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Aus Anlass meines von Co-Herausgeber René Scheu für das Dossier „Verdingkinder“ in der Nr. 968 von März/April 2008 der „Schweizerischen Monatshefte“ bestellten, aber dort nicht publizierten Artikels „Verdingkinder und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung – ein Überblick“ (weiter unten auf dieser Seite finden Sie diesen Text) verfasste ich folgende Bemerkungen über Geschichte und Geschichtsverständnis dieser Zeitschrift. Am 31. März 2011 erschien dann auch in der Zürcher WochenZeitung (WoZ) ein sehr lesenswerter kritischer Artikel Adrian Zimmermanns zur Geschichte dieses rechtslastigen Blatts anlässlich von dessen Umtaufe in "Schweizer Monat".


Thomas Huonker


Schweizer Monatshefte – stolz auf die braunen Anfangsjahre?


Auf der Website der „Schweizerischen Monatshefte“ heisst es (Stand 26. April 2009): „Wir verstehen uns als eine Autorenzeitschrift. Renommierte ebenso wie noch unbekannte oder auch sehr junge Autoren verleihen den ‚Schweizer Monatsheften’ jenes intellektuelle Profil, dem sie seit ihrer Gründung treu geblieben sind.“
(http://www.schweizermonatshefte.ch/index.php?nav=atrn?)

Zum Gründer und ersten Leiter der „Schweizerischen Monatshefte“, dem Aargauer Dr. phil. I. Hans Oehler, steht im Historischen Lexikon der Schweiz folgender Artikel von Walter Wolf:

Oehler, Hans, *18.12.1888 Wildegg (Gem. Möriken-Wildegg), 7.1.1967 Dielsdorf, ref., von Aarau. Sohn des Alfred (-> 1). Bruder des Alfred (-> 2). ∞ 1930 Martha Germann. Stud. der Philosophie, Geschichte, Kunst- und Literaturgeschichte in München, Grenoble, Leipzig, Berlin und Zürich, 1913 Dr. phil. In der Wochenzeitung "Das Freie Wort" engagierte sich O. 1918-20 gegen Versailler Friedensordnung und Völkerbund. Als Mitgründer, Herausgeber und Schriftleiter der "Schweiz. Monatshefte für Politik und Kultur" steuerte er ab 1921 einen germanophilen Kurs und war ein Exponent des Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz. 1923 begegnete er in Zürich Adolf Hitler. 1929-30 sammelte er die politisch unzufriedene akadem. Jugend im Oehler-Klub, wo die Idee zur Gründung der Neuen Front heranreifte, der O., obwohl Mitglied der Demokrat. Partei Zürich, 1931 beitrat. Seine "Monatshefte" stellte er in ihren Dienst, bis ihm 1934 durch das Herausgeberkollegium die Schriftleitung entzogen wurde. Darauf gab er bis 1945 die frontist. "Nationalen Hefte" heraus. 1933-38 gehörte er zum Führungskreis der Nationalen Front und betätigte sich als Leitartikler der Zeitung "Front". Als die Partei 1938 der nationalsozialist. Ideologie abschwor, gründete er mit Gleichgesinnten den Bund treuer Eidgenossen nationalsozialist. Weltanschauung. 1947 wurde er wegen Gefährdung der Unabhängigkeit des Landes zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch nach Kriegsende hielt O. an seiner Überzeugung fest, publizierte in der deutschen neonazist. Zeitschrift "Nation Europa" und gab als Übersetzer das in Frankreich eingestampfte antisemit. Buch "Nürnberg oder das Gelobte Land" von Maurice Bardèche heraus. Seine letzten Lebensjahre waren von fruchtlosen Bewältigungsversuchen, Geldnöten, Depressionen und Krankheit überschattet.
Archive: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Nachlass
Literatur:
-B. Glaus, Die Nationale Front, 1969
-W. Wolf, Faschismus in der Schweiz, 1969
-K.-D. Zöberlein, Die Anfänge des dt.-schweiz. Frontismus, 1969
-K. Urner, Die Gründung der "Schweiz. Monatshefte für Politik und Kultur", in Schweiz. Monatshefte 50, 1971, 1064-1078
-P. Maibach, Die zeitkrit. Inhalte von Hans O.s Publizistik bis 1920, Liz. Zürich, 1986“


Der Gründer und langjährige Leiter (von 1921-1934) der „Schweizerischen Monatshefte“ war also einer der führenden Schweizer Nazis. Die persönliche Bekanntschaft mit Adolf Hitler machte Hans Oehler anlässlich von Hitlers Rede in der Villa Schönberg im Zürcher Rieter-Park, die Ulrich Wille junior bewohnte. Hitler sammelte damals, im September 1923, im Kreis seiner Schweizer Anhänger rund 30'000 Franken. Sie dienten der Finanzierung des anschliessenden Hitler-Putsches in München. (Vgl. dazu: Beat Glaus, Die nationale Front, Zürich 1969, S. 27; Jacobsen, Hans-Adolf: Karl Haushofer. Leben undWerk. Band I: Lebensweg 1869 –1946 und ausgewählte Texte zur Geopolitik. Boppard o. J., S. 471–472 u. S. 474; Gautschi, Willi: Hitlers Besuch in Zürich 1923. In: Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 29.12.1978; Raffael Scheck: Swiss Funding for the Early Nazi Movement: Motivation, Context, and Continuities, in: The Journal of Modern History, Chicago, Nr. 71 / December 1999, S.793-813; Schwarzenbach, Alexis: Die Geborene. Renée Schwarzenbach- Wille und ihre Familie. Zürich 2004, S. 167–169 u. S. 277–279.)

Klaus-Dieter Zöberlein beschrieb Hans Oehler so: „Der 1888 geborene Dr. Hans Oehler, der einer der sozialen Oberschicht angehörenden Familie aus Aarau entstammte [...], wandte sich nach dem Philologiestudium nicht dem ursprünglich beabsichtigten Lehrerberuf, sondern dem Journalismus zu. Er betreute zunächst als Redaktor das germanophile ‚Freie Wort’ und übernahm darauf bei ihrer Gründung im April 1921 die Zeitschrift ‚Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur“, deren Gestalt und Gehalt er von Anfang an weitestgehend allein bestimmte. Frühzeitig wurde Oehler innerhalb des ‚Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz’ [der gegen die Beteiligung der Schweiz am Völkerbund aktiv war], in dem er aufgrund seiner Schriftleiterstelle eine gewichtige Rolle spielte, zum Exponenten einer Richtung, die nicht allein starke Sympathien für alldeutsche und antisemitische Bestrebungen zeigte, sondern die darüber hinaus Anlehnung an entsprechende reichsdeutsche Organisationen suchte.“
(Klaus-Dieter Zöberlein: Die Anfänge des schweizerischen Frontismus, Meisenheim am Glan 1970, S.29)

Zu den Mitarbeitern der „Schweizerischen Monatshefte“ unter Oehlers Führung gehörte auch Hektor Ammann (Beat Glaus, Die nationale Front, Zürich 1969, S.24). Hektor Ammann war ebenfalls ein führender Schweizer Nazi, der Hitlers persönliche Bekanntschaft schon 1920 in München gemacht hatte; er wurde 1946 seines Postens als Staatsarchivar des Kantons Aargau enthoben, den er seit 1929 innehatte.

