Wissenschaftlicher Schlussbericht vom 1. September ------ Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz

Division Targeted Research

Abteilung Orientierte Forschung

National Research Programmes (NRP)

Nationale Forschungsprogramme (NFP)

Schweizerischer Nationalfonds

Wildhainweg 20

Scientific Report 

 

 

 
CH-3001 Berne / Bern

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NRP 51 “Social Integration and Social Exclusion“ / NFP 51 “Integration und Ausschluss”

 


Final scientific report /  Wissenschaftlicher Schlussbericht

 


Project number:

Projektnummer: 4051-69207

 

Project title:

Projekttitel:

Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung

Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute

 

Principal applicant / Hauptgesuchsteller:

 

 

 

Academic title

first name, name:

Institut:

Address:

Phone::

e-mail:

Dr. phil. I.

Thomas Huonker

Schweizerisches Institut für Antiziganismusforschung (SIFAZ), www.sifaz.org

Ährenweg 1     CH - 8050 Zürich 

078 658 04 31

thomas.huonker@spectraweb.ch             website: www.thata.ch

 

Further applicants / Mitgesuchsteller:

 

 

 

Academic title

first name, name:

Institute:

 

 

 Keine

 

Names of co-workers involved / Namen der Mitarbeiter:

 

 

 

PhD-Students:  Studenten:

Scientific Collaborators: Wissenschaftliche Mitarbeiter

 

Post-docs:

Graduierte:

Other:

Andere:

 

 

 

Samuel Hegnauer

Venanz Nobel

Stéphane Laederich

Kemal Sadulov

Serge Borri

 

Start of project:

Projektbeginn:

1.Juni 2003

End of project:

Projektende:

31.Mai 2006

Duration in months:

Dauer in Monaten:

36

 

Project funding by SNSF:

Projektbeiträge des SNF:

300'000.- CHF

Project funding by third parties:

Projektbeiträge von Dritten:

100'000.- CHF

 

1. Abstract / Zusammenfassung

Please summarise the main elements of your research project: topic, research methods, main results and recommendations. Please note that the summary will be included to the database of the NRP 51-Website and is therefore accessible to the public. Please use a clear language.


Das Projekt "Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung. Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute" stellt einen tiefgreifenden sozialen Wandel dar. Es zeigt, dass diese Gruppen – wie schon vor 1800 – während verschiedenen Phasen zwischen 1800 und 1972 in der Schweiz mit Massnahmen wie Todesstrafe, Prügelstrafe, Familienzerstörung, Landesverweis, Abweisung an der Grenze, Anstaltsinternierung etc., und dies in der Absicht, ihre Existenz als eigenständige ethnische und kulturelle Gruppen innerhalb der Schweizer Grenzen zu verunmöglichen, verfolgt wurden. Heute sind sie unter dem gegenwärtigen behördlichen Oberbegriff "Fahrende" gemäss offiziellen Verlautbarungen als nationale Minderheit anerkannt und stehen unter dem Schutz internationaler Menschenrechtskonventionen.

 

Ein zentrales Anliegen des Projekts ist es, Selbstzeugnisse von Angehörigen dieser Gruppen zur Selbstreflexion ihrer jeweiligen sozialen Lage zu dokumentieren. Daraus ergibt sich ein genaueres Bild der in der Schweiz unter behördlichen Fremdbezeichnungen wie "Vaganten", "Zigeuner" und "Fahrende" subsumierten Gruppen, nämlich

a) der in der Schweiz lebenden Jenischen, die als transnationale Minderheit verwandtschaftliche und kulturelle Bezüge zu den Jenischen der Nachbarländer haben, mit ihrer Sprache Jenisch

b) der in der Schweiz lebenden Sinti mit ihren verwandtschaftlichen und kulturellen transnationalen Bezügen zu Sinti in Mittel- und Westeuropa, mit ihrer Sprache Romanes 

c) der in der Schweiz lebenden Roma mit verwandschaftlichen transnationalen Bezügen zu Roma vor allem aus Osteuropa (Sprache ebenfalls Romanes).

 

In allen drei Gruppen gibt es sowohl Sesshafte wie auch Reisende (teilweise sesshafte Familien, die im Sommer reisen) sowie kleine Gruppen gänzlich mobil lebender Familien. Die Mehrheit innerhalb dieser Gruppen ist sesshaft, mit Ausnahme der Sinti, unter welchen die reisende Gruppe in der Schweiz die Mehrheit bildet. Bei den Roma osteuropäischer Herkunft in der Schweiz ist der Anteil nicht Sesshafter sehr klein. 

 

Kurzzeitig um 1800, langfristig ab 1848 gab die Schweizer Regierung den so genannten “heimatlosen Vaganten“, soweit sie schweizerischer Herkunft waren, gleiche Heimat- und politische Rechte wie den anderen Schweizer Männern (ausser den Juden, welche die gänzliche Gleichberechtigung in der Schweiz erst 1874 zugestanden erhielten). Die schweizerischen Frauen erreichten ihre vollen politische Rechte erst ab 1971.

Vor, während und nach Regelung ihrer Bürgerrechte, bis 1972 / 73 und teilweise noch länger, wurden gegen Menschen aus den im Projekt thematisierten Gruppen gezielt Massnahmen geplant und durchgeführt wie

a) Familienauflösungen mittels Nicht-Anerkennung der unter den Bedingungen des Heiratsverbots für Menschen ohne Bürgerrechte eingegangenen Familienverbindungen (19. und 20. Jahrhundert)

b) Bestrebungen, die „Vaganten" generell auszuschaffen (Vorschlag Kanton Luzern 1843) oder einzelne Familien aus den thematisierten Gruppen zur Auswanderung zu drängen

c) Wegnahme von Kindern (im 19. und im 20. Jahrhundert)

d) Anstaltsinternierung sowohl von Kindern wie Erwachsenen

e) generelles Einreise-, Aufenthalts- und Niederlassungsverbot (erste Hälfte 19. Jahrhundert sowie 1888 bis 1972).

 

Zwischen 1888 und 1972 galten in Fortsetzung der Vertreibungspolitik der Zeit vor 1848  wieder grenzpolizeiliche Abwehrmassnahmen gegen vom Ausland her in die Schweiz einreisende Jenische, Sinti und Roma. Dabei kam es zwischen 1913 und 1972 zu Internierungen, Familientrennungen und Ausschaffungen – auch in die Machtbereiche Mussolinis und Hitlers. Das Projekt vertieft die Kenntnis der Fälle von Papierverweigerung gegenüber Jenischen und Sinti schweizerischer Herkunft sowie von Asylverweigerung gegenüber Sinti, Jenischen und Roma, die aus dem Herrschaftsbereich der Nazis in die Schweiz zu fliehen versuchten.

 

Zwischen 1926 und 1973 betrieb das behördlich unterstützte „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ der Stiftung Pro Juventute, in der auch Schweizer Regierungsvertreter Einsitz hatten, unter Leitung des gerichtsnotorischen Pädophilen Dr. Alfred Siegfried die planmässige Auflösung jenischer Familien durch Kindswegnahmen und Anstaltseinweisungen, mit dem Ziel, das „Vagantenproblem“ zu beseitigen.

 

Erst nach Ende dieser Verfolgung um 1973 konnten legale Organisationen der Verfolgten entstehen, so die Radgenossenschaft der Landstrasse (gegründet 1975).

 

Um 1980 war die Schweiz mit dem aus der Tschechoslowakei geflohenen Arzt Dr. Jan Cibula und dem zweiten Roma-Welt-Kongress in Genf 1978 (Gründung der Internationalen Romani-Union) ein Zentrum der internationalen Roma-Bewegung. Die erst in den 1990er Jahren zu weiteren Organisationen führende, meist stille Präsenz von Roma in der Schweiz kommt daher, dass seit den 1950er Jahren viele sesshafte Roma unerkannt in die Schweiz kamen, teils als Flüchtlinge, meist als Fremdarbeiter. Sie outen sich nur selten als Roma, um antiziganistischen Abwehrhaltungen zu entgehen. Das Gutachten von Prof. W. Kälin vom 27. November 1999 zur flüchtlingsrechtlichen Lage Asyl suchender Roma und Aschkali aus dem Kosovo erleichterte es diesen, zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu stehen, welche sie vor der schweizerischen Ausschaffungsroutine gegenüber Asyl suchenden Roma anderer Herkunft teilweise schützt.

 

 

2. Objectives and relevance of the research project / Ziele und Bedeutung des Forschungsprojekts

State the original objectives of the project and present your contributions to current research literature in this area.

 

a)  Darstellung der verschiedenen Phasen der Ausgrenzung respektive Integration von Jenischen, Roma und Sinti im Gebiet der Schweiz und der Grenzregionen aus multi-kultureller und minderheitsgeschichtlicher Perspektive

 

b)   Zeitliche Gliederung dieser Vorgänge, Konflikte, Massnahmen und Entwicklungen in der neueren Geschichte der Schweiz durch Darlegung jeweiliger Umbrüche (um 1800, um 1850, um 1888, um 1920, um 1972)


 

c)  Dokumentierung und multiperspektivische Darstellung der Diskurse und Handlungsmuster der treibenden Kräfte dieser Umbrüche, der Optiken der daran Beteiligten, der jeweils verwendeten Begrifflichkeiten in ihren Konflikten oder in ihrem Zusammenwirken mit länger anhaltenden Kontinuitäten und international wirksamen Tendenzen (Aufstieg des Liberalismus; Diskurse gegen "Überfremdung" bzw. für nationale Homogenisierung; "rassenhygienischer" Diskurs in Psychiatrie und Fürsorgewesen; verzögerte Akzeptanz von UNO-Konventionen und europäischen Menschenrechtskonventionen in der Schweiz; zunehmendes kulturelles, ethnisches und nationales Selbstbewusstsein kolonial unterdrückter Nationen, indigener Völker und ausgegrenzter Minderheiten, so auch der Roma, Sinti und Jenischen; Neoliberalismus; Globalisierung und ihre Gegenströmungen).

 

Dies unter Voranstellung der Selbstzeugnisse, Sichtweisen und Selbstbilder der thematisierten Gruppen – aber nicht unter Reduktion auf diese. Es werden auch die Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Definitionsmacht betreffend Selbst- und Fremdbilder der thematisierten Gruppen sowie andere Aspekte der Dialektik von Fremd- und Selbstbildern sowie von Identität und Anerkennung auf den verschiedenen hiezu relevanten gesellschaftlichen Feldern in ihren jeweiligen Phasen analysiert und dargestellt.

 

Die Bedeutung des Projekts liegt in der  Darstellung des Lebens dieser schweizerischen Minderheiten im Wandel ihres sozialen Status: Heraus aus Diffamierung, Vertreibung und  Verfolgung hin zu Anerkennung, Respekt und Gleichberechtigung.

 

Zu vorgängigen Publikationen des Projektleiters und der Projektmitarbeiter zur Thematik:
Vgl. das im Volltext wiedergegebene Projektgesuch auf
www.thata.ch/projektsitenfp51jenischesintiroma.html

 

Für den Forschungsdiskurs von besonderem Belang waren davon folgende Beiträge:

 

Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Herausgegeben von der Radgenossenschaft der Landstrasse. Zürich 1987 / 1990. Fotos: Hans Staub, Gertrud Vogler

 

Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti, Jenische. Zeit des Nationalsozialismus. Forschungstudie der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg. Zürich 2001

 

Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen, Fürsorge, Zwangsmassnahmen, ‚Eugenik’ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich 2002

 

Thomas Huonker: Diagnose 'moralisch defekt'. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1870-1970. Zürich 2003

 

Thomas Huonker / Martin Schuppli: Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003

 

Venanz Nobel: Abfahre, immer nume abfahre. Hördokumentation. Fotos: Gertrud Vogler. Zürich 1984

 

Venanz Nobel: 'Bitte recht freundlich...!' Über 'die Zigeuner', die Fotografie und meinen Zwiespalt. In: Urs Walder (Hg.): Nomaden in der Schweiz. Zürich 1999


 

Projektleiter und Projektmitarbeiter konnten im Projektzeitraum mit folgenden Arbeiten zur Thematik sowie zu angrenzenden Themenkreisen mit interessanten Vergleichsmöglichkeiten zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs beitragen:

 

 

a) Selbstständige Buchpublikationen:

 

1. Stéphane Laederich / Lev Tcherenkov: The Rroma. Otherwise known as Gypsies, Gitanos, Gyptoi, Tsigani, Tigani, Cingene, Zigeuner, Bohémiens, Travellers, Fahrende etc. 2 Bände. Basel 2004

 

2. Thomas Huonker: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Adliswil von 1890 bis 1970. Basel 2006

 

 

b) Beiträge zu Buchpublikationen:

 

3. Thomas Huonker: Bündner 'Kinder der Landstrasse. In: Quellen / Funtaunas / Fonti zur Geschichte des Kantons Graubünden. Chur 2003. p. 313 - 314

 

4. Thomas Huonker: Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Helena Kanyar Becker (Hg.): Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz, Basel 2003, p. 177-179

 

5. Venanz Nobel: Die Jenischen und die Betonjenischen. Ibid., p. 103 -120

 

6. Stéphane Laederich / Lev Tcherenkov: Rromanes and Rroma History, ibid., p. 139 ff.

 

7. Thomas Huonker: Referat an der Tagung Verdingkinder suchen ihre Spur. In: Verein Verdingkinder suchen ihre Spur (Hg.): Bericht zur Tagung ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in Glattbrugg bei Zürich, Zürich 2005,  p. 23 - 28

