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Thomas Huonker MONDFISCH

Kapitel I

Haben Sie den Mond einmal aufgehen sehen, von einer Bergkuppe aus, mitten in den eben erloschenen, aber noch lila, rosa, grauviolett nachdämmernden Sonnenuntergang hinein? Den gelben, käsigen, scharf konturierten Vollmond, vollfett? Ueber einer Alpweide? Ueber Fels und Schneefirn? Haben sie, noch geblendet von Abbrennen der Sonne auf der anderen Seite der Erde, sich umgedreht und das milde Dämmerlicht des Mondes genossen? Haben Sie?

Schön.

Haben Sie nicht? Dann schreiben Sie VOLLMOND in ihre Agenda, und halten Sie sich an die Abmachung.

Es ist Frühsommer, bereits badet ein mutiges Liebespaar nackt in den Wehlauen. Die Wehl ist noch kalt, sie kommt von den Bergen, Felsen, Gletschern herunter. Um so wärmender sind die zuerst feuchten und klammen, dann innigen und heissen Berührungen der beiden, wenn sie aus dem Wasser steigen, am Ufer liegen.

Sie werden es wieder tun, es wird bald auch nachts noch schwül und heiss sein, vielleicht hat es dann zuviele Leute hier, aber das soll ihnen egal sein.
Sie wühlen sich eins ans andere, aufs andere, ins andere, sie spüren ihre Körper, sie schliessen ihre Augen.

Sie achten nicht auf einen invaliden Hundebesitzer, der bei Vollmond nicht schlafen kann und seinem Schnauzerbastard deshalb den Gefallen eines nächtlichen Ausgangs tut.

Der Invalide seufzt. Er bleibt nicht stehen, er wird nicht stören. Er muss auf die Steine und Wurzeln achten im Halbdunkel. Der Hund ist schon weit vorausgerannt, zum übernächsten Uferplatz. Dort sucht der Hund das Apportierholz. Es wird den Invaliden Kraft kosten, das Holz in den Fluss zu werfen, wieder und wieder, aber in den Armen hat er Kraft. Nur seine Füsse sind krumm, von Geburt auf, durch viele Operationen teils verbessert, teils verschlechtert. Er kann sich mit einem Stock hinter seinem Hund herschleppen, was will er mehr. Ein Tier raschelt im Unterholz. Der Invalide ist stolz darauf, dass der Hund nicht jagt.
Er selbst, der Krüppel, wird gejagt von den Gesunden, die besser und schneller sind, immer. Sein Hund ist ein Hirtenhund, ein Hirtenhund ohne Herde.

Der Mond spiegelt, wiegt und wellt sich in den langsamen Strudeln und Wirbeln der Wehl. Leuchtstrudel, Mondwirbel, Nachtwellen. Ein schönes Bild.

Niemand sieht es, ausser dem Fischreiher, der im Gegenstrom vor der Schilfbank steht und lauert, aber nicht auf den Mondschein. Ein Fisch springt, klatscht zurück.
Das Apportierholz, endlich geworfen vom Herrn des Hundes, klatscht auch auf die Wellen, fast unsichtbar, an einer Schattenstelle. Der Hund rast spritzend ins Wasser, beginnt zu schwimmen, von seiner Schnauze starten gleichschenklige Bugwellen und verlieren sich flussabwärts in den Fischstrudeln, Mondwellen.
Auch der Hund treibt ab, wird unsichtbar im dunklen Schatten der hohen Erlen weiter unten am anderen Ufer.
Schwarzer Nachthund, Nichthund.

Das ist das Mondprogramm, Nachtprogramm, Erdprogramm.

Es ist noch nicht ganz ausgeschaltet.

Wehlach liegt zwischen der nördlichen und der östlichen Hauptstadt am Zusammenfluss von Wehl und Ach.
Vier Hauptstädte hat der Kleinstaat, das ist richtig so, nicht nur die einen sollen die grössten sein. Ein geografisches und politisches Unikum, die östliche und die nördliche Hauptstadt sind deutschsprachig, die westliche spricht französisch, die südliche italienisch, drei davon liegen an einem See, hier herrscht kein Bürgerkrieg, zurzeit, der letzte, ein Religionskrieg, liegt fast anderthalb Jahrhunderte zurück.