Ein weiterer freier Mitarbeiter der „Schweizerischen Monatshefte“ war Eduard Blocher, Christoph Blochers Grossvater, ein anderer Mitbegründer des „Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz“, von Beruf Pfarrer, und zwar bei der Fremdenlegion und in der psychiatrischen Klinik Burghölzli. „Hintermänner wie Eugen Bircher warfen die Rassenfrage in die Diskussion“, bemerkt Glaus (S. 25) zu einem weiteren Mitglied des in den damaligen „Schweizer Monatsheften“ schreibenden rechtsextremen Klüngels. Der Aargauer Chirurg und „Eugeniker“ Eugen Bircher, wie Ulrich Wille jun. einer der hohen nazifreundlichen Kader der damaligen Schweizer Armee, führte im zweiten Weltkrieg die sogenannte „Ärztemission“ schweizerischer Sanitätstruppen an der deutsch-russischen Front. Sie waren dem Befehl der Wehrmacht unterstellt und durften nur deutsche Verwundete pflegen; ihre Mitglieder wurden Zeugen von Geiselerschiessungen durch die Wehrmacht. Einige der Ärzte und Krankenschwestern dieser „Mission“ waren keineswegs nazifreundlich. Sie realisierten die verbrecherische Art der Kriegführung durch die Wehrmacht und erfuhren auch von der Judenvernichtung in den Konzentrationslagern. (Vgl. dazu, insbesondere auch zum nazimässigen Auftreten von Oberstdivisionär Eugen Bircher, den Augenzeugenbericht von Rudolf Bucher "Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front 1941/42", Zürich 1967, sowie den Dokumentarfilm von Frédéric Gonseth, 2003: Mission en enfer)

Ihren Höhepunkt als Sammelbecken der Meinungen und Forderungen der schweizerischen Nazis, die nach einer ihrer Organisationen, der „Nationalen Front“, auch Frontisten genannt werden, hatten die „Schweizerischen Monatshefte“ in ihrem 13. Jahrgang (1933/34). „1933/34 stammten mehr als die Hälfte aller grösseren Aufsätze und fast sämtliche Leitartikel von den zwölf mir namentlich bekannten Frontisten“, schreibt Glaus S.194. Neben den bereits genannten Schweizer Nazis und ähnlich gesinnten sonstigen Rechtsextremen waren es nun insbesondere auch die Frontenführer Rolf Henne und Robert Tobler, welche in den „Schweizer Monatsheften“ ihre Sympathien für die damals in Italien und Deutschland herrschenden faschistischen Regimes äusserten.

Schliesslich wurde diese Ausrichtung des Blattes der dem Freisinn nahestehenden damaligen Herausgeberschaft zu extrem, obwohl ja gerade auch der Freisinn, etwa in Zürich, phasenweise durchaus ebenfalls mit den Frontisten kokettiert hatte und Wahlbündnisse mit ihnen eingegangen war. Per Ende März 1934 wurde Hans Oehler als Chefredaktor der „Schweizerischen Monatshefte“ entlassen (vgl. Glaus S. 196).


Wenn sich also heute die „Schweizerischen Monatshefte“ dem Publikum mit dem Untertitel präsentieren „Zeitschrift für Politik Wirtschaft Kultur / seit 1921“ (so auf den aktuellen Nummern von Februar und April 2009), dann stellt sich die heutige Leitung dieses Blatts ausdrücklich in die Nachfolge von Hans Oehler und seinem Umfeld. In dieser Nachfolge steht sie im übrigen auch ohne einen solchen Untertitel, es sei denn, diese Zeitschrift würde sich heute wirklich gründlich und abgrenzend ihrer braunen Vergangenheit stellen und diese ohne Scheu, d.h. unter Offenlegung aller einschlägigen Verbindungen und und ohne Schonung der damaligen Tonangeber, selber kritisch aufarbeiten. Eine solche Aufarbeitung wäre dann wohl das Ende der unkritischen Selbstempfehlung „seit 1921“ im Untertitel und auf der Website; auch das peinliche aktuelle Eigenlob der „Schweizer Monatshefte“ betreffend „jenes intellektuelle Profil, dem sie seit ihrer Gründung treu geblieben sind“, würde damit wohl hinfällig; eine solche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dürfte durchaus auch zu einer Umbenennung der „Autorenzeitschrift“ führen.

Die unbewältigte nazistische respektive frontistische Vergangenheit der „Schweizer Monatshefte“ ist ein schwerer Schlagschatten für ein Blatt, das sich liberal nennt. Sie ist aber wohl mit ein Grund, dass mein Artikel, der auch den Oehler-Freund und Hitler-Gastgeber Ulrich Wille junior kritisch erwähnt, in unliberaler Weise aus dem Dossier zum Thema Verdingkinder gekippt wurde.

Dieses Dossier zum Thema Verdingkinder, gesponsort von Dr. iur. Georges Bindschedler, ist im übrigen durchaus informativ und lohnt die Lektüre, abgesehen vom Artikel des früheren Herausgebers der "Monatshefte", Robert Nef, der sich in dieser Thematik noch nie hervorgetan hat. Nef versucht in seinem Beitrag absurderweise, in den Zeiten der aktuellen Finanzkrise sowie der staatlichen Milliardenhilfen für die gestrauchelten profitsüchtigen Helden des „freien Markts“, das Thema Verdingkinder für die Gemeinplätze seiner obsoleten neoliberalen Staatsfeindlichkeit einzuspannen.

Es war an der Zeit, dass die „Monatshefte“ sich endlich, wenigstens im Rückblick, dieses Themas annahmen, waren es doch Autorinnen und Autoren in Publikationen und Zeitschriften von anderem intellektuellem Profil gewesen, wie „Die Nation“ oder „Der schweizerische Beobachter“, welche das schon früher taten.