 

8. Thomas Huonker: Roma, Sinti und Jenische in der Schweiz - ein geschichtlicher Überblick. In: Roma unter uns. Wer sind sie? Woher kommen sie? Wie gehen wir mit ihnen um? Dokumentation der Tagung vom 18. Januar 2006, Offenes Haus La Prairie, Bern 2006, p. 57 - 67

 

9. Stéphane Laederich: Geschichte, Sprache und Kultur der Rroma. Ibid. p. 15 - 29

 

 

c) Beiträge in Zeitschriften:

 

10. Thomas Huonker: "Jusqu'à la ceinture dans le grand marais". Roma, Sinti et Yéniches en Suisse - quelques aspects d'une persécution de longue durée. Dans: Le cartable de Clio, revue romande et tessinoise sur les didactiques de l'histoire, Lausanne, 4 / 2004, p. 130 - 136

 

11. Thomas Huonker: Ein "Hilfswerk" als Mittel zur Beseitigung einer ethnischen Minderheit. In: Vielfalt, Nr. 56 / September 2005, p. 6 - 7

 

12. Venanz Nobel: Im Zweifelsfall Schweizer. Ibid. p. 15

 

13. Thomas Huonker: Die Radgenossenschaft der Landstrasse von 1975 bis 1988. In: Scharotl, Die Zeitung des jenischen Volkes, 30. Jg., Nr. 3 / 2005, p. 7 - 15

 

 

d) Sonstige wissenschaftliche Arbeiten:

 

14. Thomas Huonker: Zur Geschichte fremdplatzierter Kinder in der Schweiz (Kantone

Zürich, Graubünden). In: Geneviève Heller (ed.): Le traitement des orphelins et les placements d'enfants au 20e siècle. Rapport à l'Office fédéral de l'éducation et de la science Berne, Lausanne 2004, p. 1 / 34

 

15. Samuel Hegnauer: Selbstwahrnehmung kulturschaffender Jenischer, Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum seit 1939. Lizentiatsarbeit, Basel 2004

 

16. Thomas Huonker: Une tache sombre. La tentative de détruire une minorité suisse au moyen de l'oeuvre des enfants de la grand-route. Dans: Racisme(s) et citoyenneté. Un outil pour la réflexion et l'action, Genève 2005

 

 

 

3. Research design, theoretical framework, methods and data /

Forschungsdesign, theoretischer Rahmen, Methoden und Daten

 

Das Projekt arbeitet nach den Ansätzen der qualitativen Wissenschaft, wie sie – neben anderen im Gesuch genannten Standardwerken – Uwe Flick et. al. im Handbuch "Qualitative Forschung", Hamburg 2000, konzis darlegen, insbesondere betreffend narrativ-biografische Interviews, Dokumenten- und Aktenanalyse, Darstellung und Ethik qualitativer Forschung. Von den in diesem Handbuch Schreibenden sowie von den darin präsentierten Pionieren qualitativer Forschung hatte der Projektleiter die Ehre, die EthnopsychoanalytikerINNEN Paul Parin, Mario Erdheim und Maya Nadig schon vor über 30 Jahren kennen zu lernen und an ihren Reflexionen über solche Forschungen teilzuhaben, wovon er nicht unbeeinflusst blieb. Es scheint, dass sie als einzige Schweizer Forscher der bisherigen qualitativen Sozialforschung weltweit wesentliche Impulse geben konnten. Einer davon, Paul Parin, hat sich auch explizit zur Verfolgung der Jenischen in der Schweiz geäussert.

 

Neben Inputs durch die genannten Schweizer Vertreter dieser Schule, als deren Hauptvertreter aber auch Georges Devereux zu nennen ist, erwiesen sich vor allem Fragestellungen zu Identität und Anerkennung als zentral für den theoretischen Rahmen unserer Arbeit. Dabei orientiert sich das Projekt an den Diskussionen zwischen George Taylor, Will Kymlicka, Nancy Fraser, Axel Honneth, Jürgen Habermas und anderen, wobei auch Rückblicke auf Denker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Friedrich Engels, Max Weber, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre und weitere von Belang sind. Bei der Struktur- und Diskursanalyse ist das Projekt Denkfiguren von Norbert Elias, Ludwik Fleck, Barrington Moore Michel Foucault und Pierre Bourdieu verpflichtet, bei weiteren grundlegenden Fragen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie unter anderen John Rawls, Richard Rorty und Paul Feyerabend.

 

Bei der Darstellung der Zeitperioden und Zäsuren, welche das Projekt untersucht, werden wenn immer möglich die in den Akten befindlichen Selbstaussagen von Angehörigen der Gruppen, deren Integration und Ausgrenzung das Projekt untersucht, ins Zentrum gerückt.

 

Dies geschieht für den Zeitraum von 1825 bis 1890 durch Auswertung von Aussagen und Briefen der um 1825 in Glarus, Luzern und Zürich zwecks Anpassung an die Normen der Mehrheit inhaftierten und / oder von ihren Familien getrennten Minderheitsangehörigen sowie durch Auswertung der von der Bundesanwaltschaft ab 1851 zwecks Ermittlung ihrer Herkunft durchgeführten Einvernahmen zahlreicher weiterer Angehöriger dieser Gruppen, für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert durch Auswertung von Beschwerdebriefen und in Institutionen verfassten Lebensläufen sowie Einvernahmeprotokollen verschiedener Instanzen. Für die Zeit von 1926 bis 1973 und später finden sich in den Akten zum "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" sowie in Aktenbeständen lokaler Vormundschaftsbehörden Selbstzeugnisse Betroffener, auch reicht die Erinnerung der ältesten Interviewten bis ca. 1925 zurück. Die Sicht der Jenischen in der Zeit um 1970 dokumentieren die Artikel von Hans Caprez im Schweizerischen Beobachter, welche aufgrund von Gesprächen mit Betroffenen entstanden. In kritischen Medien sowie ab 1975 in den Publikationen und Briefen der Radgenossenschaft der Landstrasse und ihrer Vorläuferorganisationen finden sich viele Selbstzeugnisse schweizerischer Jenischer. Ab den 1980er Jahren, vor allem  ab 1986, dem Jahr der Entschuldigung von Bundespräsident Alfons Egli betreffend die Verfolgung der Jenischen in der Schweiz, begannen weitere AutorINNen, darunter der Projektmitarbeiter Venanz Nobel und der Projektleiter, Jenische, Sinti und Roma aufgrund von Selbstaussagen in Interviews darzustellen statt aufgrund der Wiedergabe diffamierender Aussagen über diese Minderheiten seitens von Wissenschaftern wie Josef Jörger, Robert Ritter, Rudolf Waltisbühl, Hercli Bertogg, Walter Haesler, Hermann Arnold und andere. Wichtig für diesen Wandel waren auch die Schriften von Sergius Golowin und Alfred A. Häsler.

 

Als internationaler Repräsentant der Roma agierte Dr. Jan Cibula ab 1968 in der Schweiz. Von ihm sind zahlreiche Aufrufe und Briefe im Bundesarchiv sowie in seinem eigenen Archiv überliefert. Auch die autobiografischen Bücher von jenischen Autorinnen und Autoren wie Albert Minder, Mariella Mehr, Jeannette Nussbaumer, Graziella Wenger und Paul Moser sind wichtige Selbstzeugnisse. Mehrere unserer Interviews liefern authentische Aussagen von Sinti, die in der Schweiz leben, von denen bislang kaum publizierte schriftliche Selbstzeugnisse vorliegen.

 

Um diese Selbstzeugnisse, soweit sie nicht das Projekt durch die Interviews selber generiert, aufzufinden, und um sie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld und aus den jeweiligen politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen, publizistischen etc. Macht-Konstellationen heraus zu verstehen, zu analysieren und darzustellen, war es methodisch unabdingbar, wie im Projektgesuch vorgesehen, auch breit gefächerte Archiv- und Bibliotheksstudien durchzuführen; die gegenteiligen Empfehlungen der Leitungsgruppe nach Einschränkung der Archivstudien zu befolgen wäre auch wegen dem gleichzeitigen Wunsch der Leitungsgruppe, Selbstzeugnisse in den Vordergrund zu rücken, verfehlt gewesen.

 

 

 

4. Results / Ergebnisse

 

4.1.    Main results / Hauptergebnisse

 

Das Projekt "Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung. Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute" bringt eine vertiefende und teilweise neue Sicht auf die Zusammenhänge, Kontinuitäten und Brüche zwischen den Tendenzen zu Ausschluss, Ausgrenzung, Vertreibung, ja Ausrottung und Zerstörung der untersuchten Gruppen in der Schweiz, an ihren Grenzen und im auf die Schweiz bezogenen internationalen Rahmen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite bringt es eine aus wissenschaftlicher Warte bislang nur in Ansätzen unternommene Darstellung aus den Perspektiven einzelner Gruppenangehöriger heraus. Die Selbstzeugnisse thematisieren die unternommenen Anstrengungen, sich einerseits gegen die Verfolgungsmassnahmen zu wehren respektive diese zu überleben. Weiter thematisieren sie die Anstrengungen, die es seitens der Gruppenangehörigen brauchte (und braucht) auf dem mühevollen und keineswegs vollständig zurückgelegten Weg vom radikalen Ausschluss dieser Gruppen hin zur Integration. Dieser Weg soll aus jahrhundertealten Verfolgungssituationen heraus in einen sozialen Status der Anerkennung, der Gleichberechtigung und der Respektierung führen. Gleichzeitig und auf jeder Etappe dieses Weges müssen die inzwischen erreichten sozialen Errungenschaften verteidigt werden gegen stets neue respektive fortdauernde alte Tendenzen des Ausschlusses, der Ausgrenzung, des Übergehens, der Missachtung, der negativen Stereotypisierung, der Diskriminierung und Vertreibung dieser Minderheiten seitens mächtigerer Mehrheitskräfte oder -koalitionen.

 

Der Untersuchungszeitraum mit Beginn um 1800 ist so gewählt, dass er den 1798 erfolgenden Bruch gegenüber den politischen Haltungen, rechtlichen Normen und sozialen Mustern der frühen Neuzeit und des Ancien Régime noch thematisiert; auch ist erst seit diesem Zeitraum das Staatsgebiet der Schweiz in der heutigen Ausdehnung grosso modo festgelegt. Charakteristisch für die im ersten Anlauf zwar meist rasch scheiternden, aber in der weiteren Geschichte langfristig nachwirkenden und schliesslich weitgehend auch nachgeholten revolutionär-liberalen Vorgaben der Helvetik (1798 bis 1803) war, dass sie radikal proklamiert, aber nicht tiefenwirksam ungesetzt wurden.

 

Der Versuch der Einführung eines Zentralstaates muss in der Schweiz, über 200 Jahre später, wohl als definitiv gescheitert angesehen werden. Unübersehbar ist aber auch, dass insbesondere seit der freisinnigen Revolution von 1848 der Schweizer Bundesstaat, ohne die föderale Struktur und die kantonalen Befugnisse definitiv aufzuheben, gegenüber diesen älteren staatlichen Kräften einen stets wachsenden Einfluss- und Tätigkeitsbereich abdeckt.

 

Ebenso gibt es auch heute noch keine schweizerische Staatsbürgerschaft, welche national geregelt wäre, wenn sich auch der Bund gerade auch in Bezug auf die unter den Begriff "Vaganten" Subsumierten  gegen einzelne Kantone und Gemeinden durchzusetzen vermochte und dies auch in anderen Fragen (Frauenstimmrecht, Einbürgerungsprozedere) vermag. In den Selbstzeugnissen der thematisierten Gruppen werden die Bürgerrechtsfrage und die Haltungen der verschiedenen Instanzen häufig angesprochen, in vielen Quellen stehen sie im Zentrum.

 

Dasselbe gilt bei der Steuerfrage, die nach wie vor, trotz Bundes- und Mehrwertsteuer, zu einem grossen Teil kantonal und kommunal geregelt ist, und zwar sehr unterschiedlich und disharmonisch. Auch in der Frage nach der Steuerhoheit in den Auseinandersetzungen zwischen lokalen Mächten und der Berner Zentralmacht lässt sich, wie bei der Bürgerrechtsfrage, ein Aspekt an der Entwicklung der Lage der Fahrenden exemplifizieren, nämlich  der Wandel in der Sonderbesteuerung der Wandergewerbe durch kommunale, auf Bezirksebene erfolgende, kantonale sowie  landesweite Regelung, wobei letztere erst im Jahr 2000 erreicht wurde. In Selbstzeugnissen der thematisierten Gruppen wird die Frage der Regelung der Wandergewerbe durch die Sondersteuerform der sogenannten "Patente" häufig angesprochen.