Es ist ein schönes, reiches, überdüngtes Land, die andern Städte sind Dörfer, und die Dörfer sind Agglomerationen, Menschenballungen, Gebäudehaufen, die Schuhschachtelmenschenkäfige kaum zu unterscheiden von den Warenlagerhallen längs der Transitlinien.

Haben Sie als Kind noch Maikäfer gehalten, im Mai, in Schuhschachteln, und sie mit Laub gefüttert?
Erinnern sie sich an ihren Geruch?
Nichts riecht wie Maikäfer.
Die Maikäfer sind am Aussterben.
Es gibt Schulvideos über Maikäfer.
Geruchlos und lehrreich.
Die nächtlichen Raser auf der Umfahrungsstrecke sehen nichts von Fluss, Wald, Mond. Ihre Scheinwerfer und Abblendlichter zerfetzen Nacht und Mondschein.

Nachtfalter kleben auf den Frontscheiben, der Fahrerblick klebt an der Strasse. In der Stadt, die Stadtpräsidentin bezeichnet sie als Mittelstadt, fressen die Lichter der Schaufenster, der Strassenlampen, der Reklamen den Mondschein. Auch das blaugraue Flimmerlicht aus den abgedunkelten Wohnstuben trägt bei zur Zerstörung des Dunkels der Nacht.

Die Luft über Wehlach ist nicht einfach Luft. Sie enthält Schadstoffpartikel. Es gibt Statistiken darüber. An der Autobahnausfahrt Wehlach Ost ist die Luft besonders partikelhaltig. In den Wehlauen riecht die Luft nach Fluss, nach Walderde, nach Nebel.
Der Fluss verströmt ein leichtes Waschmittelparfum.
Die Wehlacher sind saubere Leute, der Ausfluss ihrer Kläranlage schaumig. Im Juni, Zeit der Schneeschmelze in den Bergen, ist dieser neue Flussgeruch stark verdünnt, der alte Flussgeruch mit Fisch, Wasserlinse, toter Ente, ein bisschen Seegeruch auch vom Stausee zehn Kilometer oberhalb, der alte Flussgeruch ist da und passt zum alten Mond, zum braunen Humus aus den alten toten Blättern und Nadeln, zu den alten rundgeschliffenen Ufersteinen, zum Pilzgeruch.

Der Invalide sammelt keine Pilze mehr seit Tschernobyl.

Das Liebespaar kriecht in einen Doppelschlafsack, unter der alten Eiche liegt trockenes Laub, sie schauen durch die lichte Krone auf den Mond, sie atmen tief. Sie küssen sich, können kaum aufhören und sind doch ausser Atem und brauchen Luft.

Sie hat die empfindlichere Nase, er sagt: Riechst du den Fluss? Sie sagt: Ja, ich rieche ihn. Schade, dass der Müllofen auch nachts brennt. Riechst du auch den leichten rauchigen Moder über dem Flussgeruch? Er sagt: Ich rieche dich, du Menschenfleisch. Er drückt sein Gesicht in ihr Haar, beisst sie sanft in den Hals. Sie legt die Hand auf seinen Bauch.

Die Sterne glimmen schwach, ihr Glanz ist ärmlich, trübe.
Vom rauschenden Band der Autobahn und vom Stadtrand her steigt orangegraues, schmutziggelbes, diffuses Licht in den Himmel. Fiele eine Sternschnuppe, sie sähen sie nicht. Ihre Wünsche sind auch so gestillt, fast, denn jede Nacht können sie das nicht machen, hat sie gesagt. Wieso eigentlich nicht. Vielleicht wegen der Wurzel, die gegen die Hüfte drückt. Und wofür bezahlen sie denn Miete und Möbel?

Sie sind wegen Tante Emma in die Auen gegangen.
Tante Emma macht jedes Jahr Verwandtentour. Sie ist lieb und rüstig. Sie backt in allen Backöfen, die sie besucht, jeden zweiten Tag einen Kuchen.

Rübenkuchen, Kartoffelkuchen, Mandelkuchen, Schokoladekuchen, Streuselkuchen, Hefekranz. Tante Emma hat es verfehlt, Bäckerin zu werden, sie backt trotzdem und deswegen. Im Juni ist sie beim Neffen Michael. Zwei Wochen lang wird Kuchen gegessen, die Verwandtschaft durchgehechelt.