Wunderschön sind die Illustrationen des als Verdingkind aufgewachsenen Rüscheggers Walter Wegmüller, in dessen Kunst die Tarotfiguren eine wichtige Rolle spielen und der auch in der Radgenossenschaft der Landstrasse einige Jahre lang eine zentrale Figur war.

Ist es ein Zufall, dass immer wieder kritische Artikel von Redaktoren wegredigiert werden? Oder steckt dahinter eben doch der Wille zur Zensur unerwünschter Meinungen?

Dies muss natürlich in solchen Fällen strikt bestritten werden, heisst es doch in der geltenden schweizerischen Verfassung von 1999, Artikel 17, Absatz 2: „Zensur ist verboten.“


Der in den „Schweizerischen Monatsheften“ unerwünschte Text kann hier in einem Umfeld gelesen werden, das sich mit nazistischen, „eugenischen“, „rassenhygienischen“ und sonstigen rassistischen Ideologemen, insbesondere auch soweit sie in der Schweiz vertreten wurden, seit dem Jahr 2000, als www.thata.ch online ging, kritisch befasst.



Verdingkinder und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung – ein Überblick


Von Thomas Huonker


Seit dem „Bauernspiegel“ von Jeremias Gotthelf (eigentlich Albert Bitzius) – das Buch erschien 1837 – wussten auch belesene Städter, wie ein Verdingkind zu leben hatte. Auf dem Land war aus unmittelbarer Anschauung ersichtlich, was ein Verdingkind, ein Kostkind oder ein Hütekind, wie sie auch hiessen, kennzeichnete: Geflickte Kleidung, viel Arbeit, wenig Essen.

Genaueres wollte kaum jemand wissen. Selten stellte sich ein Lehrer, ein Nachbar, ein Pfarrer die Frage, wie es in den Seelen dieser verdingten Kinder aussah. Wahrscheinlicher war, dass diese Männer in der örtlichen Armenkommission darüber berieten, welchem Bauern man das nächste Kind aus „liederlichen“ Verhältnissen zuteilen würde, welches Kind einer unverheirateten Magd und eines verheirateten Bauern aus dem Nachbardorf, eines Dienstmädchens oder einer Geschiedenen aus der Grossstadt als nächstes in die lange Reihe der kleinen Kindersklaven zu treten hatte, und wieviel das die Armenkasse kosten würde.

Vertreter dieser Berufe sassen oft auch in den Aufsichtskommissionen von Armen- und Arbeitserziehungsanstalten Geladenen – dazu gehörte auch jährliches Festessen. Sie waren es, die dem Landjäger den entscheidenden Tipp geben konnten, in welche Richtung ein entwichener Verdingbub auf einem gestohlenen Velo unterwegs war, um seine Verwandten zu suchen.

Kaum jemand fragte sich, wie es in der Nacht im Schlafsaal von Erziehungsanstalten zuging, wie der Anstaltsvater die Missliebigen mit Haselruten prügelte, was er mit jenen tat, die er bevorzugte und belohnte, wie die Bettnässer ausgelacht und abgestraft wurden, was die Verdingkinder auf den abgelegenen Höfen durchlitten.

Einiges wussten die Amtsvormunde. Sie platzierten die Kinder, umsichtig besorgt um möglichst sparsamen Gebrauch des Armengeldes – wenn es nicht gerade ihren eigenen Lohn betraf – , gerne dort, wo es am billigsten war, und wo sie bei ihren Visiten mit ländlichen Köstlichkeiten bewirtet wurden. Dabei sahen sie über die karge Unterkunft, die Augenringe und die blauen Flecken ihrer Mündel hinweg.

Manches wussten die Polizisten, denen verweinte Kinder, die sie routiniert aufgriffen und identifizierten, stockend erzählten, weshalb sie aus ihren ausserfamiliären Pflegeplätzen weggelaufen waren.

Doch wirklich bis ins Detail wussten nur die Verdingkinder selber, wie es ihnen erging. Viele von ihnen sahen einzig noch den Tod als Ausweg. Selbstmord war bei Verdingten überproportional häufig.

Ab 1900 wurden professionelle Expertinnen und Experten des Armenwesens, der Kinderfürsorge und der Psychologie ausgebildet. Sie befassten sich wissenschaftlich mit dem Kinderelend in der Schweiz. Die meisten waren Spezialisten in der Schilderung der „Haltlosigkeit“ von Eltern, die beide arbeiten mussten oder erwerbslos waren, die trunksüchtig, unverheiratet oder gar „Vaganten“ waren. Sie formulierten Theorien, die Ursachen des Elends lägen im Grossstadtleben, im billigen Alkohol, im angeblich „minderwertigen Erbgut“ der Armen, in der Entchristlichung oder in der Moderne schlechthin.1

Auch das Buch von Pfarrer Albert Wild aus dem Jahr 1907 mit dem Titel „Die körperliche Misshandlung von Kindern durch Personen, welchen die Fürsorgepflicht für dieselben obliegt“ schildert vor allem Fälle der Misshandlung von Kindern durch ihre Eltern. Es gab und gibt diese Fälle, und wenn die Kinder solcher Eltern am Pflegeplatz nicht ebenfalls oder noch schlimmer misshandelt werden, sind Kindswegnahmen gerechtfertigt. Pflegeeltern und Heimleitende, welche den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen soziale Räume schaffen, die von Respekt, Menschenwürde und liebevoller Vertrautheit innerhalb der angemessenen Grenzen geprägt sind, verdienen hohes Lob. Wild hielt aber fest: „Auch in Anstalten versorgte, ihren Eltern weggenommene Kinder sind nicht immer vor körperlicher Misshandlung sicher. Wiederholt haben Anstaltsvorsteher sich an solchen Kindern geschlechtlich vergangen; gewiss kommen da und dort auch körperliche Misshandlungen vereinzelt vor, von denen nichts an die Öffentlichkeit durchsickert.“2 Als weitere Negativbeispiele nennt Wild die von „hartherzigen Nonnen“ unter dem Namen „Au Bon Pasteur“ geleiteten Erziehungsanstalten mit ihren „Quälereien, die für die armen Geschöpfe ausgesonnen und an ihnen durchgeführt wurden.“3 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die von eben diesem Pfarrer Albert Wild als Vertreter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, zusammen mit Ulrich Wille junior, damals erst Major, 1912 gegründete Stiftung Pro Juventute in den 1930er Jahren junge Mädchen in die Strassburger Filiale genau dieser Nonnenklöster einlieferte. Es waren Mündel von Alfred Siegfried, dem Leiter jenes „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“, das als Unterabteilung der Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 in einer ethnisch gezielten Aktion rund 600 jenische Kinder als Verdingkinder sowie in Heimen und Anstalten fremdplatzierte, um sie ihrer jenischen Identität zu entfremden und von ihrer Verwandschaft zu isolieren.4