 

Eine andere Linie, die gerade auch unter spezieller Berücksichtigung der "Vaganten" bis auf den radikalen sozialen Wandel um 1800 und seine Vorgeschichte hin zurückverfolgt werden kann, ist die Frage der Praktizierung respektive Abschaffung von Folter, Körperstrafen und Todesstrafe. Diese Auseinandersetzungen zogen sich unterschiedlich lange hin, am längsten in der Frage der Todesstrafe (bis 1942) und der Körperstrafen, die in vielen Institutionen gerade auch gemäss Selbstzeugnissen Betroffener noch länger praktiziert wurde. Demgegenüber war die Frage der Folter als Teil des Rechtssystems zwar mit dem Beschluss vom 12. Mai 1798, die Tortur aufzuheben, nicht ganz vom Tisch. Denn Elemente der Folter wurden in der Restauration wieder eingeführt. Schliesslich wurde die Folter als Gerichtstechnik aber doch schon im Lauf des 19. Jahrhunderts definitiv verpönt und dies blieb seither so –  auch wenn der Beitritt zur Schweiz zur Antifolterkonvention durch den aktuellen Justizminister verzögert wird. In Selbstzeugnissen aus den thematisierten Gruppen werden die Körperstrafen bis in die jüngere Vergangenheit häufig angesprochen, ebenso Folter und Todesstrafe in den älteren Selbstzeugnissen.

 

Um das Jahr 1800 wurden auch die ersten so bezeichneten Polizei - oder Landjägerkorps unter kantonaler Hoheit gegründet, welche die früheren Stadt- und Dorfwächter, Harschiere oder Patrouilleurs und die periodischen überregionalen Betteljagden als permanente und flächendeckende Überwachungsorganisationen ablösten. Interaktionen mit der Polizei werden in den Selbstzeugnissen der Mitglieder der thematisierten Gruppen oft angesprochen, im 20. Jahrhundert auch mit den erst damals entstehenden bundespolizeilichen, insbesondere fremdenpolizeilichen Instanzen.

 

Die Helvetik vollzog auch einen Systemwechsel bezüglich der bürokratischen Identifikation und Erfassung der obrigkeitlich Gesuchten und Verdächtigten. Im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert waren die unerwünschten "Landstreicher" und "Jauner", samt ihren Familien, in den sogenannten "Gaunerlisten" erfasst worden, von denen es im Basler Staatsarchiv eine umfangreiche Sammlung gibt. Solche Listen wurden auch von den Kanzleien der anderen alteidgenössischen Orte hergestellt, nachgeführt und gesammelt. Diese  Listen waren Produkte der Verhöre Gefangener unter Androhung oder Anwendung von Folter. Wer viele Mitmenschen aus seinem Umfeld "angab", konnte auf Milderungen im Verfahren hoffen. Nach Abschaffung der Folter begnügten sich die neugeformten Justiz- und Polizeiinstanzen der Helvetik mit Einzelsignalements einzelner Personen. Oft waren es Menschen, die aus dem "Schellenwerk" (einem System der Zwangsarbeit für Verurteilte) entwichen waren, oder Deserteure aus Truppen schweizerischer Söldnerführer im Ausland. Nach 1815, bis ins Jahr 1844, erstellten einige kantonale Instanzen wieder ganze Sippen umfassende Listen verdächtigter "Vaganten", die sie aber nicht mehr "Gaunerlisten", sondern z.B. "Aktenbericht" nannten. Sowohl in den "Gaunerlisten" des späten 18. Jahrhunderts wie in einem "Aktenbericht" aus dem Jahr 1844 finden sich Glossare oder andere Hinweise auf die Sprache der Registrierten, wobei genau zwischen "jenisch" oder "kochem" einerseits und der "Zigeunersprache", womit Romanes gemeint war, unterschieden wurde.

 

In den Phasen der Mediation (1803 bis 1815), Restauration (1815 bis 1830)  und Rege-neration (1830 bis 1848) treten weitere Themenkreise in den Untersuchungsfokus, die ebenfalls –  nebst ihrer Vorgeschichte – noch eine lange Nachgeschichte in späteren Phasen haben.

 

Erstens ist dies die ökonomische und rechtliche  Lage der "Vaganten", das heisst in den meisten Fällen deren Armut, verschärft durch in diese Zeit fallende generelle Hungerkrisen (um 1817, 1844 bis 1848), sowie Erwerbsweisen wie Bettel, Mundraub, Diebstahl oder Raub, deren Praxis in engem Zusammenhang mit der Armut steht. Diese Delikte sind nicht nur nach Schwere zu unterscheiden –  was die damalige Justiz weniger tat, da sie auch kleinere Diebstähle gerade der untersuchten Personengruppen schwer ahndete, bis hin zur Todesstrafe. Schritte von der Armut in die Kriminalität sind ferner zu unterscheiden von der Kriminalisierung des "Vagantentums" schlechthin durch das Verbot von Lebensformen wie uneheliches Zusammenleben, uneheliche Geburt, papierlose Anwesenheit, Übertretung von Aufenthalts- und Berufsverboten. Fragen von Armut und Existenznot, Legalität und Illegalität, Bestrafung und Flucht werden in Selbstzeugnissen aus diesen Gruppen oft thematisiert.

 

Zweitens bezweckten neuartige malthusianisch-polizeilich-fürsorgerische Bestrebungen wohlhabender, sich als gemeinnützig deklarierender bürgerlicher Kreise, deren zunehmend bessere wirtschaftliche und soziale Stellung vor weitergehendem revolutionärem Umsturz durch die "gefährlichen Klassen" der Unterschicht und der intensiv gefühlten Bedrohung durch die "zügellosen" Aspekte des sogenannten "Pauperismus" zu schützen. Diese Bestrebungen verschmolzen mit Aktivitäten aus im Kern idealistischen Vorhaben, die aber keineswegs von ausgrenzenden Ideologemen frei waren, wie sie oft aus individuellen Anläufen modernistischer Patrizier heraus wirksam wurden (Pestalozzi, von Fellenberg). Beides mündete im ganzen 19. Jahrhundert, dem "Jahrhundert der Anstalten", in eine grosse Zahl von oft privaten oder konfessionellen "Rettungsanstalten" für Kinder, Jugendliche und junge Frauen sowie von Zwangsarbeitsanstalten für Erwachsene (wobei die Alters- und Geschlechteraufteilung nicht immer konsequent gehandhabt wurde).

Dass in den Gebieten beider Konfessionen meist auch kirchliche Instanzen in diese Anstaltserrichtungen wie auch in deren Betrieb involviert waren, wird etwa dadurch illustriert, dass der Bischof von Chur sein Anwesen in Fürstenau für die erste Bündner Zwangsarbeitsanstalt zur Verfügung stellte. Ebenso gab es vielerorts einen Um- und Ausbau von Armenhäusern im Sinne eines Wandels von halb zerfallenen, unbetreuten Notwohnungen hin zu (oft von Ordensschwestern) betreuten Armenhäusern mit strengem Reglement. Der forcierte Anstaltsaufbau änderte aber nichts daran, dass der Grossteil armer Kinder weiterhin als Kostkinder, Schwabenkinder, Verdingkinder oder Fabrikkinderarbeiter in privaten Konstellationen des Elends ihr Leben fristeten und dass die Grosszahl der Armen, auch der nicht sesshaften Armen, ein Leben in mehr oder weniger autonomer Armut ausserhalb von Anstalten führte, wobei es Zwischenformen zwischen Anstalt und Fabrik gab, etwa in Form von Fabrikkosthäusern für in Fabriken Arbeitende, während die nicht Sesshaften in der Regel ein Leben der Armut in eigener Regie bevorzugten und dabei durchaus, wenn ihre Wandergewerbe bei guter Konjunktur florierten, wenigstens an einigen Festtagen im Jahr auch in Saus und Braus leben konnten.

 

Drittens fällt auch die erste organisierte Wegnahme und Fremdplatzierung von Kindern nicht Sesshafter in der Schweiz mit organisatorischem Schwerpunkt in Luzern und Zürich in diese Zeit. Die Eltern dieser Kinder wurden 1825 inhaftiert, zuerst in Glarus und Luzern, später wurden sie nach Zürich verlegt. An Quellen liegen dazu umfangreiche Akten, Protokolle, ein zeitgenössisches Buch und Jahresberichte der involvierten Organisationen vor. Darin und in Briefen von Betroffenen sind auch Selbstaussagen überliefert.

 

Nachdem die Bürgerrechtsfrage unter der Restauration kurzfristig ausser Traktanden fiel, zeigte sich ab 1819, dass eine Aufnahme der von der Helvetik vorübergehend zu Staatsbürgern Gemachten, ja sogar sämtlicher Hintersassen, Konvertiten, Falliten, Verbannten etc. ins Schweizer Bürgerrecht längerfristig nicht zu umgehen war. Schon in dieser Phase wurde eine grosse Zahl früher Heimat- und Bürgerrechtsloser in von Kanton zu Kanton verschiedenen Verfahren und oft gegen Zahlung erklecklicher Summen eingebürgert, während aber nach wie vor eine ebenfalls grosse Zahl von Schweizern weiterhin heimatlos, rechtlos und papierlos zu leben hatte.

Gerade auch bekannte jenische Familien, jedoch kaum Sinti und Roma, wurden in dieser Zeit zwischen 1819 und 1848, also vor den Zwangseinbürgerungen im späteren Bundes-staat ab 1851, zu Bürgern ihrer Heimatgemeinden. Sie wurden dabei, vor allem in Bezug auf den Anteil am Gemeindebesitz und die Wohnmöglichkeiten, in verschiedenen Gemeinden verschiedener Regionen der West-, Nord-, Ost- und Südschweiz sehr verschieden behandelt. Von 1819 bis 1848 ist die Einbürgerung der "Heimatlosen" insgesamt sowie der "Vaganten" im Speziellen ein stetes Thema der Tagsatzung, der damaligen obersten Instanz der Schweiz. Die Frage des Zeitpunkts und der Art der Einbürgerung wird auch in Selbstzeugnissen der Betroffenen häufig thematisiert.

 

Neben der Zwangsintegration durch Anstaltsinternierung und Zwangsarbeit und der politischen Integration durch Einbürgerung debattierten und praktizierten kantonale und private Instanzen sowie die Tagsatzung auch die Frage des Ausschlusses durch Auswanderung, forcierte Auswanderung oder Deportation. Dazu liegen wenig Selbstzeugnisse vor. Es wäre aber ein interessantes (und aufwändiges) Spezialprojekt, solche gezielt zu suchen, etwa in der Überlieferung der Nachkommen von nach Übersee verbrachten sogenannten "Vaganten". 

 

Mit der je nach Kanton sehr verschieden intensiv betriebenen Einführung der Volksschule wurde in dieser Zeit (zwischen 1803 - 1848) auch das Thema Fahrende und Schulbildung zum Dauerbrenner und blieb es unter verschiedenen Auspizien bis heute. Auch diese Problematik wird in Selbstzeugnissen von Angehörigen der thematisierten Gruppen oft angesprochen.

 

In die Zeit von 1848 bis 1888 fiel einerseits die Fortsetzung des oben skizzierten Ausbaus von Anstalten aller Art, wobei ein erster Schub Richtung Verstaatlichung und Professionalisierung des Anstaltswesens zu konstatieren ist. Neu ist in dieser Phase ein längerfristiger und folgenreicher Umschwung in behördlichen Haltungen gegenüber den "Vaganten" wie auch gegenüber auswärtigen Schaustellern, Bärenführern und Wandergewerblern, zunehmend auch aus den Gruppen der Sinti und Roma stammend. Ihnen gegenüber wurde die vorher jahrhundertelang betriebene Politik –  Abwehr an der Grenze und Vertreibung aus den inneren Gebieten der Schweiz –  im Zeichen der liberalen Freiheit des Personenverkehrs erstmals in der Geschichte der Schweiz seit 1471 kurz gelockert. Wir fanden aus dieser nur 30 Jahre dauernden liberalen Phase ebenfalls Selbstzeugnisse von Angehörigen der thematisierten Gruppen.

 

Um und nach 1888 brachten die Kantonsregierungen, angeführt von denen der Grenzkantone, die Berner Bundesregierung von ihrer liberalen Auffassung ab, auch Roma, Sinti und Jenischen aus dem Ausland stehe, wie anderen Menschen, das Recht zu, mit gültigen Papieren und gegen Bezahlung der entsprechenden Gebühren für Verkehrsmittel oder unter Benutzung eigener Pferde, Wagen etc. in der und durch die Schweiz zu reisen. Ab 1888 wurden die "Zigeuner" in der Schweiz behördlicherseits wieder als "Gefahr", die in "Banden" und "Horden" auftrete und eine "Plage" sei, diffamiert und vertrieben.

 

Immerhin hielt die Bundesregierung, vor allem in der Gestalt des Beamten der Bundesanwaltschaft Trachsler, der in der Regel auf die Unterstützung seiner vorgesetzten Bundesräte und auch des Bundesgerichts zählen konnte, an der 1850 per "Gesetz die Heimatlosigkeit betreffend" beschlossenen Einbürgerung nach wie vor Heimatloser fest. Bürgerrechtslos verblieben waren vor allem heimatlose "Vaganten" sowie einige sozial und ökonomisch ausgegrenzte oder aufgrund speziell komplexer kommunaler Bürger-(un)rechtsformen diskriminierte sesshafte Gruppen, hinzu kamen Einzelfälle von Papier- und Staatenlosen aus diversen Ländern. Bis um 1920 wurden solche Fälle aufgrund di4ses Gesetzes, das später nicht mehr angewendet wurde, zu Schweizern. Es wäre ein Leichtes, mittels Reaktivierung dieses Gesetzes die heutigen Papierlosen in der Schweiz zu regularisieren.