Ja, wenn das deine Eltern noch erlebt hätten, die hätten Freude an euch. Trag Sorge zu Olga, eine bessere findest nicht, sagt Tante Emma.

Die Wohnung wird bis in die letzten Winkel geputzt, zuerst von Michael, vor dem Besuch, dann von der Tante noch überall dort, wo der Neffe nicht einmal Unsauberkeit ahnen würde. Die Tante reist nächste Woche weiter, nach Achtingen, zu Onkel Egon.

Tante Emma hat Verständnis für die Liebesflucht ihres Gastgebers und seiner Freundin. Die würden sich durch ihre Gegenwart auf dem Stubensofa im Schlafzimmer nebenan leicht bedrängt fühlen. Dummerweise hat Olga in ihrer Bude auch Gäste, zwei Frauen aus Holland, es findet in Wehlach ein Kongress über feministische Sprachforschung statt.

Als junges Mädchen habe sie das auch getan, sagt Tante Emma, nein, nicht feministische Sprachforschung, zum Fenster hinaus sei sie geklettert, zum nächtlichen Stelldichein. Michael glaubt es ihr nicht ganz.
Für ihn ist sie Tante Emma, die Kuchen backt.

Also verrauchen die flachländischen Feministinnen Olgas Bude, Tante Emma verbreitet in Michaels Wohnung Häuslichkeit, der Neffe und seine Freundin sind am Fluss.

Michael und Olga frieren jetzt doch ein bisschen unter ihrer lichten Eiche, sie rollen sich ein.

Tante Emma friert gar nicht. Während der Kuchen, eine Neukreation, Mandel und Haselnuss mit einem Schuss Amaretto, bei milder Hitze reift, lebt sie im Krimi.

Tante Emma hat Mühe mit der Fernbedienung, und ihr eigener Fernseher ist ein Grossformat, auch der Winkel des Sofas zum Bildschirm ist ungewohnt, aber der seelische Einstieg gelingt ihr doch, sie fährt mit im gestohlenen Auto, das endlich anspringt, die Zündkabel hat der blonde Schnauzbart mit behandschuhten Fingern brutal, aber gekonnt herausgerissen und kurzgeschlossen. Er lässt den Wagen vor der schwach beleuchteten Villa ausrollen. Tante Emma hat sich immer darüber gewundert, dass im Fernseher selbst das Dunkel der Nacht ein helles Flimmern ist.

Die Flimmernacht wird dunkler, dramatischer. Der Blonde kriecht unter dem Zaun durch, zerschneidet das Kabel der Alarmanlage. Er robbt durch exotische Gewächse auf die Veranda zu, schwingt sich über die Brüstung, drückt eine Scheibe ein, fachmännisch, öffnet das mannshohe Fenster, springt ins gediegene Interieur, die Helle der Fernsehnacht wird wieder leicht gesteigert. Tante Emma sieht: Es lohnt sich. Goldgerahmte Bilder, antike Möbel, schwere Orientteppiche, wie eben die Fernsehbewohner so wohnen.

Viennetta. Das ist feinste, zarteste Eiskrem mit luftig leichten Knusperschokolagen. Ein edles weisses Gedeck. Zarte manikürierte Frauenhände. Braune, behaarte Männerhände. Schmelzende Tafelmusik. Das Industrieprodukt ins beste Licht gerückt. Alle Vorschriften sind eingehalten. Einmal ist noch nicht genug. Das bringt sie manchmal in Verlegenheit. Die Hände kommen in ein leichtes Zittern. Das Silbermesser tranchiert die Eistorte aufreizend langsam. Die Männerhände löffeln den Glasteller mit einem zierlichen Löffelchen aus. Löffelchen verschwindet im schmatzenden Männermund. Die Musik perlt etwas lauter.Viennetta. Lusso Eldorado.

Die Kinder mögen heute lieber Gummibärchen und Industrieglacé. Tante Emmas Kuchen kennt man nicht von Funk und Fernsehen.
Ja, in Wien gibts feine Torten.