Einige wenige Arbeiten kritisierten die ökonomischen Ursachen der Armut und die Brutalitäten der Armenpolitik, erstellten Analysen der Lohn- und Arbeitslosenstatistik oder fragten, weshalb die Schweiz denn, im Unterschied zu andern Ländern, erst so spät (es dauerte bis 1976!) eine allgemeine und obligatorische Arbeitslosenversicherung einrichtete. Solche kritischen Arbeiten befassten sich vorwiegend mit der Lage in der Industrie, etwa der Heimarbeit für die Tabak- und Stickereibranche, wo Kinderarbeit auch noch weiterbestand, als die Fabrikgesetze Kinderarbeit bereits verboten.5

Bis1978 gab es in der Schweiz keine landesweite gesetzliche Grundlage zur Kontrolle der Verhältnisse, also auch der Arbeitsverhältnisse, von Pflegekindern. Wohl betrieben schon vorher einige Kantone eine Pflegekinderaufsicht, aber oft so, dass Ausbeutung und Missbrauch eines grossen Teils der Fremdplatzierten nicht nur nicht behoben, sondern noch legitimiert wurde.

Gelegentlich obduzierten Ärzte die Leiche eines früh verstorbenen Verdingkinds und untersuchten dabei akribisch die speziellen Organverformungen. Wie und weshalb es dazu kam, wie das „Kostkind“ ernährt wurde, wie streng es arbeiten musste, ob es misshandelt wurde, interessierte nicht.6

Handbücher der Armenpflege und Fürsorge, später der Sozialarbeit waren bis 1962 im wesentlichen Verzeichnisse von Platzierungsvermittlungsorganisationen und Anstalten, mit genauen Kostenangaben.7

Neben solchen Schriften erschienen aber immer wieder Autobiografien von Betroffenen, oft im Selbstverlag.8 Selten wurden sie in den Abhandlungen der zuständigen Experten erwähnt, und wenn, wurden sie trotz ihrer meist präzisen und ehrlichen Darstellung als unglaubwürdige „Schauergeschichten“ abgetan.

Periodisch, nach besonders aufwühlenden Misshandlungen, kam es zur Skandalisierung der Thematik. Waren einige Zeitungsartikel geschrieben und begrenzte politische Debatten geführt, verfiel das Thema wieder der Verdrängung aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein.

Nach Gotthelfs „Bauernspiegel“ kam es in Bern zwischen 1847 und 1857 zu einiger Kritik am Verdingkinderwesen, im Umfeld der Debatten über die beiden Armengesetze dieser Jahre. Doch Verdingkinder gab es weiterhin, auch unter den neuen Gesetzen. Nach wie vor galt die Verdingung, neben der Anstaltserziehung, als angebrachte Form privater wie staatlicher „Fürsorge“ für arme Kinder.

Wiederum thematisiert wurde das Verdingkinderwesen, als in Bern das Armengesetz 1897 erneut revidiert wurde.9 Doch auch nach 1897 blieb die Verdingung eine gängige Form der „Armenpflege“. Selbst die laut Armengesetz verbotenen Mindersteigerungen an die billigsten Plätze fanden gelegentlich noch im 20. Jahrhundert statt.

Verdingkinder gab es keineswegs nur in Bern, sondern auch im Waadtland,10 im Aargau, in Luzern, eigentlich in der ganzen Schweiz, mit Schwerpunkt im Mittelland und in den Voralpen.

Die nächste Kritikwelle ging vom ehemaligen Anstaltszögling Carl Albert Loosli aus, dem talentierten Schriftsteller und scharfzüngigen Intellektuellen.11 Loosli eröffnete seine Kritik an menschenverachtenden Praktiken im schweizerischen Sozialwesen, insbesondere an der Administrativjustiz 12 – so hiess die Anstaltseinweisung ohne Gerichtsurteil – 1925 mit einem autobiografischen Erfahrungsbericht.13 Loosli war kein prinzipieller Gegner von Anstalten und Pflegefamilien. Er unterstützte Fritz Gerber, der die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon im Kanton Zürich ab 1926 nach neuen pädagogischen Gesichtspunkten führte, selbst dann noch, als Gerber in den 1950er Jahren von Zöglingen und einem Anstaltspfarrer zu Recht kritisiert wurde.14

Mit dem Namen Peter Surava (eigentlich Hans Werner Hirsch)15 verknüpft ist die Thematisierung der Leiden von Anstalts- und Verdingkindern in der Zeit von 1943 bis 1947, in Verbindung mit den berührenden Aufnahmen von Paul Senn,16 die in die schweizerische Fotogeschichte eingingen. In der Zeitung „Nation“,17 im „Schweizerischen Beobachter“18 und in anderen Zeitungen wurde die Situation der in Anstalten Internierten, der Bauernknechte, der Verdingkinder und Heimkinder thematisiert. Eine der kritisierten Anstalten, der „Sonnenberg“ ob Kriens LU, wurde in der Folge wegen der geschilderten skandalösen Zustände geschlossen.19

Diese Welle der Kritik führte 1948 auch zur Gründung der Pflegekinderaktion 20 durch den Zürcher Fremdenpolizisten Joseph Hilpertshauser; er wollte eine Art Lobby für Fremdplatzierte schaffen.21

Der Jugendbuchautor Kurt Held (eigentlich Kurt Kläber) schrieb Jugendbücher wie „Die rote Zora“ zur Kinderarmut in Jugoslawien und, zusammen mit seiner Frau Lisa Tetzner, „Die schwarzen Brüder“ über die als Kaminfeger (spazzacamini) ausgebeuteten Tessiner Kinderarbeiter. Sie erschienen 1941 und sind bis heute Bestseller. Kurt Held hat auch ein Jugendbuch zum Thema Verdingkinder in der Deutschschweiz verfasst. Es ist längst vergriffen und kaum bekannt.22

Besondere Publizität erhielt der Fall eines in Frutigen BE zu Tode gequälten Verdingkinds. Carl Albert Loosli erhob dazu in einer Artikelserie im Zürcher „Tages-Anzeiger“ einmal mehr seine Stimme für Menschlichkeit und Respekt im Fürsorgewesen.23 Die Stiftung Pro Juventute schickte „Dr. S.“ vor, um Loosli zu kontern.24 „Dr. S.“ war Alfred Siegfried, dessen „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“, wie erwähnt, Hunderte von jenischen Kindern ins Verdingkindersystem eingliederte.25 Der Fall in Frutigen führte, eine Seltenheit, zur gerichtlichen Verurteilung der „Pflegeeltern“. Meist war es umgekehrt; überproportional viele Fremdplatzierte wurden kriminalisiert. Die Gerichtsberichterstatterin Emmy Moor hatte ein besonderes Sensorium für Verdingkinder. Sie schildert einige Schicksale dieser Prägung in ihrem Buch „Der Gerichtssaal spricht“.26