 

Der Bundesbeamte Trachsler hatte eine doppelte Aufgabe. Einerseits musste er in seinen ausführlich protokollierten Einvernahmen die Familiengeschichte der "Vaganten" rekon-struieren. Das  war für ihn nicht einfach angesichts des Umstands, dass diese Familien ja illegal waren. Denn Bürgerrechtslose durften nicht heiraten. Hinzu kam, dass sich die befragten Illegalen erst damit vertraut machen mussten, dass ein Beamter sie nicht, wie vorher üblich, als Papierlose bestrafen und vertreiben, sondern sie mit gültigen Papieren versehen wollte. Sie zeigten sich zunächst misstrauisch und äusserten sich vorsichtig. Zu beachten ist dabei, dass Trachsler sich die zu Befragenden oft polizeilich ins Berner Gefängnis zuführen liess oder sie bei seinen Reisen in andere Landesteile, wo er Kirchenregister und andere Akten durchstöberte, andernorts im Gefängnis aufsuchte, um ihre Aussagen zu protokollieren.

 

War Trachsler zum Schluss gekommen, ein "Vagant", eine "Vagantin" oder ihre Kinder hätten ein unbestrittenes oder zumindest durchsetzbares Anrecht auf ein ausländisches Bürgerrecht, so war er dabei behilflich, die entsprechenden Papiere zu beschaffen.

Anschliessend betrieb er die Ausschaffung des nunmehr nicht mehr "Heimatlosen" in jenes Land, in etlichen Fällen unter Auflösung seiner Familie, nämlich falls der nach behördlicher Logik unverheiratete Partner oder die Partnerin, deswegen "Beihälter" oder "Beihälterin" genannt, nicht Anspruch auf dasselbe Bürgerrecht machen konnte, sondern gemäss Trachsels Forschungen schweizerischer Herkunft war oder Bezüge zu einem weiteren Land hatte.

Kam Trachsler bei beiden Partnern zum Schluss, sie seien schweizerischer Herkunft, so war er bemüht, ihnen ein schweizerisches Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht zu verschaffen –  ein davon unabhängiges Schweizer Bürgerrecht gab es ja nur kurz unter der Helvetik.

 

Grössere Familien wurden bürgerrechtlich auf verschiedene Gemeinden verteilt. Während der Einbürgerungsprozedur hatten die Untersuchten Anrecht auf Aufenthalt in der Schweiz. Doch die Prozedur konnte sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen, da viele Kantons- und Gemeindeinstanzen keine Kosten scheuten, um solche Einbürgerungen, die aus ihrer Sicht Zwangseinbürgerungen unerwünschter Aussenseiter waren, bis hinauf vor Bundesgericht anzufechten, wenn sie die unerwünschten Landsleute nicht vorher zur Auswanderung drängen konnten.

 

Die überwiegend von Trachsler gesammelten und verfassten Akten liegen, zu dicken Familienbüchern zusammengebunden, im Bundesarchiv. Im Lauf dieser Identifikations- und Regularisierungsverfahren entstanden auch die mittlerweile bekannt gewordenen Fotografien und Lithografien der "Vaganten" in der Schweiz, die Carl Durheim erstellte. Einige Kantone führten zusätzliche  "Vagantenalben" in eigener Regie.

 

 

Den von Trachsler zwar nicht wörtlich oder im Dialekt, aber hochdeutsch ziemlich detailliert transkribierten Vernehmungen lassen sich viele Selbstaussagen der damaligen Fahrenden entnehmen, während die Meinungen der behördlichen Instanzen, die sich erbittert befehdeten – gelegentlich musste Trachsler einbürgerungsunwillige Gemeinde- und Kantonsinstanzen der Lüge überführen –  in den Originalschriftsätzen direkt vorliegen. Es finden sich auch einige eigenhändige Schreiben von "Vaganten" in den Akten. Bei diesen Einbürgerungen wurden vor allem Angehörige der jenischen Gruppe berücksichtigt. Einige wenige eingebürgerte Familien haben Bezüge zur Gruppe der Sinti oder Roma.

 

Gegenüber aus dem Ausland einreisenden Roma, Sinti und Jenischen, die weder Schweizer Bürger waren noch im Einbürgerungsverfahren standen, erneuerten zunächst –  per Konkordat – die Grenzkantone ab 1888  die alte Politik genereller Abweisung. Nach dem Umschwenken des Bundes auf diese Linie wurde sie noch verschärft. 1906 erliess der Bund ein Gesetz, das "Zigeunern" die Benutzung  schweizerischer Eisenbahnen und Dampfschiffe verbot, es sei denn, Angehörige der unter diesem Begriff subsumierten Gruppen würden mittels dieser Transportmittel unter polizeilicher Bewachung ausgeschafft. Es wurden wissenschaftliche und juristische Expertisen von Universitätsprofessoren bestellt und abgeliefert, wie der Begriff "Zigeuner" zu definieren sei, aufgrund welcher Verfassungsbestimmung die generelle Ab- und Ausweisung der Angehörigen von unter diesem Begriff subsumierten Volksgruppen zu begründen sei und welche Instanzen sie auszuführen hätten. Der Leiter der Innerpolitischen Abteilung im EPD, Eduard Leupold, machte eine Studienreise an die polizeiliche Münchner "Zigeunerzentrale" unter Alfred Dillmann, dem Verfasser des "Zigeunerbuchs", und versuchte anschliessend vergeblich, eine internationale Konferenz zwecks gemeinsamer "Lösung" des "Zigeunerproblems" zu organisieren. Daraufhin entwickelte Leupold, in engem Kontakt mit dem Luzerner Polizeidirektor Heinrich Walther, ein spezielles Verfahren.

 

Leupolds Verfahren sah vor, "Zigeuner" an der Grenze abzuweisen; "Zigeuner", welchen es trotzdem gelang, einzureisen, polizeilich aufzugreifen; die Familien zu trennen und Erwachsene sowie Jugendliche mit Foto und Fingerabdrücken in einem speziellen "Zigeunerregister" zu registrieren. Die Frauen und Kinder wurden in Heime der Caritas oder der Heilsarmee überführt, die Männer in die Strafanstalt Witzwil BE, bei schlechter Führung in die Strafanstalt Thorberg BE. Bei der Registrierung, die meist doppelt sowohl in einem kantonalen Polizeiregister sowie im nationalen "Zigeunerregister" erfolgte, konnten sich die Behörden genügend Zeit nehmen, um die Angaben der zu Registrierenden mit den Angaben in Dillmanns "Zigeunerbuch" oder per briefliche Anfrage mit den aktuellsten Daten der Münchner "Zigeunerzentrale" abzugleichen. Diese polizeiliche "Identifikationshaft" – die Betroffenen wurden ja nicht wegen einer Rechtsverletzung einem rechtlichen Verfahren unterstellt, sondern wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit einem erkennungsdienstlichen Spezialverfahren unterzogen – , konnte mehrere Monate dauern. Periodisch wurden die auseinander gerissenen Familien von ihren jeweiligen unterschiedlichen Internierungsorten her an Grenzübergänge transportiert oder geleitet, dort zusammengeführt und illegal, ohne Absprache mit den Nachbarstaaten, über die Grenze geschafft; dies auch während des ersten Weltkriegs. Leupolds Verfahren der Inhaftierung, Familientrennung und Registrierung, das sich rasch unter Europas reisenden Sinti, Jenischen und Roma herumsprach, führte dazu, dass Angehörige dieser Gruppen nur noch in sehr geringer Zahl in die Schweiz einreisten; diesen Abschreckungseffekt hatte Leupold bewusst einkalkuliert.

Einige Sinti-Kinder, welche sich bei der Verhaftung ihrer Familie vorerst irgendwo hatten verstecken können, oder deren Eltern vor der polizeilichen Festnahme geflohen waren, in der Hoffnung, ihre Angehörigen in absehbarer Zeit wieder auffinden zu können, wurden im Zug der Praktizierung von Leupolds Verfahren definitiv von ihren Familien getrennt.

 

Eines dieser isolierten Kinder durchlief nach seiner Einquartierung in ein Heilsarmeeheim zu Beginn der 1920er Jahre diverse Anstalten, wo es sich widerspenstig zeigte und psychische Störungen erlitt. Als Erwachsener wurde der Betreffende 1935 aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens kastriert. Der kastrierte Sinto verblieb bis zu seinem Tod im Jahr 1972, getrennt von seiner Familie, in diversen Schweizer Anstalten. In einigen Akten werden seine Aussagen wiedergeben.

 

Bei einigen wenigen Familien von Sinti mit verwandtschaftlichen Bezügen zu deutschen, italienischen, französischen und belgischen Sinti, die illegal in die Schweiz eingereist waren, scheiterten in den 1920er und 1930er Jahren alle Versuche, sie in Nachbarstaaten abzuschieben, weil diese sie, gelegentlich unter Schussabgabe, wieder zurück in die Schweiz jagten. Der Aufenthalt dieser Familien wurde schliesslich in der Schweiz behördlich toleriert, sie erhielten auch Hausierpatente, wurden aber erst in den 1990er Jahren eingebürgert. Von Mitgliedern dieser Familien liegen Selbstzeugnisse in Form von Briefen und Interviews vor.

 

Einigen wenigen Familiengruppen osteuropäischer Roma gelang es zwischen 1888 und 1939, kurz Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen und ihre Gewerbe auszuüben, doch wurden sie recht schnell ausgewiesen, so eine aus Rumänen stammende Gruppe 1912 nach Frankreich, eine aus Griechenland eingereiste Gruppe 1934 dorthin; die Polizeiabteilung Heinrich Rothmunds organisierte den Eisenbahn- und Dampfschifftransport nach Piräus. Einige Aussagen von Mitgliedern dieser Familien wurden protokolliert.

 

Sinti, Roma und Jenische, die sich als Flüchtlinge vor Hitlers Holocaust in die Schweiz retten wollten, wurden im allgemeinen an der Grenze zurückgewiesen. Noch im September 1944 wurde der junge Sinto Anton Reinhardt, der nach seiner Einweisung ins Spital Waldshut, wo er zwangssterilisiert werden sollte, über den Rhein in die Schweiz geschwommen war, in Hitlers Machtbereich zurückverbracht. Im April 1945 wurde der Siebzehnjährige von der SS erschossen. Anton Reinhardt hinterliess protokollierte und schriftliche Selbstzeugnisse.

 

Wir bemühten uns mit Erfolg, mittels einer aufwändigen Aktendurchsicht anhand anderer Flüchtlingsfälle weitere, bisher unbekannte Fallgeschichten von fliehenden Sinti, Roma und Jenischen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Selbstzeugnisse  aufzuarbeiten.

 

Die Armen-, Fürsorge- oder Waisenbehörden der Gemeinden, in welchen die Mitglieder der "Vaganten- und Korberfamilien" eingebürgert worden waren, bezeichneten sie noch bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts in der alten, negativ belasteten Terminologie als "Vaganten" und unterzogen die neuen Mitbürger einem Spezialregime mit häufiger Anstaltseinweisung, Kindswegnahme, im 20. Jahrhundert auch mit Sterilisation und Kastration, was vielfach bis heute in den Schicksalen der Betroffenen nachwirkt. Dies betrifft insbesondere die Kantone Schwyz und Unterwalden. In anderen Kantonen (Bern, Freiburg, Waadt und weitere) wurden Kinder aus "Korberfamilien" im Rahmen kantonaler Fürsorgeroutinen in Heime und als Verdingkinder fremdplatziert. In Graubünden, dem Tessin und in einer St. Galler Gemeinde arbeiteten die Behörden besonders eng mit dem 1926 gegründeten, vom Bund 1930 bis 1967 subventionierten "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute unter dem vorbestraften Pädophilen Dr. Alfred Siegfried zusammen. Das Wirken des „Hilfswerks“ –  auch Siegfrieds Nachfolger Dr. Peter Döbeli vergriff sich an Schutzbefohlenen und wurde in den letzten Jahren dieser Organisation durch die Ordensschwester Clara Reust ersetzt – kam erst nach der Artikelserie von Hans Caprez im schweizerischen Beobachter an sein Ende. Die genannten Behörden blieben zwar auch in eigener Regie aktiv, übergaben jedoch viele jenische Kinder dem "Hilfswerk" und begnügten sich mit teilweise pauschal, vorgängig oder lange nach der Tat gelieferten Absegnungen auch von dessen schärfsten Massnahmen gegenüber den Betroffenen, so etwa dutzendfache traumatisierende Umplatzierung mit mehrmaliger, zum Teil mehrjährigerEinweisung in Strafanstalten wie Bellechasse, dies bei geringstem Widerstand gegen Siegfrieds vormundschaftliche Anordnungen und ohne Gerichtsverfahren. Viele jenische Mündel des „Hilfswerks“ oder kantonaler und kommunaler Vormundschaften verblieben lebenslänglich in Straf- und Zwangsarbeits- oder psychiatrischen Anstalten. In einigen Fällen gelang es Betroffenen und ihren nicht immer sehr entschlossen agierenden Rechtsvertretern, von Siegfried erwirkte Massnahmen erfolgreich anzufechten. In solchen Zusammenhängen erscheinen speziell viele Selbstzeugnisse in den Akten.

In einigen Kantonen, vor allem auch im Kanton Solothurn, waren die jeweiligen kantonalen "Seraphischen Liebeswerke" bei Fremdplatzierung und Adoptionsvermittlung jenischer (und anderer) Kinder aktiv. Auch das „Hilfswerk“ Siegfrieds und seiner Nachfolger wies seine Zöglinge gerne zwecks Durchführung von Tests und Abklärungen (die meist „Schwachsinn“ ergaben) in die Beobachtungsheime des seraphischen Liebeswerks ein. In den restlichen Kantonen kam es zu Kooperationen zwischen einzelnen behördlichen Instanzen und der Pro Juventute, vielfach auch zu Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit.