Hundefutter. Jetzt kommt Hundefutter. Zuerst ein Platzregen wie aus dem Gartenschlauch. Frauchen birgt Hundchen unter ihrem Regenmantel, stöckelt zum Cabriolet, zieht das Autodach zu, steigt ein, ist schon zu Hause. Alles halb so schlimm. Ein Mann pfeift die Melodie der Begleitmusik, tata ta taa ta ta taa, ta ta taa, alles halb so schlimm. Hundchen wird mit Frottiertuch getrocknet, Frauchen kniet auf Boden, noch im nassen Mantel, küsst Hundchen ins nasse Fell. Tante Emma erinnert sich an den Geruch der Hunde ihrer Jugendzeit. Aber Hundchen ist gut shamponiert. Hundchen hat Hunger. Eine Alu-Packung voll sülzigem Fleischgemengsel öffnet sich im vollen Bild-schirmformat. Nein, der Fernseher riecht nicht.
Silberne Gabelzinken portionieren die Hunderation. Hundchens Zunge leckt die Lefzen. Reines gutes Fleisch, sagt Frauchen. Das Hundefutter heisst Cäsar. Dem Kaiser, was des Kaisers ist. Frauchen hat sich unterdessen, im Négligé, in einen Ledersessel gekuschelt, Hundchen leckt seine Schnauze und kuschelt sich auf Frauchens Schoss.

Es geht weiter. Es geht weiter. Es geht weiter.
Das neue Persil präsentiert die Persilfamilie.
Heute: Nickis Ballettkleid. Eine saalartige Wohnlandschaft. Parkett. Lichtdurchflutete Bogenfenster. Topfpflanzen. Antikes Mobiliar. So hätten wirs doch gerne. Papi arbeitet zuhause, hat seinen Schreibtisch direkt im riesigen Esssaal, arbeitet aber gar nicht, dreht sich weg von den Akten, hat nur Augen für Nicki, sechs, die tänzelt im rosa Tricot zu den Klängen eines langsamen Walzers an den reich gedeckten Tisch: Ein Strauss rosa Rosen, Schokoladekuchen, Trinkschokolade in einem riesigen Glas.
Nicki nimmt das schwere Glas in ihre kleinen Ballettrattenpfötchen.
Die Persilfamilie hat auch einen erstgeborenen Sohn.
Schon ganz der Vater, arbeitet er an einem anderen Fensterplatz, er ist in einer Art Labor mit Technischem befasst.
Aber auch er hat nur Augen für Nicki.
Papi ermahnt Nicki: Pass auf, Schatz.
Sohn kommentiert: Schon zu spät.
Nicki hat dem heiligen Persil einen Teil des braunen Trankes geopfert und sein Ballettröckchen massiv bekleckert. Die ältere Schwester, bereits mit dem fraulichen sechsten Sinn für häusliche Unfälle ausgestattet, tritt ein; die Küche ist nicht im zentralen, lichtdurchfluteten, parkettbelegten,von männlichen Arbeitsstätten umgebenen Familienraum plaziert. Die grosse Schwester jongliert ein Servierbrett mit weiteren Erlabungen und ermahnt die kleine Schwester: Du hättest das schöne neue Ballettkleid erst am Abend anziehen sollen. So kannst du nicht mehr tanzen gehen.
Die hilfreiche grosse Schwester ist langhaarig, blond, langbeinig, liebreizend. Niemand schimpft.
Nicki setzt trotzdem zum Heulen an: Ich Ich Ich will aber tanzen!!! und saust hilfesuchend um den Tisch herum, direkt in die Arme der Mutter. Die ist von vorn in den Bildschirm gelangt; sie gehört schon fast zum Publikum. Mutti schont ihre schicke Bluse nicht, drückt die bekleckerte Kleine an die Brust.
Aber sicher gehst du tanzen.
Es folgt das Glaubensbekenntnis: In, durch und mit Persil wird alles alles gut und rein, immer, immer, gut und rein.
Das neue Persil wird dich wieder ganz sauber machen, haucht die Mutter ins Ohr von Nicki. Dich wird es wieder ganz sauber machen, sagt sie wirklich. Die grüne Packung wird eingeblendet: 30 Grad, 60 Grad, 95 Grad.
Ob Nicki beim Waschen eingeht?
Mit Reinheitsgarantie. Alle offenen Fragen übertönt die sonore Persil-Männerstimme aus dem Off: Das neue Persil in neuer Qualität. Jetzt noch wirksamer.
Wenige Stunden später wirbelt die frischgewaschene Nicki samt frischgewaschenem Ballettröcklein auf steifen Zehen in die Arme des immer noch anwesenden Papi. Der hat sonst nichts zu tun. Auch der Garderobentrakt beim Ausgang ist mit Parkett belegt und lichtdurchflutet. Die ältere Schwester steht locker neidlos dabei, der Bruder ist verschollen; vielleicht hängt er den Rest der Wäsche auf. Mutti trägt die Persilpackung beschwingt übers häusliche Parkett, immer noch zu Walzertönen, der riesige leere Karton baumelt wie eine elegante Handtasche aus Krokoleder an ihrer zarten Hand. Und wieder die Stimme aus dem Off, der bestätigende Chor, die Stimme dessen, den man nicht sehen, aber auf den man hören soll:
Das neue Persil, neue Qualität, noch wirksamer. Persil. Persil. Auch für sie. Ohne optischen Aufheller.