Die nächste Welle der Kritik an den dunkeln Seiten des ausserfamiliären Aufwachsens im schweizerischen Sozialsystem war die Heimkampagne, geführt von Exponenten der Protestbewegung von1968. Sie gipfelte 1971 in der Massenflucht Dutzender von Zöglingen aus verschiedenen Anstalten. In Wohngemeinschaften fanden sie Unterschlupf. Die Heimkampagne kritisierte in Flugblättern, Artikeln und Demonstrationen Erziehungsanstalten wie die von Uitikon ZH als „grausiges Relikt“.27

Die letzte Welle der Thematisierung der Situation von Verding- und Heimkindern ist jüngsten Datums. Wichtig war die vorgängige Aufarbeitung der Geschichte der fremdplatzierten Jenischen. Dieser zahlenmässig kleinen, aber seit 1975 in einer Organisation, der Radgenossenschaft der Landstrasse, agierenden ethnischen Gruppe gelang es zwischen 1975 und1990, ihre Verfolgungsgeschichte ins breite öffentliche Bewusstsein zu bringen sowie – allerdings schäbige – Entschädigungen für die erlittenen Kindswegnahmen, Anstaltseinweisungen und Zwangssterilisation durchzusetzen. Letzteres im Unterschied zu den weit zahlreicheren Opfern solcher Praktiken in der Schweiz, welche ohne „Begründung“ durch antiziganistischen Rassismus erfolgten. Deren Entschädigung lehnten Bundesrat und Parlament am 15. Dezember 2004 ab.28

Einige Radiosendungen über Verdingkinder wurden in den 1990er Jahren ausgestrahlt.29 Zeitungen und Fernsehen machten ab 1999 das Thema Verdingkinder breit publik.30 Arthur Honegger und Lotty Wohlwend publizierten ein Sachbuch zum Thema mit grossem Verkaufserfolg.31

Im November 2004 trafen sich – eine Première – rund 220 ehemalige Verdingkinder in Glattbrugg zu einer Tagung.32 Sie gründeten einen Verein.33 Dieser bestand nur drei Jahre, doch entstand ein Nachfolgeverein.34 Die Selbstorganisation der Betroffenen war hilfreich beim mühsamen, aber letzlich erfolgreichen Anschub eines Nationalfondsprojekts,35 nachdem schon eine Gruppe um Geneviève Heller in Lausanne wissenschaftliche Interviews mit Betroffenen führte.36 Das von den Basler Professoren Ueli Mäder und Heiko Haumann umsichtig geleitete Nationalfondsprojekt erbrachte 300 weitere ausführliche Interviews mit ehemaligen Verdingkindern und ein aussagekräftiges Buch.37 Im Umkreis des Projekts entstanden zusätzliche Vorhaben, so die Wanderausstellung „Enfants volées / Verdingkinder reden“, mit Start am 25. März 2009 in Bern. Mehrere jüngere Forschende bearbeiteten in den letzten Jahren das Thema in ihren Abschlussarbeiten.38 Eine krasse Forschungslücke der schweizerischen Sozialgeschichte wird somit endlich behoben.

Dieses sozialhistorische Manko von langer Dauer formulierte Marco Leuenberger in seiner unpubliziert gebliebenen Freiburger Lizentiatsarbeit von 1991, der bis damals einzigen kritischen wissenschaftlichen Arbeit zur Thematik, wie folgt: „Dass eine schon rein zahlenmässig so bedeutsame Gruppe, wie sie die Verdingkinder darstellten, von der Geschichtsschreibung bisher weitgehend ignoriert wurde, gibt zu denken. Bis weit ins 20. Jahrhundert wuchsen nämlich allein im Kanton Bern rund 5 % aller Kinder in Fremdpflege auf.“39 In der gesamten Schweiz waren dies, über das 19. und 20. Jahrhundert gerechnet, Hunderttausende von Menschen. In der Krise der 1930er Jahre und während des erhöhten landwirtschaftlichen Hilfskräftebedarfs in der Kriegszeit, aber auch noch in den 1950er Jahren, erreichten die Zahlen zumeist streng arbeitender fremdplatzierter Kinder ihre Höchstwerte. Auch heute noch gehören zu sehr vielen Schweizer Familien, wenn sie nicht gerade aus den Kreisen der Höchstprivilegierten stammen, in der näheren oder ferneren Verwandtschaft Betroffene aus der Gruppe der Fremdbetreuten. Lange hatten viele von ihnen Scham- und Minderwertigkeitsgefühle, wiesen sich selbst oder ihren Eltern die Schuld am Verlauf ihrer Kindheit zu und verschwiegen diese Lebensphase nach Möglichkeit. Erst das ab 2000 verstärkte Interesse und Verständnis der Öffentlichkeit änderte das ein Stück weit. Die Thematisierung des Erlittenen ist aber immer noch schmerzlich.

Die ganze Zeit zuvor blieb die weiter oben erwähnte Reihe bitterer autobiografischer Schriften, neben den manchmal für die Betroffenen entgegen der klaren Rechtslage zu ihrem Einsichtsrecht nur schwierig zugänglichen Amtsakten zu den „Fällen“, die einzige Darstellung der sozialen Lage der vielen Verdingkinder; vornehm ignorierte die auf Schriften und Sichtweisen der Bessergestellten fixierte akademische Forschung die erniedrigenden, ausbeuterischen, rohen und vielfach geradezu sadistischen Formen dieser sozialen Situation, welche bis in die 1970er Jahre in der Schweiz harter Alltag für viele Kinder und Jugendliche war.

Eine andere Einsicht macht den Rückblick auf die Wahrnehmung und die jahrhundertelange Praxis des Verdingkinderwesen nicht weniger bitter. Die Verdingung von Kindern wurde nicht aufgrund der immer wieder vorgebrachten Kritik an seiner ethischen Unhaltbarkeit und seelischen Grausamkeit abgeschafft. Vielmehr hatte ihr Ende ökonomisch-technologische Gründe. Die Landwirtschaft brauchte nach ihrer Mechanisierung, verbunden mit dem Aufkauf von Kleinbauernhöfen durch grössere Betriebe, nach 1970 keine ländlichen Kinderknechte mehr. Tannzapfen, Reisig und Pferdemist wurden nicht mehr gesammelt, Heuwender und Heulader ersetzten Rechen und Heugabel, Kartoffeln wurden maschinell gesät und geerntet, elektrische Drähte erfüllten die frühere Funktion der Hütekinder. So wurde das jahrhundertelang ergebnislos kritisierte Verdingkinderwesen von der alltäglichen, aber verdrängten Realität zum Thema später Aufarbeitung eines weiteren düsteren Kapitels der Schweizer Geschichte.