Je besser organisiert die staatlichen Instanzen der Jugendfürsorge waren, was vor allem für grössere Städte zutraf, desto eher verblieben die Zuständigkeiten bei den Behörden, was aber die Zusammenarbeit mit dem „Hilfswerk“ keineswegs ausschloss.

Die grossen Aktenbestände um das "Hilfswerk" sind im Projektverlauf speziell im Hinblick auf Selbstzeugnisse im Lauf unserer Projektarbeit gründlich untersucht worden.

 

Seit 1913 gibt es die schweizerische Zigeunermission, welche bis in die 1980er Jahre von Angehörigen der Mehrheitsethnien geleitet wurde, also von "Gadsche" aus der Sicht der missionierten Gruppen. In Publikationen dieser Organisation finden sich gelegentlich Selbstzeugnisse von Gruppenangehörigen. Es gelang der Organisation in den 1950er Jahren manchmal, Roma, Sinti oder Traveller aus dem Ausland auf behördlich bewilligte Einladung hin mit polizeilicher Ausreisegenehmigung kurz in die Schweiz einreisen zu lassen.

 

Bis 1972 existieren umfangreiche Aktenbestände über die Vertreibung von Sinti und Roma aufgrund der grenzpolizeilichen Wegweisungsrichtlinien. Auch in diesen Aktenbeständen fanden wir Selbstzeugnisse.

 

Autonome Organisationen von Roma in der Schweiz entstanden erst in den späten 1990er Jahren, eine spezifische Organisation der Sinti in der Schweiz gibt es heute noch nicht. Erste Organisationen mit vorwiegend jenischen Mitgliedern konnten erst nach der Auflösung des "Hilfswerks" um 1973 entstehen.

 

Die Organisation von Lieselotte Müller geb. Roos, die sich Zory Lovari nannte und sich als von Nicht-Roma auf krummen Wegen adoptierte Angehörige der Gruppe der Lovara verstand (wobei ihr diese Zugehörigkeit von Anderen teilweise bestätigt, aber meist abgesprochen wurde), sah sich schon von ihren Namen her (Pro Tzigania) einerseits als Vertreterin aller "zigeunerischen" Gruppen, andererseits als Antipode zur Pro Juventute. Von der unerschrockenen Einzelkämpferin sind viele Selbstzeugnisse überliefert. Es gelangen ihr auch erfolgreiche Auftritte auf der medialen, politischen und institutionellen Ebene, vor allem in den 1970er Jahren.

 

Der Jenische Schutzbund ist eine Vorläuferorganisation der Radgenossenschaft der Landstrasse, die 1975 unter hauptsächlicher Aktivität der ehemaligen „Hilfswerk“- Mündel Mariella Mehr und Robert Waser gegründet wurde und seit 1985 unter dem Präsidium von Robert Huber wirkt. Die Radgenossenschaft generierte viele Selbstzeugnisse vor allem von Jenischen, aber auch von Roma und Sinti, in Gestalt von Briefen, Medieninterviews sowie Artikeln in der seit 1975 unter dem Titel Scharotl (das ist das jenische Wort für Wohnwagen) erscheinenden Zeitschrift dieser Organisation. Zwischen 1975 bis 1985 bestanden, vor allem über Dr. Jan Cibula, den Gründer und ersten Präsidenten der Romani Union, enge Kontakte der schweizerischen Jenischen zu Roma und Sinti in Deutschland und in Osteuropa

Gipfelpunkte dieser Aktivitäten waren der zweite Weltkongress der Roma in Genf (1978) und die Aufnahme der Internationalen Romani-Union in die UNO-ECOSOC (1979), beides unter Beteiligung der Radgenossenschaft. Die Radgenossenschaft legte seit 1985 ihr Hauptgewicht auf die Vertretung der Jenischen, insbesondere der Fahrenden unter ihnen, die zu wirksamen Interventionen wie der Luzerner Lido-Besetzung 1985 zusammen kamen. Die Radgenossenschaft engagierte sich jedoch auch in den Auseinandersetzungen um den Aufenthalt von Roma (Fahrende oder Asyl Suchende) in der Schweiz sowie bei der Aufarbeitung der Rolle der Schweiz gegenüber dem Holocaust. Die Arbeit im reichhaltigen Archiv der Radgenossenschaft trug ebenfalls viel zur Auffindung von Selbstzeugnissen bei.

 

1985 und 1987 entstanden weitere Organisationen, nämlich das Fahrende Zigeuner-Kultur-Zentrum, das sich unter jenischer Leitung auch gegenüber Sinti und Roma öffnete, sowie die Stiftung Naschet Jenische mit ihrem anfangs erfolgreich, später unglücklich agierenden Appenzeller Sekretär Stephan Frischknecht. Im Stiftungsrat wirkten zeitweise auch Angehörige der Gruppe der Sinti oder Manouches aus der Westschweiz mit. Im Zug ihrer Aktivitäten zur  "Bewältigung" und "Wiedergutmachung" des gegenüber den Angehörigen der thematisierten Gruppen in der in der Schweiz begangenen Unrechts generierte und sammelte die Stiftung Naschet Jenische viele Selbstzeugnisse, hauptsächlich von Jenischen. Das gilt auch für die aus ihren Aktivitäten hervorgegangenen, später von den Behörden übernommenen Gremien namens Aktenkommission und Fondskommission.

 

Die Entschuldigung von Bundespräsident Alfons Egli für das den Jenischen angetane Unrecht am 3. Juni 1986 erleichterte es vielen Betroffenen, offen zu ihrer lange stigmatisierten Herkunft zu stehen.

 

Seit Mitte der 1990er Jahren moderiert Kemal Sadulov eine Radiosendung in Romanes auf dem Zürcher Lokalsender LoRa. Sie generiert fortlaufend Selbstzeugnisse der Roma in der Schweiz; der Schwerpunkt der Sendung liegt auf der Musik. Gleichzeitig oder kurz danach entstanden die Organsationen Rroma Foundation und Romano Dialog, welche die sesshaften Roma in der Schweiz vertreten. Die meisten Roma in der Schweiz sind nicht organisiert. Oft vermeiden sie es, ihre Gruppenzugehörigkeit öffentlich zu deklarieren. Die Bereitschaft, als OrganisationsvertreterIN und Rom oder Romni öffentlich aufzutreten, ist aus Angst vor nachteiligen Folgen gering.

 

Selbstzeugnisse von Jenischen, Sinti und Roma generieren auch Gremien wie die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, in welcher seit ihrer Gründung (1995) der fahrende Pasteur der Mission Tzigane, May Bittel, vertreten ist, sowie die 1997 mit einer Million Franken dotierte Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, welche von einem "Gadscho", dem früheren Regierungsrat Werner Niederer von Appenzell-Ausserrhoden, präsidiert wird und deren Sekretär –  wie schon der Sekretär der Stiftung Naschet Jenische –  ebenfalls kein Angehöriger der thematisierten Minderheitsgruppen ist, sondern der St. Galler Rechtsanwalt Dr. Urs Glaus.

Statutengemäss hat auch eine Minderheit von Fahrenden Einsitz in dieser Stiftung, in welcher auch das Bundesamt für Kultur vertreten ist. In der Romandie ist seit einigen Jahren auch die Association Jenisch en Suisse aktiv.

 

Selbstzeugnisse generieren in jüngerer Zeit auch Gerichtsverhandlungen, die im Zusammenhang mit dem Mangel an oder der Aufhebung von Plätzen für Fahrende in verschiedenen Kantonen stehen. Ebenso finden sich in den Protokollen von gegenteiligen, einvernehmlichen Verfahren, in welchen z.B. der Kanton Graubünden eine grössere Anzahl von Stand- und Durchgangsplätzen einrichtete, Selbstzeugnisse von Vertretern der Fahrenden. 

 

Wichtige Selbstzeugnisse finden sich auch in den Protokollen und Unterlagen der Verhandlungen betreffend Anpassung der Regelungen für Auto-Anhänger und das Wandergewerbe an die Rechte und Bedürfnisse der Fahrenden in der Schweiz aus den 1980er und 1990er Jahren.

 

Die literarischen Selbstzeugnisse hauptsächlich von Jenischen in der Schweiz wurden unter Punkt 3 des Schlussberichts schon erwähnt; auch sie geben wichtige Hinweise zu Lage und Selbstsicht der thematisierten Gruppen und ihrer einzelnen Angehörigen.

 

Eine Fülle von Selbstzeugnissen generiert auch die steigende Anzahl von universitären, anderweitig schulischen oder sonstigen Abschluss-, Diplom-, Matur- oder Seminararbeiten, welche die Gruppen der Jenischen, Sinti und Roma thematisieren, vor allem insofern sie Interviews mit Angehörigen dieser Gruppen oder Gesprächsnotate enthalten.

 

Schliesslich wurden im Lauf der jahrzehntelangen Debatten um die (seitens von Behörden und Institutionen der Wissenschaftsförderung lange verzögerte) wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz und an ihren Grenzen zahlreiche Selbstzeugnisse Gruppenangehöriger formuliert.

 

Dasselbe gilt für die Aktivitäten der neuesten Organisationsgründungen wie Schinagl oder schäft qwant. Schäft qwant steht als transnationale Organisation der Jenischen Europas in regem Austausch mit den erst im 21. Jahrhundert entstandenen Interessenverbänden  der Jenischen in Österreich und Deutschland, welche mittlerweile die Anerkennung als nationale Minderheit auch in diesen Ländern fordern. Auch aus diesen organisatorischen Aufbrüchen und dem entsprechenden transnationalen Austausch heraus entstanden und entstehen interessante Selbstzeugnisse, teilweise in neuen Medien und Kommunikationsformen  wie Internet-Foren oder Internet-Chats.

 

Aus dieser Fülle von Selbstzeugnissen Angehöriger der thematisierten Gruppen heraus stellt unser Projekt die unterschiedlichen, sich im Lauf des Untersuchungszeitraums wandelnden Selbstbilder in ihrer Auseinandersetzung mit den jeweils noch unterschiedlicheren und sich im Untersuchungszeitraum noch mehr wandelnden Fremdbildern seitens von Behörden, Medien, Wissenschaft und Mehrheitsbevölkerung dar. Die Publikationen von Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon oder Norbert Elias erwiesen schon, was konkrete Forschungsarbeiten zur Dialektik der Konstruktion und Dekonstruktion von Selbstbildern und Fremdbildern der thematisierten Gruppen in Publikationen von Giere, Lucassen, Willemsen oder Wippermann bestätigten, dass nämlich Selbstbilder so wenig wie Fremdbilder essentiell mit den Bezeichneten verbunden sind, sondern in den gesellschaftlichen Wandel eingebettet sind sowie aus der individuellen Wahlfreiheit und Gestaltungskraft der sozialen Akteure heraus stets neu geformt werden, wenn auch unter Ansetzen an den  jeweiligen Traditionen, Überlieferungen und Zuschreibungskontinuitäten.

 

Zu ähnlichen Schlüssen der gegenseitigen Durchdringung von Gruppen-Identitäten und dem Stand ihrer gesellschaftlichen Anerkennung oder Nicht-Anerkennung sind auch die ebenfalls schon erwähnten Forscher wie Taylor, Kymlicka, Fraser, Honneth und andere gelangt, wenn sich ihre Positionen auch in vielem unterscheiden.

 

Wir werden die konkreten und detaillierten Ergebnisse unserer Forschungsarbeit, von denen wir im Rahmen dieses Schlussberichts-Formulars nur einen kurzen und abstrakten Abriss liefern können, in 3 Teilen veröffentlichen.

 

Teil 1:  Interviews (mit Kommentaren und editorischen Angaben)

Dieser Teil wird zuerst erscheinen.

 

Teil 2:  Schriftliche Selbstzeugnisse (mit Kommentaren und editorischen Angaben)

 

Teil 3:  Chronologische Darlegung von Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute.

 

Dieser Teil 3 wird in folgende Unterabteilungen gegliedert, wobei das Schwergewicht der Darstellung, auch gemäss den Wünschen der Leitungsgruppe, auf der jüngeren Zeitgeschichte bis zur unmittelbaren Gegenwart liegen wird:

 

          a) 1800 bis 1848/1851

          b) 1848/1851 bis 1888

          c) 1888 bis 1919/1920

          d) 1919/1920  bis 1972/197

          e) 1972/175 bis zur Gegenwart

 

Die Teile  d)  und  e)  zusammen werden gemäss der obgenannten zeitlichen Gewichtung um-fangreicher sein als die Teile  a),  b)  und  c)  zusammen.

Entsprechend der prioritären Gewichtung von Interviews und Selbstzeugnissen durch die Leitungsgruppe ist geplant, dass der Umfang der Teile 1 und 2 zusammen denjenigen von Teil 3 übertreffen.

In einem einleitenden Teil werden die methodischen Erwägungen ausformuliert, soweit sie nicht in den jeweiligen chronologischen Teilen themen- und problemspezifisch abzuhandeln sind.

Ein weiterer Teil wird im Sinn eines Anhangs zur Gesamtdarstellung die Quellen und die verwendete Literatur dokumentieren.

In einem abschliessenden Teil werden die zentralen Brüche und Kontinuitäten sowie die von der Projektarbeit neu eingebrachten Gesichtspunkte zusammenfassend dargestellt.