Tante Emma kennt Persil noch aus der Zeit, wo auf emaillierten Tafeln dafür geworben wurde. Diese Tafeln werden jetzt gesammelt und kosten viel, hat der Neffe erzählt.

Tante Emma schaut nach dem Kuchen. Genau richtig. Der Duft allein macht schon satt. Sie sucht im fremden Haushalt einen passenden Untersatz.
Die schwarzgelben Teller sind zu klein, die flache Schüssel zu gross. Sie nimmt einen anderen Teller, das eckige Muster sagt ihr nichts, aber die Farben sind schön, Michaels Freundin ist das zuzutrauen, die hat die Teller wohl eigenhändig bemalt, sie ist gelernte Töpferin, näht auch ihre Kleider selbst, singt und spielt Theater. Sie tut ihm gut, die Olga, reisst ihn heraus aus seinen spinnigen Ideen und Theorien.

Die jungen Leute müssen eben nicht mehr so viel arbeiten wie sie damals, vor dreissig, vierzig Jahren. Nein, sie ist nicht verbittert, sie mag es ihnen gönnen. Womit verdient sie eigentlich ihr Geld? Tante Emma weiss es nicht. Ihr Name, er ist schön, aber sie vergisst ihn immer wieder. Woldin. Olga Woldin heisst sie. Wie eine heidnische Göttin. Sie macht irgendeinen Halbtagsjob. Tante Emma weiss es nicht mehr und will auch nicht danach fragen. Der Kuchen, aus dem Blech genommen, passt knapp auf den Teller, sieht sogar hübsch aus, süsses sanftes Rotbraun auf dem unregelmässigen türkisblaugrauen Muster.

Wie eine Wüsteninsel im Meer.

Sie werden einen Frühstückskuchen vertragen morgen, denkt Tante Emma. Die Jungen. Vielleicht hätten sie dann lieber ein Stück Brot und ein Spiegelei. Er jedenfalls. Aber er wird den Kuchen auch nehmen, auch den Kuchen.
Er war immer ihr Lieblingsneffe.
Michael Moran. Ein seltsamer Name. Irgendwie von früher. Aber er wollte immer ganz modern sein.

Tante Emma hat nie bei anderen Verwandten über seine verrückten Ideen und Vorhaben mitgeschimpft. Oder nur selten, und milde.

Sie stellt den Kuchenteller auf den Salontisch. Der Salontisch ist eine alte, von Wasser- und Fettflecken patinierte Transportkiste der hiesigen Firma Schoch und Wurm, Zahnräder, mit halb abgeschabten Etiketten und Hafenbehördevermerken aus Valdivia, Rotterdam und Veracruz beklebt.

Sie lässt sich zurück ins Sofa sinken. Auch ein wirres Muster, violett-orange-oliv. Solche Farben, denkt sie, gab es in ihrer Jugend gar nicht. Auch kein Farbfernsehen. Das Sofa ist weich und bequem, es ist schon mit Bettzeug bezogen. Tante Emma will aber noch nicht schlafen. Sie deckt sich angezogen leicht zu.