Anmerkungen


1 J. L. Frei: Emanzipation und Verwilderung der Jugend, Solothurn 1877; P. A. Boechat: Les ennemis de l’enfance, Genève 1881; Franz Studer-Trechsel: Die bernische Gotthelf-Stiftung, Bern 1891; vgl. dazu auch die Jahresberichte der Gotthelfstiftung, Bern 1888 ff. sowie M. von Schiferli: Die Gotthelfstiftung, Verein zur Erziehung armer und verwahrloster Kinder im Kanton Bern, Bern 1902; R. Lengweiler: Die Zwangserziehung der verwahrlosten, lasterhaften und verbrecherischen Jugend, St. Gallen 1895; K. Demme: Die humanitären und gemeinnützigen Bestrebungen und Anstalten im Kanton Bern, Bern 1905; G. Bosshart: Kinderschutzbestrebungen, Zürich 1907; C. Beyel: Der Kinematograph und seine Gefahren, Zürich 1912; E. Mühlethaler: Die Jugendfürsorge im Kanton Bern, Bern 1915; J. Leuenberger: Amtsvormundschaft und Jugendfürsorge, Bern 1916; Hans Weiss: Das Pflegekinderwesen in der Schweiz, Diss. Zürich 1920; H. Müller: Das staatliche Eingreifen in die Elternrechte zum Schutze der Person des Kindes, Diss. Zürich 1923; Eduard Montalta: Jugendverwahrlosung mit besonderer Berücksichtigung schweizerischer Verhältnisse, eidgenössischer und kantonaler Erlasse, Zug 1939. Zur Hinterfragung solcher Literatur im historischen Rückblick vgl. Hannes Tanner: Pflegekinderwesen und Heimerziehung in der Schweiz, in: Gabriel Colla u.a. (Hg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, Neuwied 1999, S.95-102; Nadja Ramsauer: „Verwahrlost“. Kindswegnahmen und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900 bis 1945, Zürich 2000; Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, „Eugenik“ und Psychiatrie zwischen 1890 und 1970, Zürich 2002

2 Albert Wild: Die köperliche Misshandlung von Kindern durch Personen, welchen die Fürsorgepflicht für dieselben obliegt. Zürich o.J. (1907), S.38

3 Ibid. S.39

4 Mariella Mehr: Kinder der Landstrasse – Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen, Bern 1987; Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe, Zürich 1987 (darin S.136-218 und S.230-248 wortgetreu protokollierte lebensgeschichtliche Interviews mit jenischen Verdingkindern); Walter Leimgruber / Thomas Meier / Roger Sablonier: :Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv, Bern 1998; Dazzi, Guadench, u.a.: Puur und Kessler, Sesshafte und Fahrende in Graubünden, Chur 2008

5 J. Frey: Die Überbürdung von Kindern durch Stickerarbeit und ihre Folgen für Schule und Haus, St. Gallen 1897; Clara Wirth: Die Kinderheimarbeit in der aargauischen Tabakindustrie, Zürich o.J. (1911)

6 Erachmiel Tschernobrow: Über eine Geschwulst der Nebenniere bei einem elfjährigen Knaben mit frühzeitiger Geschlechtsentwicklung. Diss. med., Zürich 1919; Thomas Huonker: Eine medizinische Dissertation über den Tod eines elfjährigen Verdingkinds. Online auf http://www.thata.ch/todeines11jaehrigenverdingkinds.pdf

7 Albert Wild: Veranstaltungen und Vereine für Soziale Fürsorge in der Schweiz, Zürich 1910; Ders.: Soziale Fürsorge in der Schweiz, Zürich 1919; Ders.: Handbuch der sozialen Fürsorge in der Schweiz, Zürich 1933; Emma Steiger (Hg.): Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz, Zürich 1948; Walter Rickenbach: Sozialwesen und Sozialarbeit der Schweiz, Zürich 1962. Erst mit der zweiten Auflage des letztgenannten Werks von 1968 und der dritten von 1971 verschwanden die Anstaltsverzeichnisse aus den Standardwerken der schweizerischen Sozialarbeit – dafür wurde auf separate Verzeichnisse, etwa auf kantonaler Ebene, verwiesen. Hingegen wurde neu auch fremdplatzierungskritische Literatur aufgeführt, so in der dritten Auflage des Werks von Walter Rickenbach das Buch von Peter Brosch: Fürsorge, Heimterror und Gegenwehr, Frankfurt am Main 1971. Das von Maja Fehlmann, Christoph Häfeli, Antonin Wagner und anderen herausgegebene „Handbuch Sozialwesen Schweiz“, Zürich 1987, ist soziologisch orientiert und enthält einen Schlussteil „Stationäre und sonderpädagogische Einrichtungen (Heimwesen“ (S. 349 – 360), der sich als historische Darstellung der Anstalten und Heime der Schweiz versteht. Dort steht betreffend das 20. Jahrhundert: „Die Heime bejahen grundsätzlich die Gesellschaft in ihrer Form und übernehmen den Auftrag, kleine deviante Randgruppen in diese Gesellschaft zu integrieren.“ (S.349)