 

Vor Erscheinen werden die Texte abmachungsgemäss den zuständigen Amtsstellen zur Überprüfung der Einhaltung der Auflagen der diversen Akten-Einsichtsbewilligungen vorgelegt. Sie werden auch den für die Finanzierung von Nationalfonds-Publikationen zuständigen Stellen des Nationalfonds vorgelegt.

 

Wir hoffen, unter Einhaltung dieses Prozederes Teil 1 entweder Ende 2006 oder aber möglichst früh im Lauf des Jahres 2007 publizieren zu können, anschliessend die weiteren Teile.

 

Denn dieser Schlussbericht kann, wie gesagt, in seiner vorgeschriebenen Struktur und Kürze nur die grossen Linien der Resultate unserer dreijährigen, intensiven Forschungsarbeit wiedergeben. Die Darlegung der konkreten Ergebnisse, Belege, Einzelanalysen und übergreifenden Darstellungen brauchen mehr Raum, um dem Publikum und den spezifischen Adressatengruppen angemessen präsentiert werden zu können, was ja der Zweck des NFP 51 ist. Ende 2008 sollten die oben erwähnten Publikationen vorliegen; allfällige weitere Publikationen aus dem Forschungsmaterial wie Dissertation oder Habilitationsschrift erfordern möglicherweise noch einen etwas längeren Zeithorizont.

 

Als ein – neben bestehenden Informationswegen – neues Mittel zur nachhaltigen Umsetzung unserer Forschungsergebnisse – wozu deren detaillierte und umfassende Publikation die Voraussetzung ist – haben wir am 10. Januar 2006 das Schweizerische Institut für Antiziganismusforschung SIFAZ gegründet (www.sifaz.org). Es soll dazu beitragen, durch Forschung und Aufklärung antiziganistische Feindbilder, Haltungen, Stereotypien und Kontinuitäten zu bekämpfen. Wir ersuchten mit dem (inzwischen abgelehnten) Umsetzungsgesuch vom 27. Juni 2006 die Leitungsgruppe des NFP 51 um Fr. 20'000.- als Starthilfe für diese Institution, welche sich vor allem auch die Internetpräsentation von Forschungsergebnissen, unter Einschluss von Maturarbeiten, Diplomarbeiten etc. zur Thematik, sowie von Schlüsselquellen und schwer greifbaren älteren Arbeiten zum Anliegen machen wird. Wir gedenken das SIFAZ auch aus Eigen- und Drittmitteln zu alimentieren.

 

Zum Schluss dieses Schlussberichts an den Nationalfonds, der gleichzeitig eine Vorschau auf die Publikation der Projektergebnisse und auf die Umsetzung derselben ist und demzufolge das Gesamtprojekt, an dessen Finanzierung neben dem Nationalfonds auch zahlreiche Kantone beteiligt sind, keineswegs abschliesst, ist es uns ein Anliegen, allen, die uns unterstützten und halfen und dies weiterhin tun, zu danken.

 

In erster Linie danken wir den Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie den einzelnen Angehörigen der thematisierten Gruppen, welche zur Aktenöffnung für dieses und zwei andere Projekte die Zustimmung gaben und welche uns beim Verständnis der Thematik, bei der Lancierung des NFP 51 als Ganzes sowie bei der Durchführung unseres Projekts halfen und helfen. Wir danken dem schweizerischen Nationalfonds als nationaler Institution zur Förderung der wissenschaftlichen Arbeit und den mitfinanzierenden Kantonen als Geldgeber, den involvierten Behörden von Bund und Kanntonen, welche zur Aktenöffnung beitrugen, den Mitgliedern der Leitungsgruppe und des Begleitgremiums unseres Projekts und weiteren im Rahmen des NFP 51oder anderweitig tätigen Forschenden, die uns unterstützten, sowie vor allem auch den Archivarinnen und Archivaren.

 

Und als Projektleiter möchte ich an dieser Stelle ganz persönlich allen Mitarbeitern des Projekts, auch jenen, die nur in der Anfangsphase des Projekts mitwirkten oder im Auftragsverhältnis als mandatierte Mitarbeiter tätig waren, sehr herzlich danken.

 

 

 

 

 

 

4.2.  Changes regarding the original research design / Änderungen des ursprünglichen Forschungs-designs

State any deviations from the original research design and their causes.

 

Gegenüber unserer bereits in diesem Sinne überarbeiteten, bewilligten und finanzierten Projekteingabe wurde von der Leitungsgruppe im Lauf der Forschungszeit mehrfach die Empfehlung geäussert, dass Selbstzeugnisse und Selbstbilder der thematisierten Gruppen noch mehr als in unserem bewilligten Projekt vorgesehen im Vordergrund stehen sollten. Diesem Wunsch sind wir nachgekommen, allerdings nicht unter Reduktion des Projekts auf die Wiedergabe und Darstellung von Selbstzeugnissen und Selbstbildern.

Wie oben dargelegt, ist sich die ältere wie die gegenwärtige Wissenschaftslehre, welche solche Fragen methodisch reflektiert, darin einig, dass es eine nicht ausser Acht zu lassende Wechselwirkung zwischen Selbstbildern und Fremdzuschreibungen gibt, und dass weder die eine noch die andere Seite dieser Auffassungen, Sichtweisen und Bilder im Rahmen eines historischen Projekts losgelöst vom gesellschaftlichen Hintergrund wissenschaftlich ergiebig analysiert werden kann ohne Mitberücksichtigung der jeweils anderen.

Dem im Lauf der Forschungsarbeit ebenfalls vorgebrachten Wunsch der Leitungsgruppe, bei unserer Arbeit die Region Graubünden nicht zu berücksichtigen, konnten wir nicht nachkommen, da unser Projekt ausdrücklich die nationale Ebene sowie den Grenzbereich als Untersuchungsraum definiert. Zudem hat auch der Kanton Graubünden einen Finanzbeitrag an unser Projekt geleistet.

Ebensowenig gaben wir dem Wunsch der Leitungsgruppe nach, unsere Archivarbeit einzuschränken. Wir sind der Meinung, es sei eine Chance gerade auch unseres Projektes, Bewilligungen zum Einblick in Archivbestände erhalten zu haben, die sonst nicht offen stehen, und es wäre verfehlt, diese Chance, und damit auch die diesbezüglichen Erwartungen der thematisierten Gruppen und der Öffentlichkeit, zu missachten. Zudem stand dieser Wunsch im Widerspruch zur Prämisse, Selbstzeugnisse aus den thematisierten Gruppen bevorzugt zu erforschen. Denn wie oben dargelegt, fanden wir gerade in Archivbeständen zahlreiche Selbstzeugnisse.

Ein weitere Vorgabe der Leitungsgruppe, nämlich das Hausiergewerbe aus der Projektforschung auszuklammern, erweist sich trotz unserer Akzeptierung einer diesbezüglichen Projektauflage deshalb als unerfüllbar, weil auch sie mit dem Wunsch, Selbstzeugnisse hoch zu gewichten, in Widerspruch steht, wird doch das Hausiergewerbe, so wie andere Wandergewerbe, in vielen Selbstzeugnissen vorrangig thematisiert.

In keiner Weise sah sich der Forschungsleiter veranlasst, dem Ansinnen der Leitungsgruppe Folge zu leisten, den jenischen Mitarbeiter des Projekts Venanz Nobel von der Archivarbeit auszuschliessen. Venanz Nobel leistete gerade auch in den Archiven sehr wertvolle Arbeit und fand viele wichtige Quellen und Dokumente, welche vorher Forschenden entgingen, weil sie sie nicht fanden oder sich nicht dafür interessierten.

 

Wir danken allen Repräsentanten von Organisationen der thematisierten Gruppen sowie den Gelehrten, Politikerinnen und Politikern, welche unsere Standpunkte in diesen Fragen gegenüber der Leitungsgruppe des NFP 51 brieflich unterstützten, sowie jenen Mitgliedern der Leitungsgruppe, welche uns Verständnis und Unterstützung entgegenbrachten.

 

 

 

 

 

 

 

 4.3.  Strengths weaknesses and problems faced / Stärken, Schwächen und Herausforderungen

Present a strengths/weaknesses/challenge-evaluation of the project,including aspects of methodology and interdisciplinarity.

 

Stärken des Projekts:

 

- Gute und hilfreiche Kontakte des Projektteams zu Angehörigen der thematisierten Gruppen

 

- Gute und hilfreiche Kontakte des Projektteams zu Institutionen der Kantone und des Bundes

 

- Breite, langjährige Vorarbeiten seitens der älteren Projektmitarbeiter und deren gute Vertrautheit mit den Quellen und den Besonderheiten des Forschungsfeldes

 

- Die parallele Forschungsarbeit des jüngsten Projektmitarbeiters an seinem Lizentiat zu einer angrenzenden Thematik

 

- Gute Vertrautheit des Projektleiters mit angrenzenden Forschungsgebieten (Geschichte der Psychiatrie, der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, des Anstaltswesens, der "Eugenik", der Geschichte der Verdingkinder), denn diese Bereiche und die gegenseitigen Querbezüge sind für die Projektthematik in vielen Bereichen von grosser Bedeutung

 

- Gute Vernetzung des Projektleiters mit an der Thematik 'Norm und Ausschluss' interes-sierten Wissenschaftlern. Zusammen mit den anderen späteren Projektleitern Prof. Regina Wecker, Prof. Jakob Tanner und Dr. Thomas Meier war der unterzeichnende Projektleiter am Entstehen des Projektverbunds NFP 51 'Integration und Ausschluss'  schon bei der Besprechung und Abfassung der ersten Skizze eines solchen nationalen Forschungs-programms dabei, welche am 4. August 1999 noch unter dem Obertitel 'Norm und Stigma' formuliert wurde, und nahm auch an anderen Vorbesprechungen dieses innovativen Projektverbunds teil.

 

- Generierung zahlreicher neuer Quellen (Interviews) aus den thematisierten Gruppen, zu denen, insbesondere im Fall der Sinti und der Roma in der Schweiz, ansonsten nicht sehr viele Quellen bekannt sind

 

- Auffindung einer grossen Zahl von Selbstzeugnissen der thematisierten Gruppen in den Archiven

 

- Der Zeithorizont erwies sich als gut gewählt, erfolgten doch ungefähr zwischen 1800 und bis heute (unter schweren Rückschlägen) die wichtigsten Schritte auf dem Weg von Verfolgung und Ausgrenzung hin zu Anerkennung und Integration und Gleichberechtigung der thematisierten Gruppen. In den bisherigen isolierten Einzeldarstellungen konnten die längeren Zeiträume und das Ineinandergreifen verschiedener Kontinuitäten, Strukturen, Tendenzen und Brüche, sowie von Fremdbildern und Selbstbildern, oft nicht klar genug herausgearbeitet werden.

 

 

 

Schwächen des Projekts:

 

- Es zeigte sich, dass die personellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen des Projekts an der unteren Grenze des Notwendigen lagen (keine Vollzeitstellen; Ablehnung des Gesuchs einer Projektverlängerung um ein halbes Jahr, im Unterschied zu einem der Leitungsgruppe personell näher stehenden Projekt desselben Themenkreises, welches nur auf die Zeit von 1926 bis 1973 fokussiert; Ablehnung unseres Umsetzungsgesuchs)

 

- Der Wegfall der geplanten weiteren Mitarbeit von Stéphane Laederich, der wegen anderweitiger beruflicher Beanspruchung nur beim Projektdesign und in der Anfangsphase des Projekts mitarbeitete, war ein Verlust. Insbesondere auf dem Gebiet der Geschichte der Roma in der Schweiz drohten dem Projekt dadurch Einbussen, die wir indessen durch den Einbezug mandatierter Mitarbeiter (Kemal Sadulov und Serge Borri), die selber Roma sind oder Romanes sprechen, für diesen Bereich zu kompensieren imstande waren.

 

 

 

Herausforderungen

 

Die Interaktionen der für das Projekt Tätigen mit der Leitungsgruppe nahmen wegen der oben skizzierten Abwägungen Zeit in Anspruch, welche bei mehr Verständnis und Förderung gegenüber unserem Projekt durch die Leitungsgruppe den Projektforschungen und deren Auswertung zusätzlich zugute gekommen wäre.

Wir danken aber der Leitungsgruppe, dass sie schliesslich doch auch unser wissenschaftliches NFP-51-Projekt, entgegen gelegentlichen Drohungen betreffend ein vorzeitiges Projekt-Ende, von Tranche zu Tranche in seiner ganzen vom Forschungsrat des Nationalfonds bewilligten Länge durchzuführen empfahl, was wir gerne taten.

 

 

 

5. Contribution to central questions of NRP 51 / Beiträge zu zentralen Fragen des NFP 51

 

5.1. Contribution to key questions

 

1. Wie haben Sie im Rahmen Ihrer Untersuchung Integration und Ausschluss definiert?

 

"Das Ganze ist das Wahre." (G. W. F. Hegel)

 

Die Begriffe Integration und Ausschluss gehen von sozialen Systemen aus, in denen es "Insider" und "Outsider" (im Sinn von Norbert Elias) gibt. Es ist dabei zu beachten, dass auch die "Outsider" respektive die "Ausgeschlossenen" oder "Ausgegrenzten" Teil des Systems respektive des Ganzen sind. Das gilt sogar für diejenigen der in unserem Projekt thematisierten Gruppen, die in physischem und geografischem Sinn unter Ausschluss und Ausgrenzung, konkret: Unter Vertreibung, Ausschaffung und Einreisesperre, zu leiden hatten. Sie waren im System präsent als Feindbilder, als Sündenböcke und als Arbeitsfeld für die "Insider", insbesondere für jene, denen die Ausgrenzung oblag. Umso mehr gilt das hier Gesagte für andere Gruppen, deren soziale Lage und Geschichte in anderen Projekten des  NFP 51 untersucht werden, gegenüber welchen die Beseitigung oder totale Vertreibung aus der Schweiz glücklicherweise nie erwogen, geplant oder durchgeführt wurde.