Der blonde Schnauzbart leistet ganze Arbeit. Von Stockwerk zu Stockwerk pirscht er durchs dunkle Haus. Ein halber Palast, fast ein Museum. Jede Kommode, alle Schränke, Schreibtische, Sekretäre räumt er schnell und entschlossen aus. Selten steckt er, kennerisch, eine Uhr, ein Bündel Noten, Schmuck in seine schwarze Sporttasche, Marke PUMA. Er sucht irgendetwas. Sie kann ihm nicht helfen, sie weiss auch nicht was, sie ist zu spät in den Film eingestiegen. Diese Durchsuchung dauert zu lange. Der Kuchen ist fertig. Was soll sie sich noch ausziehen. Sie liegt so gut. Tante Emma beginnt einzuschlafen.

Es schläft sich gut hier. Die Wohnung ist zwar klein, aber es sind hohe Räume in einem Altbau. Eigentlich ist es die Dienstbotenwohnung. Drei Zimmer, eine Küche, WC, Dusche.
Im zweiten Stock, an der Nordostseite, zu erreichen über den Hintereingang und das hintere, enge Treppenhaus. Es ist sehr ruhig in der Wohnung, sie ist von hohen Bäumen fast zu sehr beschattet.

Der Hausbesitzer ist ein Kunstsammler, lebt meist im Ausland. Auch jetzt ist das riesige Haus leer.

Nein, sie habe keine Angst, hat sie den beiden gesagt.
Geht, geniesst den Sommer. Nach diesem nassen Frühling.

Viel Angst hat sie wirklich nicht. Am ehesten noch vom Krimi. Aber das ist nur Fernsehen. Ja, ich bin stolz auf meine Verwandtschaft, denkt Tante Emma. Die beiden sollten Kinder haben, das gibt nette Kinder. Aber sie wollen nicht, sie sagen, sie seien noch nicht soweit.
Michael täten Kinder gut.

Tante Emma hätte gern Kinder gehabt. Sie backt Kuchen. Das Wort Mutterkuchen hat sie als Kind fasziniert. Auf dem Bauernhof sah sie erstmals die Nachgeburt, neben dem Kalb. Sie hat den Anblick nie vergessen. Ebensowenig den Zeitungsartikel, der berichtete, unter amerikanischen Hippiefrauen sei es Mode, nach der Hausgeburt die Nachgeburt zeremoniell zu verzehren. Es war ein Bild dabei. Damals, 1969, mit 43, hätte sie vielleicht noch ein Kind bekommen können. Aber es hat sich nicht gegeben. Morgen mache ich einen Schokoladekuchen, denkt Tante Emma. Jetzt schläft sie wirklich ein, zuckt mit einem Fuss.

Der blonde Einbrecher wühlt weiter. Er findet eine Rolle Goldstücke, packt sie aus, beisst ins oberste Stück, rollt sie wieder ein. In die Tasche damit.

Ein anderer blonder Einbrecher, mit einem grauen Mietauto, ist auch soweit. Er parkiert eine Ecke weiter, geht zum Gartentor. Er kennt das Haus. Er hat beobachtet, wie der junge Mann, der das Haus hütet und den Garten pflegt, mit Schlafsack und Campingmatte auf sein Fahrrad stieg und wegfuhr. Den Fernseher lässt er eingeschaltet, damit es bewohnt aussieht, denkt er. Von Tante Emma weiss er nicht. Hätte er eine gute Nase, würde er den Kuchen riechen. Er ist ein zu hartgesottener Mann, um an Kuchen zu denken. Süsses sagt ihm nichts, er beisst lieber in ein grosses Stück Fleisch.

Fachmännisch drückt er ein Fenster im Erdgeschoss ein, öffnet es, schwingt sich hinein. Er hat zwei Taschen dabei. Er macht sich an die Durchsuchung, leise, wählerisch.

Im zweiten Obergeschoss öffnet er die gepolsterte Doppeltür, geht durchs Hintertreppenhaus, öffnet die Wohnungstür. Er durchquert die Diele mit den zwei Garderobeständern, blickt auf den Fernseher in der Stube.

Der blonde Schnauzbart hat endlich die Tresorschlüssel gefunden, in einer afrikanischen Kürbisschale. Er hängt ein Bild ab, gute Arbeit, der Tresor kommt dahinter zum Vorschein, der Schlüssel passt, die dicken Bündel wandern in die Tasche.
Jetzt geht alles schnell in umgekehrter Richtung, Treppen, Fenster, Veranda, Gewächse, Zaun, Auto, Zündkabel.
Er rast davon, der Wagen ist ein hellbraunes amerikanisches Modell der frühen Siebziger.