8 Der älteste Lebensbericht eines Verdingbuben sind die Memoiren von Thomas Platter aus dem 16. Jahrhundert: Thomas Platter, Lebensbeschreibung, Basel 2006, zur Zeit als Verding- respektive Hütekind S.28-35. Im folgenden eine Liste von solchen Berichten ab 1924: Carl Albert Loosli: Anstaltsleben. Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszöglings, Bern 1924; Ders.: Ich schweige nicht! Erwiderung an Freunde und Gegner auf ihre Äusserungen zu meinem "Anstaltsleben", Bern 1925; Gotthard Haslimeier: Aus dem Leben eines Verdingbuben, Affoltern am Albis 1955, Keller-Güntert Gottfried, Ein Verdingbub oder: Gibt es einen Gott? Ein Lebensbild, Andelfingen 1969, Arthur Honegger: Die Fertigmacher. Erstauflage 1974, Neuauflage Frauenfeld 2004; Hans Jäger: Wenn ich nicht geschrieen hätte... Aufzeichnungen und Protokolle eines Ausgestossenen, Stuttgart 1975; Rosalia Wenger: Rosalia G. Ein Leben, Bern 1978; Rosalia Wenger: Warum hast du dich nicht gewehrt.Aufzeichnungen, Bern 1982; Werner Mooser: Meine Lebensgeschichte, in: Alfred Messerli (Hg.): Flausen im Kopf. Schweizer Autobiografien aus drei Jahrhunderten, Zürich 1984, S.255-284; Louisette Buchard: Le tour de suisse en cage. L'enfance volée de Louisette, Yens 1995; Fritz Käser-Maurer: Franz - Verdingbub und Fremdenlegionär,Kirchberg 1995; Kasy Kunz: Der Verdingbub, Willisau 1996; Franz Meier: Der wahre Lebenslauf eines Verding-Buben, o.O, o.J.; Rosa Jakob: Vom goldenen Futternapf. Eine Biographie aus dem Emmental, Zürich 1999; Paul Jecklin / Brigitte Schneebeli: Paul – eine besondere Frau, Dietikon 2000; Katharina Lenggenhager: "z'Verdingmeitschi", e Zyt i mim Läbe, Gais 2000; Peter Paul Moser: Entrissen und entwurzelt, Thusis 2000; Ders.: Die Ewigkeit beginnt im September, Thusis 2000; Ders.: Rassendiskriminierung und Verfolgung während einer ganzen Generation, Thusis 2002; Pierre-Alain Savary: Hymne à l’amour d’un misogyne passionné, Fribourg 2003; Niklaus Amacker: Die Lebensgeschichte eines armen Bergbuben aus dem Toggenburg, 2004, Dora Stettler: Im Stillen klagte ich die Welt an. Als "Pflegekind" im Emmental, Zürich 2004; Arthur Weber: Und keiner hört den stummen Schrei, Sempach o.J., Elisabeth Wenger: Lisa – ein Pflegekind auf Heimatsuche. Eine wahre Geschichte, o.O, 2004; Fritz Aerni: Wie es ist, Verdingkind zu sein. Ein Bericht, Zürich 2004; Hans Oppliger; Der Makel - Geschichte eines Verdingkinds, Frankfurt 2007; Roland Begert: Lange Jahre fremd. Biographischer Roman, Bern 2008

9 S. Orell: Zum Kinderhandel. Verkostgeldung armer Kinder an Wenigstfordernde. In: Die gemeinnützige Schweizerin, Bd.25, Nr.6, S.25, Zürich 1895

10 Sandra C. Andres: "L'institution cantonale en faveur de l'Enfance malheureuse et abandonnée". Rechtliche und soziale Aspekte des Verdingwesens im Kanton Waadt 1888-1939, Lizentiatsarbeit Zürich 2005.

11 Erwin Marti: Carl Albert Loosli 1877-1959, Bd.I Zürich 1996, Bd.2 Zürich 1999; Carl Albert Loosli: Werke Band I-VII, Zürich 2006 ff.

12 Carl Albert Loosli: Administrativjustiz und Schweizerische Konzentrationslager, Bern 1939

13 Carl Albert Loosli: Anstaltsleben. Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszöglings, Bern 1924; Ders.: Ich schweige nicht! Erwiderung an Freunde und Gegner auf ihre Äusserungen zu meinem "Anstaltsleben", Bern 1925; Ders.: Erziehen, nicht erwürgen! Gewissensfragen und Vorschläge zur Reform der Jugenderziehung, Bern 1928

14 Carl Albert Loosli: Psychotherapie und Erziehung. Ein Rückblick auf den Streit um die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon, Stäfa 1952.

15 Peter Hirsch: Er nannte sich Peter Surava, Stäfa o.J. (1991); Erich Schmid: Abschied von Surava, Zürich 1998

16 19 eindrückliche Fotos von Paul Senn sind abgedruckt auf dem Umschlag und im Bildteil von Marco Leuenberger / Loretta Seglias: Versorgt und Vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, Zürich 2008

17 Der erste Artikel von Peter Surava (Text) und Paul Senn (Fotos) zur Thematik hiess „Chrigel der Verdingbub“, Nation, 18.11.1943

18 Folgende Artikel im Schweizerischen Beobachter, Basel: Das Gesetz, ein schöner Mantel über der Blösse der Menschen, in Nr.14, 31.7.1945; Das Verdingkinderproblem, einmal anders gesehen, in Nr.17, 15.9.1945; Ein Pestalozzidorf für Verdingkinder? In Nr.5, 15.3.1946. Das Volk soll mithelfen! In Nr.8, 30.4.1946; Was ist los mit dem Schweizervolk? In Nr.11, 15.6.1946; Wieder eine Verdingkindertragödie, in Nr.15, 15.8.1951

19 In der „Nation“ erschienen zur Anstalt Sonnenberg folgende Artikel: Am 30.8.1944 "Ein gewisser Josef Brunner"; am 6.9.1944 "Was geschieht in der Anstalt Sonnenberg?"; am 13.9.1944: "Was geschieht nun in der Anstalt Sonnenberg?"; am 20.9.1944.: "Wie in der Anstalt Sonnenberg erzogen wurde"; am 27. 9. 1944: "Die schweizerische Anstaltskrise, Die Anstalt Sonnenberg": am 11.10.1944: "Wir schliessen die Sonnenberg-Akten, Sensation?"; am 21. 3.1945: "Justizkrise oder Anstaltskrise?". Der abgesetzte Leiter der aufgehobenen Anstalt schrieb eine rechtfertigende Darstellung seines früheren Wirkens: J. Brunner: Die Tragödie vom Sonnenberg bei Luzern. Eine notwendige Aufklärung über die Sonnenberg-Affäre, ihre Hintergründe, Folgen und Auswirkungen. Luzern o.J.

20 Zur Geschichte der Pflegekinderaktion vgl. http://www.pasg.ch/wissen.htm

21Es geht vorwärts mit der Pflegekinder-Aktion des Beobachters!“ In: Beobachter, Basel, Nr. 22, 30.11.1946

22 Kurt Held: Mathias und seine Freunde, Aarau 1950

23 Tages-Anzeiger vom 16.3.1945; 27.3.1945; 13.6.1945; 25.7.1945; 18.10.1945; 2.11.1945; 21.11.1945; 5.3.1946; 16.5.1946; 23.7.1946; 3.5.1947; 18.8.1947; 1.9.1947; 16.10.1947; 19.12.1947; 21.1.1948; 22.3.1948; 21.7.1948; 10.3.1949

24 Tages-Anzeiger vom 1.9.1947

25 Einen zweiten Artikel zum Fall publizierte er unter vollem Namen: Alfred Siegfried: Nochmals das Verdingkind von Frutigen, in: Pro Juventute, Nr.2/1946, S.41-46

26 Emmy Moor: Der Gerichtssaal spricht, Zürich 1944. Hinweise auf das Aufwachsen als Fremdplatzierte in den auf S.10-36 geschilderten Fällen.