 

Integration als Gegenbegriff zu Ausschluss und Ausgrenzung zielt somit nicht einfach auf den Einbezug der Ausgeschlossenen ins System ab. Vielmehr steckt in unserer Auffassung des Begriffs der Integration sozialer Gruppen in unseren zeitgenössischen multikulturellen, nicht-rassistischen Rechtsstaat und dessen Zivilgesellschaft, ja auch in dessen Militär und Polizei sowie in dessen politische, ökonomische und wissenschaftliche Leitungsgruppen der Gedanke der Gleichberechtigung. Als Ausgleich früherer Verfolgungs-, Ausschluss- oder Diskriminierungstatbestände kann darin auch die vorübergehende ausgleichende Bevorrechtung früher oder aktuell Benachteiligter impliziert sein, im Sinne etwa von Quotenregelungen oder anderen positiven Diskriminierungen, bis ein Gleichstand erzielt ist.

 

In keiner Weise teilen wir gegenwärtige Tendenzen im rechten schweizerischen Politspektrum, den Begriff Integration einfach als synonymen Nachfolgebegriff der aus früheren Diskursen unrühmlich bekannten Begriffe "Assimilation" oder "Anpassung" zu sehen. Dies etwa im Sinn der oft gehörten Redeweise: Wenn jemand gleiche Rechte haben wolle, müsse er sich erst "integrieren" im Sinn von "sich anpassen'", "sich assimilieren".

Integration meint für uns vielmehr die Anerkennung des Anderen, Differenten als gleichberechtigt im Rahmen der Garantie multikultureller Vielfalt durch nichtrassistische respektive antirassistische Rechtsstaaten unter Anerkennung, Einhaltung und Umsetzung supranationaler Menschenrechtskonventionen.

Dasselbe gilt in Abgrenzung zu neueren Instrumentalisierungen der Begriffe Diversität, Vielfalt und Eigenart durch rassistische Ideologeme, welche, im Stil der von der Schweiz aus lange unterstützten Apartheid-Politik des damaligen südafrikanischen Regimes, aus herausgegriffenen einzelnen Kultur-Elementen oder aus Fremdzuschreibungen betreffend spezifischer Eigenarten einzelner Gruppen deren Angehörige gegenüber den Kultur-Elementen oder sonstigen Selbst-Zuschreibungen ihrer eigenen gelegentlich so genannten "Leit“- Gruppen-Kultur herabsetzen, ausgrenzen oder diskriminieren wollen.

 

 

2. Welche Zusammenhänge zwischen den drei Untersuchungsebenen (Diskursen, institutionellem Handeln und Akteurs- bzw. Betroffenenperspektive) haben sich als besonders wichtig erwiesen?

 

Solchen Zusammenhängen gilt unser besonderes Augenmerk. Denn wie diese Fragestellung richtig voraussetzt, gibt es diese Untersuchungsebenen, die allesamt für die Fragestellungen der NFP-51-Projekte von Belang sind, nicht als getrennte, für sich allein, isoliert darstellbare Bereiche. So sind auch in unserem Untersuchungsgebiet weder die Diskursebene mit den lange vorherrschenden negativ konnotierten Fremdbildern der thematisierten Gruppen, noch die Strukturen, welche diese Fremdbilder zu perpetuieren tendierten, noch die Akteure, welche diese Strukturen aufbrachen und auf deren Wandel hin wirkten, noch die Gruppenangehörigen, die gelegentlich ihre Selbstbilder diesen diffamierenden Fremdbildern annäherten, aber oft auch die Kraft fanden, umgekehrt diese Fremdbilder zu dekonstruieren und ihre Selbstbilder als den Diskurs prägend einzubringen, nicht voneinander unabhängig zu betrachten.

Wichtig bei diesen wechselseitigen Durchdringungsprozessen der genannten Ebenen im Untersuchungszeitraum sind die tendenziell, trotz Rückschlägen, zunehmend erhobenen Forderungen nach sowie die wachsende Inanspruchnahme und Anerkennung von Gleichberechtigung durch und für vordem Verfolgte, Ausgeschlossene und Diskriminierte.

Insofern die thematisierten Gruppen Minderheiten sind, gehört – neben der Nutzung des Gleichheitsdiskurses – auch die Üebernahme des Diskurses betreffend Minderheitsrechte durch immer neue Gruppen (Romands, Italienischsprachige, Juden, Rätoromanen, Walser, Jenische, Sinti, Roma, Muslime, Hindu, Buddhisten, Homosexuelle etc.) zur Darstellung dieses komplexen Prozesses.

 

 

3. a) Welche Normen, Institutionen und Praktiken haben Sie festgestellt, die zu Integration und Ausschluss führen?

 

Rechtsgleichheit, Menschenrechte, Minderheitsrechte, flache oder gar keine Hierarchien, Empowerment von vormals aus arkanen Machtzentren Ausgeschlossenen, supranationale Rechtskataloge, Druck auf deren Einhaltung durch supranationale Institutionen, Meinungsfreiheit (ausser im Fall rassistischer oder sonstwie dem Strafgesetz widersprechender Diskurse), Förderung der Kulturen in ihrer Vielfalt, Abkehr von homogenisierenden nationalen oder supranationalen Leitideen (ausser der Norm der Rechtsgleichheit für alle), Förderung von interkulturellen Begegnungsstätten, Relativierung des Selbstbildes insbesondere der (vormals privilegiert) herrschenden Gruppen; Bewusstmachung und Bekämpfung von Mechanismen der Stigmatisierung von Aussenseitern oder Minderheiten durch negative Stereotypisierung.

 

 

Normen, Institutionen und Praktiken, die zu Ausschluss (im oben dargelegten Sinn) führen:

 

Nationalistische, chauvinistische, faschistische, absolutistische oder sonstwie totalitäre Homogenisierungstendenzen gegenüber "Untergeordneten"; Verabsolutierung der Demokratie als Mehrheitsherrschaft ohne Rechtsgarantien für Minderheiten; steile Hierarchien, arkane Machtzentren; intransparente Entscheidfindungen; Unterbindung der Meinungs- und Forschungsfreiheit; Verbot, Schliessung oder Nicht-Finanzierung von interkulturellen Begegnungsmöglichkeiten und -stätten; Verabsolutierung des Selbstbildes herrschender oder übermächtiger Gruppen respektive Cliquen; Stigmatisierung von Minderheiten und Aussenseitern durch negative Stereotypisierung.

 

 

3. b) Wie wirken sich staatliche und weitere gesellschaftliche Integrationsprozesse auf die Handlungsfähigkeit betroffener Individuen aus?

 

Bei Integration gemäss unserer Begriffsdefinition bestens. Die Zahl der Optionen, der möglichen freien Interaktionen und insgesamt die in sich selbst ruhende oder aus sich selbst heraus agierende Autonomie der als Angehörige einer Gruppe gleichen Rechts Anerkannten vergrössern sich. Die individuellen Wahlmöglichkeiten zur kulturellen Zugehörigkeit erhöhen sich. Die kulturellen Ressourcen und Hervorbringungen der betreffenden Gesellschaft erhalten Zuwachs. Dies erhöht auch die unternehmerische Handlungsfähigkeit im ökonomischen Bereich (Mehrinvestitionen in Tempel und Stätten bisher nicht anerkannter religöser Gemeinschaften, in Wohnwagen und Standplätze, in Spezialitätenrestaurants, in kulturspezifische Medien, in interkulturelle Begegnungsräume etc.)

 

4. Unter welchen Umständen entscheiden sich Menschen für oder gegen Normen und nehmen dabei Ausgrenzungen in Kauf?

 


Die Beantwortung dieser Frage hängt stark von den Normen ab, welche diese Frage meint; dies ist indessen ein weites Feld. Insbesondere gibt es einerseits äussere, gesellschaftlich gesetzte Normen wie Gesetz, Sitte, Reglemente, Anstand, Gruppendruck, Mode etc. Andererseits gibt es Normen, die sich aus allgemeineren moralischen, religiösen oder philosophischen Erwägungen ableiten und die auch in Konflikt mit den jeweiligen gesellschaftlichen Normierungen der erstgenannten Art stehen können. Letztlich kann sich das Individuum in solchen Konfliktfällen nur auf sein individuelles Gewissen stützen – welches jedoch auch gesellschaftlich und historisch mitgeprägt ist. Somit ist auch für diese Frage ein dialektischer Ansatz empfehlenswert.

Zur Analyse und zum Verstehen der Normbrüche in einer jeweiligen Gesellschaftsform ist es hilfreich, frühere und aktuelle Beispiele solcher Konflikte vergleichend zu betrachten. Es wird sich dabei unter anderem zeigen, dass grosse Armut Armer ebenso wie auch grosse Besitzgier Reicher nach noch mehr Reichtum den Bruch von Rechtsnormen bezüglich Eigentums- und Betrugsdelikten fördern können; dass Machtstreben und Ehrgeiz zu Normbrüchen gegenüber Normen demokratischer und rechtsstaatlicher Transparenz und Kontrolle verleiten; dass wissenschaftliche Ausbildung und Titel die Hexenverfolger oder die Nazi-Ärzte nicht vor dem Bruch mit elementarsten Normen der Menschlichkeit feiten. Jedoch entsprachen genau diese Brüche mit übergeordneten Normen der Humanität den damals gesellschaftlich, teils längerfristiger, teils kurzzeitig, von den Mächtigen vorgegebenen Normen, welche "Humanitätsduselei" und "Gutmenschentum" als verachtenswert und obsolet hinstellten; das entsprechende Handeln wirkte karrierefördernd innerhalb dieser inhumanen Gesellschaftsstruktur.

Normen können auch sehr situativ interpretiert werden; so wollte das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" den Jenischen das Hausieren verbieten; den Schulkindern aber gebot sie es, sofern sie es mit Pro-Juventute-Marken taten.

 

5. Welche Forschungslücke schliesst Ihr Projekt in Bezug auf die Dynamik von Integration und Ausschluss und welche neuen Forschungsfragen tun sich damit auf?

 

Das Projekt liefert, zusammen mit den anderen Forschungsprojekten des NFP 51 zur Thematik der Jenischen, einen Beitrag zur Ausfüllung einer seit mehr als 30 Jahren von Betroffenen, Medien, kantonalen Kommissionen, kritischen Parlamentarierinnen und Forschenden monierten Forschungslücke. Es ist gut, dass die Anstrengungen zur Schliessung dieser Forschungslücke seit 1998 endlich mit staatlichen Mitteln gefördert werden, und dass bei den in den letzten Jahren im Themenfeld genehmigten Projekten, wenn auch nicht in allen Fällen, so doch bei den meisten, auch der faire Einbezug der RepräsentantINNen der thematisierten Gruppen ins Prozedere gewährleistet ist.

Im Unterschied zu den beiden anderen Projekten des NFP 51 zur Geschichte der thematisierten Gruppen fokussiert unser Projekt nicht nur auf die Gruppe mit der längsten und kontinuierlichsten Präsenz in der Schweiz, die Jenischen, sondern auch auf die Gruppen der Sinti und Roma, sowie auf die gesellschaftlichen Kräfte und Haltungen, welche deren Präsenz in der Schweiz lange verhinderten.

Unser Projekt verweist auf zusätzlichen Forschungsbedarf für regionale und überregionale Studien in diesem Bereich. Zur Zeit gibt es nur eine regionale Studie über die Geschichte der Jenischen in den Bündner Gemeinden, nicht aber für andere Regionen. Weitere Forschungen zur Lage der thematisierten Minderheiten, insbesondere auch im Bereich des Rechts, der Raumplanung, der (Zwangs)Auswanderung, der transnationalen Kontakte, von Schule und Bildung, Musik und Ökonomie, Kulturförderung, Institutionsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Literatur- und Kunstgeschichte, können dazu beitragen, dass die Dynamik von Integration und Ausschluss  der thematisierten Gruppen in ihrem Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft in Richtung Gleichberechtigung und Anerkennung weiter geht und dass sich frühere Formen von Verfolgung, Ausschluss und Ausgrenzung nicht wiederholen.

 

6. Inwiefern haben sich die untersuchten Integrations- und Ausschlussprozesse in der analysierten Zeitperiode gewandelt? Wo stellen Sie Umbrüche fest?

 

Die wichtigsten Umbrüche fanden, wie in der Zusammenfassung der Resultate schon genauer ausgeführt, um 1800, um 1815, um 1848, um 1888, um 1920 und um 1972 statt. Auch die Entschuldigungen von Bundespräsident Alphons Egli gegenüber den schweizerischen Jenischen im Jahr 1986 und des Gesamtbundesrats gegenüber den vom Holocaust betroffenen Roma, Sinti und Jenischen im Jahr 2000 waren wichtige Wendepunkte. Leider waren nicht alle dieser Wendepunkte solche, welche die soziale Lage, Anerkennung und Gleichberechtigung der thematisierten Gruppen verbesserten. Es braucht unablässige und nachhaltige Bemühungen gerade auch seitens der Mehrheit, um die Rechte auch dieser Minderheiten in der Schweiz ebenso wie in allen anderen Ländern zu verankern, zu garantieren und umzusetzen.