Der Echte grüsst den Flimmerkollegen mit einem kollegialen Lächeln.

Nach der langen Stille im dunklen Fernsehhaus lässt das Motorengeheul und Reifengequietsche Tante Emma im Schlaf aufhorchen. Sie dreht sich leicht, zieht die Arme an die Brüste.

Der echte Einbrecher realisiert erst jetzt, dass da jemand ist. Er greift in die linke Sporttasche. Er geht leise auf das Sofa zu, vergewissert sich, dass Tante Emma schläft. Er umwickelt eine schwere Zange mit einem Stofflappen. Beides hat er aus der Tasche genommen. Er schlägt zu, mitten in die weissen Haare. Gurgelndes Röcheln mischt sich in die Töne der Verfolgungsjagd. Der Einbrecher beugt sich über Gesicht und Brust des Opfers. Tante Emma, der Störfaktor, ist bewusstlos, atmet aber, und ihr Herz schlägt. Der Einbrecher quetscht ihr den Mund auf, nimmt den Lappen von der Zange, zerknüllt ihn, stopft ihn in ihren Mund. Er schaut sich in der Wohnung um. Das lose Verlängerungskabel des Fernsehers führt zu einer uralten Steckdose in der gegenüberliegenden Wand. Der Hartgesottene geht darauf zu, zieht den Stecker aus, auch die Muffe am andern Ende, nimmt das Kabel, zwackt mit der Zange zwei kürzere Stücke ab. Er fesselt Hände und Füsse von Tante Emma. Mit dem längeren Rest umwickelt er ihren Kopf und Körper und verknüpft die Gefesselte mit den Sofabeinen. Er sieht den Kuchen, bricht sich von Hand ein Stück ab, schiebt es in den Mund. Zu süss.

Er öffnet die wenigen Möbel, ohne Hast, findet etwas Geld in der Küchentischschublade. Den kleinen Computer auf dem Schreibtisch im Schlafzimmer steckt er samt Kabel ein. Er geht aus der Wohnungstür, schliesst sie leise, geht die Treppe hinunter, ums Haus herum zum Gartentor, zum Auto. Die Sache ist ihm zu heiss.

Der Kunstsammler hat Glück gehabt. Das kann er auch brauchen.
Er macht gerade einen Ueberlebenstreck durch Grönland. Verpassen Sie den Dokumentarfilm nicht, der darüber gedreht wird, Ihr lokaler Sender hat ihn bereits programmiert: Prominenz im Packeis. Neben dem Kunstsammler ist auch die Stadtpräsidentin mit ihrem Gatten dabei.

Der Einbrecher sieht auf die Uhr. Zwölf Uhr zehn. Er startet den Motor, dreht das Licht an, fährt davon, Richtung Autobahn.

Der Raubüberfall war im Stadtanzeiger ausführlich geschildert worden, mit Fotos von der Villa und von Tante Emma im Stadtspital, in einem provinziellen Stilgemisch zwischen Krimifeuilleton, vermischter Nachricht und Reportage. Der Lokalredaktor war auch, ein Jahr später, beim Prozess gegen den Hartgesottenen dabei. Für diesen und andere Einbrüche erhielt der Täter seinen vierten Zuchthausaufenthalt zugesprochen, drei Jahre, obwohl er eigentlich keine Weiterbildung in kriminellen Angelegenheiten nötig gehabt hätte.
Die Prozessberichterstattung rollte den Fall nochmals auf, mit denselben Bildern, im gleichen Stil. Beide Male zitierte der Lokalredaktor Tante Emmas Worte: Ich wusste nicht, war ich aus einem Film oder aus einem Traum aufgewacht. Jedenfalls hatte ich scheussliches Kopfweh. Sie gab vor Gericht eine Personenbeschreibung ab, die perfekt auf den blonden Schnauzbart passte, nicht aber auf den Täter. Wegen ihr sollte keiner in die Kiste kommen.
Sie hatte sich im übrigen rasch erholt und konnte nach vier Wochen fast wie geplant zu Onkel Egon weiterreisen. Der hatte den Film auch gesehen.

Diese wahre Begebenheit liefert Michael Moran, dem Lieblingsneffen Tante Emmas, die Idee zu seinem neuesten Projekt.


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