27 Über ein grausiges Relikt im Kanton Zürich. Broschüre der Heimkampagne, Zürich 1971

28 Vgl. das Protokoll der Debatte des Nationalrats vom 10. März 2004, die mit der Reduktion der ursprünglich vorgeschlagenen 80'000.- Franken pro geschädigte Person auf 5000.- ausging. Die endgültige Ablehnung jeglicher Entschädigung für Zwangssterilisierte und Zwangskastrierte beschloss der Nationalrat am 15. Dezember 2004. Der damalige Justizminister Christoph Blocher (SVP) sagte in der Debatte, es gelte zu vermeiden, dass der Staat möglicherweise auch Verdingkinder und administrativ Internierte entschädigen müsse.

29 Sendung "Mosaik": "En Appezöller Verdingbueb verzöllt." Radio DRS, 21.8.1990;
Sendung "z.B.": "Verdingbub", Radio DRS, 20.4.1993; Folgesendung: "Es settigs Meitschi";
Sendung "Familienrat": Verdingkinder / Pflegekinder", Radio DRS 1, 21.12.1993.

30 Zeitungsartikel: Frances Stonor Saunders: The Vanishing, in The Guardian Weekend, 15.4.2000; Walter Hauser: Allein mit dem Horror, in Facts 1/2002; Gisela Widmer: He, wer will diesen Buben? in Tages-Anzeiger Magazin, Nr.16, 20.-24.4.2002; Werner Zurfluh: Als die Kinder versteigert wurden, in Solothurner Zeitung, 19.8.2002; Erwin Marti: Der Fall von Lüthiwil, in Berner Zeitung, 5.11.2002; Christoph Lauener: Stich ins Herz – mit der Heugabel, in Sonntags-Zeitung, 15.6.2003; Ders.: Der Bund zählt lieber Kühe als Pflegekinder, in Sonntags-Zeitung, 15. 6. 2003; Rita Jost: "Als Verdingbueb isch me dennzumal eifach dr Esel gsi. Fertig", in: Saemann, Oktober 2003; Meta Zweifel: Ungeliebte Niemande, in: Leben und Glauben, Nr. 47, 20.11. 2003; Beat Grossrieder: Waisenschicksale. Mit gesenktem Kopf durchs Leben, in Beobachter 26/2003, 24.12.2003; Kim Willsher: "My life consisted of working and sleeping", in Sunday Telegraph, 14.3.2004. Fernsehsendungen: Verdingkinder. Dokumentarfilm von Peter Neumann, SFDRS 29.12.2003; Lotty Wohlwend und Renato Müller: Turi. Ein Film über Arthur Honegger; Helen Arnet: Sechsteilige Fernsehserie von SFDRS "Verdingkinder in der Schweiz", ausgestrahlt im Januar und Februar 2004 in der Sendung "Schweiz aktuell" (Auf diese Sendungen hin meldeten sich jene mehr als 200 Betroffenen, welche eine Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichten wünschten und von denen viele an der Tagung vom 28.11. 2004 in Glattbrugg teilnahmen); "Quer". Röbi Koller im Gespräch mit Robert Wenger. SFDRS 1, 26.11.1999; Temps présents: "Enfances brisées", TSR I, 6.1.2005; Europamagazin: „Verdingkinder“, ARD, 15.1 2005; „Verdingkinder“, ARTE, 11.2.2005.

31 Lotty Wohlwend / Arthur Honegger: Gestohlene Seelen. Verdingkinder in der Schweiz, Frauenfeld 2004

32 Vereinigung Verdingkinder suchen ihre Spur: Bericht zur Tagung ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in Glattbrugg bei Zürich. Redaktion: Marco Leuenberger, Loretta Seglias, Thomas Huonker, Zürich 2005

33 http://www.verdingkinder-suchen-ihre-spur.ch

34 http://www.netzwerk-verdingt.ch/

35 http://www.verdingkinder.ch/snf-projekt.html

36 Geneviève Heller, Pierre Avvanzino, Cécile Lacharme: Enfants sacrifièes. Tèmoignages d’enfants plaçés entre 1930 et 1970, Lausanne 2005

37 Marco Leuenberger und Loretta Seglias (Hg.): Versorgt und Vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, Zürich 2008

38 Sibylle-Katja Bossart: „Die Liebe zu diesen wehrlosen Kleinen drängte uns sehr!“ Das Kost- und Pflegekinderwesen in Appenzell Ausserrhoden zwischen Wohltätigkeit und Sozialdisziplinierung 1907-1943. Lizentiatsarbeit Zürich 2005; Marco Finsterwald: Kindswegnahmen durch das Jugendamt Bern in den 1950er Jahren, Lizentiatsarbeit Bern 2005; Hehli, Anne: Orphelins et enfants placés dans le canton de Fribourg, 1890-1970, Lizentiatsarbeit Fribourg 2005; Balz, Brigitte: Kinder ehemaliger Verdingkinder. Umgang mit Mangel, Lizentiatsarbeit Basel 2007; Myriam Isenring, Zwischen Gesetzen, der Kostenfrage und guten Absichten. Die gesetzliche und praktische Entwicklung des Kost- und Pflegekinderwesens im Kanton St.Gallen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Lizentiatsarbeit Zürich, Zuzwil 2008; Mirjam Häsler: In fremden Händen. Die Lebensumstände von Kost- und Pflegekindernin Basel vom Mittelalter bis heute, Basel 2008

39 Marco Leuenberger: Verdingkinder. Geschichte der armenrechtlichen Kinderfürsorge im Kanton Bern 1847-1945. Lizentiatsarbeit, Fribourg 1991, S.2. Zur Geschichte der Anstaltserziehung ebenfalls nur wenige Arbeiten, etwa: Jürg Schoch, Heinrich Tuggener,  Daniel Wehrli: Aufwachsen ohne Eltern. Verdingkinder – Heimkinder – Pflegekinder – Windenkinder. Zur ausserfamiliären Erziehung in der deutschen Schweiz, Zürich 1990; Marianne Hochuli Freund: Heimerziehung von Mädchen im Blickfeld. Untersuchung zur geschlechtshomogenen Heimerziehung im 19. und 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz. Diss. Zürich 1997, Heidelberg 1999. Es ist zu hoffen, dass das ab 2002 zunhemende Interesse an der Verdingkinderproblematik auch die Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung in der Schweiz vorantreibt.