 

 

5.2. Recommendations for policy makers and praxis / Empfehlungen für PolitikerINNen und Praxis

Based on your results, please map out the main implications of your project for implementation and praxis.  

 

1. Rasche Umsetzung der internationalen Verpflichtungen der Schweiz betreffend Minderheitsrechte.

 

2. Formelle Bestätigung der bisherigen offiziellen Verlautbarungen betreffend die Anerkennung der Jenischen als nationale Minderheit  in der Schweiz mit der Garantie zur Umsetzung aller daraus folgenden Rechte.

 

3. Ausdrückliche und formelle Anerkennung auch der Sinti und Roma als nationale Minderheiten in der Schweiz.

 

4. Angleichung der Förderungsmassnahmen für diese Minderheiten an jene beispielsweise der Rätoromanen.

 

5. Förderung von Kultur, Sprache, Traditions- und Geschichtspflege der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz und transnational.

 

6. Förderung von Dokumentations- und Begegnungszentren, Radio- und Fernsehsendungen, Verlagen, Medien etc. dieser Gruppen.

 

7. Förderung der Berücksichtigung auch von Jenischen, Roma und Sinti in Berufsbereichen wie Verwaltung, Erziehung, Justiz, Polizei, Schule, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Unternehmensleitung etc.

 

8. Abklärung und Umsetzung einer quotenmässigen Vertretung auch nicht-territorialer Minderheiten im Parlament.

 

9. Sicherstellung des grundlegenden Prinzips "No taxation without representation" ("Keine Besteuerung ohne Vertretung") auch für diese Gruppen.

 

10. Sicherstellung von ausreichend zahlreichen, genügend grossen und den Bedürfnissen der Fahrenden angepassten Stand- und Durchgangsplätze in allen Kantonen.

 

11. Förderung der  Wandergewerbetreibenden in ihrer Flexibilität und unternehmerischen Selbstständigkeit durch Subventionen, inbesondere durch Subventionierung umweltschonender Recycling-Tätigkeit gerade auch jenischer Unternehmer.

 

13. Anwendung der gesetzlichen Normen für Wohnbauförderung auch auf die Winterquartiere und Wohnwagen der Fahrenden.

 

14. Den Erziehungskosten angemessene Kinderzulagen nicht nur für unselbständige Arbeitnehmer und Bauern, sondern auch für im selbstständigen Klein – und Wandergewerbe Erwerbstätige oder generell für alle Kinder, eventuell mit einer Einkommensgrenze, oberhalb welcher diese Zulagen nicht ausbezahlt werden.

 

15. Juristische Beurteilung der systematischen Kindswegnahmen an den Jenischen in der Schweiz und der Asylverweigerung gegenüber Sinti, Roma und Jenischen auf der Flucht vor dem Holocaust.

 

16. Einheitliche und angemessene Regelung von Entschädigung und Genugtuung gegenüber Opfern von Zwangssterilisation, Zwangkastration, Zwangsarbeit oder Zwangsinternierung aufgrund rassistischer, "eugenischer" oder sonstwie Menschenrechte verletzender Vorgaben.

 

17. Sicherung des unabhängigen Rechtsbeistands für Jenische, Sinti und Roma gegenüber Akten der Diskriminierung oder Vertreibung durch Private oder Behörden in der Schweiz.

 

18. Berücksichtigung der Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma im Geschichtsunterricht.

 

19. Erstellung und laufende Aktualisierung entsprechender Unterrichtsmaterialien für alle Schulstufen in allen Sprachregionen und Kantonen der Schweiz.

 

20. Förderung des Instituts für Antiziganismus-Forschung (SIFAZ).

 

21. Errichtung eines oder mehrer Lehrstühle für die Forschung und Lehre betreffend Geschichte, Gegenwart und Kulturen der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz an einer oder mehren Hochschulen der Schweiz, möglichst sowohl im deutsch- wie auch im romanischprachigen Teil der Schweiz.

 

22. Bekämpfung des Rassismus in der Schweiz durch Projekte aller Art, welche möglichst viele Menschen gegenseitigen Respekt, Vielfalt und Differenz, Anerkennung von Anderem und Fremdem als kulturelle Bereicherung erkennen und erleben lassen.

 

23. Entschlossenes, konsequentes und rechtsgleiches Durchgreifen polizeilicher und juristischer Instanzen gegenüber allen Formen des Rassismus.

 

 

 

6. Scientific publications: peer-reviewed journals, monographs, edited books and book chapters / Wissenschaftliche Publikationen: Von Fachexperten begleitete Zeitschriften, Monografien, selbstständige Buchpublikationen und Buchbeiträge

List all published and forthcoming scientific publications produced in the context of NRP 51(title, author(s), journal etc.). Hardcopies of the publications are to be attached to this report. Publications being published after the official end of the project are to be sent to the SNSF as soon as they appear in print.

 

 

Status (submitted, accepted, published

Vgl. die Liste der Publikationen weiter oben unter Punkt 2 dieses Formulars

Publiziert

 

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7. Accessibility of your data/ Zugang zu den erarbeiteten Daten

 

How do you plan to ensure the accessibility of your NRP 51-data to other researchers for secondary analysis?

 

 

 

 

 

 

 

Archive / Archiv

Until when / Bis wann

SIDOS
Swiss Information and Data Archive Service for the Social Sciences, Neuchâtel

 

Im Rahmen der Akten-Einsichtsbewilligungen und der Abmachungen mit den Forschungspartnern nach Vorliegen der Projekt-Publikationen.

Other Archive Services, namely: Archiv der Radgenossenschaft der Landstrasse, Zürich

Im Rahmen der Akten-Einsichtsbewilligungen und der Abmachungen mit den Forschungspartnern nach Vorliegen der Projekt-Publikationen.

Other mean of accessibility, namely: Schweizerisches Institut für Antiziganismus-Forschung (SIFAZ), Basel

Teilweise im Lauf des Umsetzungsprojekts gemäss Umsetzungs-Gesuch vom 27. Juni 2006 sowie im Rahmen der Akten-Einsichts-bewilligungen und der Abmachungen mit den Forschungspartnern, teilweise nach Vorliegen der Projekt-Publikationen.

 

 


8. Other project outcomes/ transfer and implementation of project results / Weitere Projekt-Ergebnisse / Verbreitung und Umsetzung von Projekt- Erkenntnissen

The listing other project outcomes and transfer and implementation measures of your NRP 51-project is an integral part of this report.

 

Type of outcome / Art der Aktivität Partner(s) / Partner Specific information on content / Inhalt target audience /
Zielpublikum
release date /
Zeitpunkt der
Veröffentlichung
popular book /
Allgemeinverständliches:

Siehe Liste unter Punkt 2

Diverse Geschichte und Lage von Roma, Sinti
und Jenischen in der Schweiz
Breite Öffentlichkeit und interessierte Fachkreise 2003 - 2006
Electronic Publication /
Digitale Veröffentlichung
CD, DVD, Internet:

Die letzten freien
Menschen. Dokumentarfilm
mit Chronik "Nomaden
in der Schweiz
Oliver M. Meyer DVD. Vgl.
www.filmarts.ch/dvd_menschen.htm
Breite Öffentlichkeit 2005
Event (public or scientific workshops, symposium etc.):
Referat von Thomas Huonker am 22. Februar 2005 im workshop 'Stigma, Identität, Differenz an der Tagung des NFP 51 in Morat / Murten Schweizerischer Nationalfonds Bemerkungen zu Identität und Differenz,
Wahnsinn und Methode, Herrschaft und Diskurs.
Vollständiger Text auf:
www.thata.ch/referatmurten.htm
Spezifischer Fachkreis 2005
Vortrag von Thomas Huonker im Kolloquium
'Norm und Ausgrenzung' an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich vom 16. März 2005
Prof. Dr. Jakob Tanner

Dr. Thomas Meier
Selbstzeugnisse und Fremddarstellungen.
Methodologische Bemerkungen zum Erzählen von Geschichte anhand von Beispielen aus aktuellen Forschungen zur Lage von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz zwischen 1800 und heute.
Vollständiger Text auf:
www.thata.ch/vortragzuerich16mar05.html
Spezifischer Fachkreis 2005
Vortrag von Thomas Huonker an der Tagung
'Roma unter uns' vom 28. Januar 2006 im Offenen Haus La Prairie Bern
Offenes Haus La Prairie Roma, Sinti und Jenische in der Schweiz
- ein geschichtlicher Überblick. Text in: Roma unter uns. Wer sind sie? Woher kommen sie? Wie gehen wir mit ihnen um? Dokumentation der Tagung vom 28. Januar 2006, Bern 2006, p. 57 - 67. Auch auf
wwww.laprairiebern.ch/doku/Huonker.pdf
Breite Öffentlichkeit 2006
Vortrag von Stéphane Laederich an der Tagung
'Roma unter uns' vom 28. Januar 2006 im Offenen Haus La Prairie Bern
Offenes Haus La Prairie Geschichte, Sprache und Kultur der Rroma.
Text in: Roma unter uns. Wer sind sie? Woher kommen sie? Wie gehen wir mit ihnen um? Dokumentation der Tagung vom 28. Januar 2006, Bern 2006, p. 15 - 29. Auch auf
wwww.laprairiebern.ch/doku/Laederich.pdf
Breite Öffentlichkeit 2006
Jenische Nacht in Rheinheim
im Rahmen der regionalen Veranstaltung Kulturnacht Küssaburg
Venanz Nobel
Jenischer Verein Singen e.v.; Schinagl; zahlreiche regionale Gruppen und Vereine http://home.balcab.ch/ Breite Öffentlichkeit 2005
other activities / Andere Aktivitäten
Mitarbeit im Dokumentationszentrum der Radgenossenschaft
Thomas Huonker
Radgenossenschaft der Landstrasse;
Fonds Projekte gegen Rassismus
Präsentation von Archivalien, Führungen Breite Öffentlichkeit 2003 - 2006
Vernetzungsarbeit im Rahmen von schäft qwant
Venanz Nobel
schäft qwant; Föderalistische Union europäischer Volksgruppen Politische Arbeit zur Anerkennung der Jenischen Breite Öffentlichkeit 2003 - 2006
Beratung von VerfasserINNEn von Presseartikeln, Matur-, Diplom-, Seminar-, Lizentiats- und Doktorarbeiten
Thomas Huonker, Venanz Nobel
Diverse Hinweise auf Literatur, Archive, Informationsquellen im Internet, Ausfüllen von Fragebogen, Interviews Breite Öffentlichkeit, spezifische Fachkreise, Einzelpersonen (mit Multiplikator-Effekt) 2003 - 2006

 

Products listed above and complementary documents are to be enclosed to this report. Products realised after the official end of the project are to be sent to the SNSF after their release.

 

 

 

 

 

9. Co-operations / Zusammenarbeit

 

Products listed The listing of the co-operating partners of your NRP 51-projekct is an integral part of the final report. This sheet includes any kind of co-operation with third parties of relevance to your NRP 51-project.

 

 

 

 

Cooperating partner

Name of institution and name
of contact person

Category of cooperation

Research, Administration, Economy, Other

Nature of cooperatio

Exchange of general know-how, data, staff

Financial share

 

Duration

 

Comments

Organisationen von Roma:

Roma Foundation, Zürich;

Romano Dialog, Zürich

 

Forschung

Wissensaustausch, Interviews,

Mitarbeit

 

2003 - 2006

 

Organisationen von Betroffenen des "Hilfwerks für die Kinder der Landstrasse"

Radgenossenschaft, Zürich

Mission Tzigane, Genève

Fahrendes Zigeuner-Kulturzentrum, Adliswil

Naschet Jenische, Holderbank

Schinagl, Bowil

schäft qwant, Basel

 

Forschungsbewilligung  

Wissensaustausch,

Interviews,

Mitarbeit

 

2003 - 2006

 

Eidgenössisches Departement des Innern, Bern

Forschungsbewilligung

Wissensaustausch

 

2003 -

Publikation der Forschungsergebnisse

 

Bundesarchiv, Bern

 

Akteneinsicht

Wissensaustausch

 

2003 -

Publikation der Forschungsergebnisse

 

Kantone Aargau, Appenzell-Ausserrhoden, Basel-Stadt, Basel-Land, Graubünden, Luzern, Neuchâtel, Solothurn, St. Gallen, Thurgau, Wallis, Zürich

 

 

Finanzierung,  Administration, Akteneinsicht

Wissensaustausch

100'000.-

2003 -

Publikation der Forschungsergebnisse

 

Schweizerischer Nationalfonds

 

Finanzierung, Administration

Wissensaustausch

300'000.-

2003 -2006

 



10. Comments / Kommentare

 

Dieser Schlussbericht enthält im Hinblick auf das In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über die Öffentlichkeit der Verwaltung am 1. Juli 2006 keinerlei Personen- oder sonstige Daten, die dem Datenschutz unterstehen.

 

11. Annex / Zusätze

Please enclose any kind of documents containing relevant additional information for the Steering Committee such as integral third-party final reports elaborated within the project and additional tables and figures.

 

 

Place, date / Ort, Datum:                                                       

   Signature / Unterschrift:

Dr. Thomas Huonker

Zürich, 1. September 2006