare. Ich mußte bewundern, mit welcher Allgewalt sich die
deutsche Gemütlichkeit und Innigkeit auch durch die zigeunerhaftesten Lebens-
und Kleidungsverhältnisse Bahn bricht, wünschte guten Tag und setzte meine
Reise fort, eine Strecke lang begleitet von einem der Zigeuner, der sich vor
Tisch das Vergnügen eines Spazierrittes auf der spitzknochigen Croupe eines
magern Esels erlaubte.“ [45]
Nun möchte ich
Ihnen das Wort geben zu Fragen und Bemerkungen Ihrerseits, sei es zur
Methodologie, zur Terminologie, zu Fragen von Stigma, Identität und Differenz
oder zur Thematik Jenische, Sinti und Roma.
[1] Thomas Huonker; Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987
[2] Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern 2000 / Zürich 2001
[3] Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, „Eugenik“ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich 2002. Eine um einige Fallgeschichten aus der übrigen Schweiz erweiterte und illustrierte Buchfassung ist: Thomas Huonker: Diagnose „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. Zürich 2003. Ferner:
Thomas Huonker: Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003.
[4] Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1989; Richard Rorty: Wahrheit und Fortschrift. Frankfurt am Main 2003. In letzterem Titel empfehle ich besonders die Artikel „Menschenrechte, Vernunft und Empfindsamkeit“, S. 241-268, sowie „Rationalität und kulturelle Verschiedenheit“, S.269-290
[5] Ibid., S. 595
[6] Vgl. Walter Benjamin: Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker. Gesammelte Schriften Band II.2, S. 465-505 sowie die Notizen und Anmerkungen dazu in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd.II.3, S. 1316-1363. Siehe auch: Thomas Huonker: Eduard Fuchs – Leben und Werk, Zürich 1985, S. 218-224
[7] Thomas Domink Meier / Rolf Wolfensberger: „Eine Heimat und doch keine“. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz 16.-19. Jahrhundert. Zürich 1998, S.14. Sicher kann den beiden Autoren zugestanden werden, dass sie diese Formulierung dahingehend meinen, die von ihnen rekonstruierten Lebensgeschichten seien Aktenbiografien und stünden nicht in einer 1:1-Übereinstimmung mit dem gelebten Leben der Erforschten. Letzteres gilt für alle Biografien, auch für Autobiografien, und doch gibt es weder kopf- noch archivgeborene Menschen.
[8] Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen. Neuwied 1971
[9] Erich J. Hobsbawm: Banditen. Frankfurt am Main 1972
[10] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1974
[11] Vittorio Lanternari: Religiöse Freiheitsbewegungen und Heilsbewegungen unterdrückter Völker, Neuwied o.J.
[12] Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen, Frankfurt am Main 1971, S. 221-247
[13] Vittorio Lanternari: Religiöse Freiheitsbewegungen und Heilsbewegungen unterdrückter Völker, Neuwied o.J., S.25
[14] Eric J. Hobsbawm: Die Banditen. Frankfurt am Main 1972, S. 194
[15] Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München o.J
[16] Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München o.J., S.207f.
[17] Ibid. S.208
[18] Vgl. dazu Heiner Böhncke / Rolf Johannsmeier (Hrsg.): Das Buch der Vaganten. Köln 1987; darin ist auch eine deutschsprachige Textvariante des liber vagatorum enthalten (S.79-101).
[19] Claude Lévy-Strauss: La pensée sauvage. Paris 1962, S.329
[20] Claude Lévy-Strauss: Race et histoire. New York / Paris 1952
[21] Das Diktum findet sich, verquickt mit einer teleologischen Sinngebung für die Opfer der Geschichte, in Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1970, Band 12, S.35
[22] Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1970, Bd. 12, S.17
[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in den Versammlungen der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1970, Bd.4, S.462-597, S.507
[24] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern. Eine völlige Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern. Aus dem Französischen eines verstorbenen Schweizers übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Frankfurt am Main 1798, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1970, Bd. I, S.255-267, S.261
[25] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main 1980
[26] Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientic Revolutions. Chicago 1962
[27] Norbert Elias / John L. Scotson: Etablierte und Aussenseiter. Frankfurt am Main 2002, S.71
[28] Vgl. neben den zahlreich Medienbeiträgen, welche diese Roma-Familie sehr schlecht aussehen liessen, auch den verständigeren Artikel von Rico Czerwinski: Eine unmögliche Familie, in: Das Magazin, Nr.07/2005 vom 19. 2. 2005, S.22-28
[29] Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Frankfurt am Main 1972, S.20
[30] Ibid. S.21
[31] Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizzen einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main 1975
[32] Pierre Bourdieu: Homo academicus. Frankfurt am Main 1992
[33] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main, 2001
[34] Pierre Bourdieu et. al. : Das Elend der Welt. Konstanz 1997
[35] Naomi Klein: No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht – Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, München 2005, S.125
[36] Samuel P. Huntington: The clash of civilizations and the remaking of world order. New York 1996
[37] Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und ‚Kampf der Kulturen’. München 2001
[38]
Thomas Meyer: Identitätswahn. Die Politisierung
des kulturellen
Unterschieds. Berlin 1997; Thomas Meyer: Identitätspolitik. Vom Missbrauch
kultureller Unterschiede. Frankfurt am Main 2002
[39] Amin Maalouf: Mörderische Identitäten.Frankfurt am Main 1998
[40] Armin Maalouf: Mörderische Identitäten, Frankfurt am Main 1998, S.37
[41] Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987. Protokoll Hermann H. im Gespräch mit Clemenz G., S. 163-170, S. 168f.
[42] Vgl. www.thata.ch/projektsitenfp51jenischesintiroma.html; der Projektbeschrieb in Englisch findet sich auf www.thata.ch/nfp51yenishsintiromaprojectenglish.htm
[43] Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.84
[44] Claude Lévy-Strauss gesteht sogar dem ersten Chefideologen des Rassismus, Joseph Arthur Graf von Gobineau, „bonne foi“ zu, schildert aber gleichzeitig, wie auch Gutgläubige und in der Haltung von „Ich bin doch kein Rassist, wenn ich sage...“ Argumentierende in den „cercle infernal“ rassistischer Argumentationen und ihrer Konsequenzen verfallen: „Le péché originel de l’anthropologie consiste dans la confusion entre la notion purement biologique de race (à supposer, d’ailleurs, que, même sur ce terrain limité, cette notion puisse prétendre à l’objectivité, ce que la génétique moderne conteste) et les productions sociologiques et psychologiques des cultures humaines. Il a suffi à Gobineau de l’avoir commis pour se trouver enfermé dans le cercle infernal qui conduit d’une erreur intellecuelle n’excluant pas la bonne foi à la légitimation involontaire de toutes les tentatives de discrimination et d’exploitation. “ (Claude Lévy-Strauss: Race et histoire, Paris 1989, S. 10)
[45] Friedrich Engels: Von Paris nach Bern. In: Marx-Engels-Werke, Band 4, S. 463-480, S.468f.