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Thomas Huonker MONDFISCH

Kapitel III

Moran verliert den Boden unter den Füssen. Er schaut nur noch fern, zappt bis morgens um zwei Uhr, hört als Weckmusik Zap Mama. Diese afrikanischen Stimmen sind echt und erdig, sogar auf CD. Aber Moran lässt alles liegen, drückt nur noch Knöpfe, holt neue Videobänder. 50 Stück, jeweils mit 240 Minuten Spielzeit, hat er gefüllt. Das sind 200 Stunden blockierte, fixierte Zeit, die Zeit der Fernsehmenschen nicht mitgerechnet, auch nicht die der japanischen und koreanischen Video-Bandarbeiterinnen.

Wenn Moran pro Fernsehminute eine Seite schreiben würde, quer durch all diese Bildwelten hindurch, zap, zap, zapzapzap, mit flinken Fingern auf der Tastatur, wenn er all diese festgebannten automatisierten Halluzinationen seiner fernsichtigen Sofanächte auch noch festschreiben würde, ergäbe das ein Buch von zwölftausend Druckseiten. Ein Pixelprotokoll. Wenn er pro Seite eine Stunde zu schreiben hätte, ohne Denkpausen, nebst der Tastatur nur die Knöpfe PLAY, STILL und REWIND betätigend, käme er auf tausend Zwölfstundentage. Das sind, Sonntage und einige Wochen Ferien abgerechnet, dreieinhalb reine Schreibjahre. Und das spucken die Fernsehanstalten dieser Welt alle zehn Minuten locker aus. Locker. Das ist die Bilderflut. Reizüberflutung. Flutüberreizung. Hirnüberheizung.
Informationsüberfütterung, Informationsverhinderung. Geistige Zwangsernährung. Alles lebensechte Bilder, bis zum Lebensüberdruss.
Ein englisches Schulkind von zwölf Jahren sieht pro Tag durchschnittlich zwei Stunden fern. Es erreicht das Pensum, das sich Moran aufgebürdet hat, in hundert Tagen. Alle hundert Tage den Informationsgehalt von zwölftausend Druckseiten ins Gehirn pixeln, davon das meiste Mord, Sport, Totschlag, Quiz, Krieg, Lotterie und Reklame, das kann nicht gut gehen.

Moran ist süchtig geworden. Er hat seine Berechnungen eingestellt, hat die einundfünfzigste Kassette eingeschoben. Er hält sich, auf dem Sofa liegend, auf dem laufenden.

Er sieht alles und noch viel mehr.

Er sieht, in der Stube liegend, die Bären in Alaska beim Lachsfang, die gestrichelten Schlangenspuren in der Kalahari. Weil der Wüstensand so heiss ist, schwingen sich die Schlangen immer ein Stück in der Luft weiter, bis sie im heissen Sand kurz neuen Schwung holen. In der Kalahari gibt es auch eine Karrenspur vom Burentreck, unverweht, unverändert, zweihundert Jahre alt. Die Buschleute, die es dort auch noch gibt, sind allerdings weit älter, ihre Kultur hat sich dreissigtausend Jahre lang in Schönheit und Gleichgewicht erhalten. Das erhofft sich Moran von der Kultur des Video und Stereo auf Atomstrombasis nicht.
Es wäre unrealistisch.

Zap. Zap. Zap.

Moran sieht Schimanski die Bösen jagen, er sieht Derrick im selben Job, auch X Y Zimmermann tut es, Moran sieht die guten Sheriffs im Wilden Westen, auch sie tun das: DIE BÖSEN JAGEN, ebenso die Weltraumcrews, die Unterseekapitäne, die Nachrichtenkommentatorinnen, die sprechenden Autos, die Konsumentenschützer, immer dasselbe: DIE BÖSEN JAGEN. DIE BÖSEN JAGEN.
Eigentlich dürften im Fernsehen irgendwann einmal gar keine Bösewichte mehr zu sehen sein. Aber wer könnte sie dann noch jagen?

Moran sieht die Wetterprognose, die Börsenprognose, einen Beitrag über Selbsthypnose durch magische Worte.

Moran sagt sich: VISION. VISION. VISION.

Und zappt weiter.

Zap
Diskussionsrunde. Abendschau.
Der Moderator: Herr Vilsmaier, wie sind Sie denn an diesen Film herangekommen, der in der Sowjetunion lange verboten war?
Vilsmaier, ein schwerer Mann mit Bart: Das ist richtig. Ich bin da drangekommen über einen privaten Kontakt, den Direktor eines Filmstudios mit zweitausendfünfhundert Mitarbeitern, Nikolai Pawlowitsch Maschenko. Der ermöglichte mir, gewisse Filme zu sehen. Unter anderem DIE SCHWELLE, Porok. Der hat mich so beeindruckt, weil die anwesenden Studiomitglieder bei der Vorführung fürchterlich Rotz und Wasser geheult haben. Deshalb habe ich versucht, den Film nach Deutschland in Vorführung zu bringen. Das hat schliesslich geklappt, und ich bin froh, dass Herr Schowkoschitniyi gekommen ist, um das weitere zu erzählen.
Der Moderator, bebrillt, Notizbuch auf den Knien, wendet sich zu einem hageren Mittdreissiger mit Locken, Schnauzbart, dunkelblauem Anzug, schmaler graublauer Krawatte: Sie waren Ingenieur in Tschernobyl. Wo waren Sie am Tag der Katastrophe?
Schowkoshitnyi berichtet in russischer Sprache, eine Uebersetzerin übersetzt: Ich bin am 26. April aus Moskau nach Pripjat zurückgekehrt. Ich hatte dort an einer Diplomarbeit zu schreiben. Ich sah die grossen Maschinen, die mit Löschwasser die Strassen gereinigt haben, und ich sah kleine Kinder, die in der dabei entstehenden Brühe spielten. Ich wusste: Irgendetwas ist passiert. Aber erst am Nachmittag, als mein Bruder Dimitri mit einem Strahlenmessgerät zu uns nach Hause kam, das den maximalen Ausschlag anzeigte, begriff ich das Ausmass dieser Katastrophe.
Moderator: Aus dem Film geht hervor, dass der Bevölkerung verschwiegen wurde, was tatsächlich passiert ist. Teile des Films sind Amateurmaterial. Davon schauen wir uns jetzt einen Teil an.

Ein altertümliches Messgerät.
Schnitt. Ein Offizier, der den Inhalt eines Röhrchens ins Licht hält und inspiziert.

Sprecher: Die hellen Blitze, die in rhythmischen Abständen durch das Bild wandern, sind Schädigungen des Filmmaterials durch die radioaktive Strahlung.

Moran denkt: So sieht also das Filmauge mehr als das Menschenauge, aber indem der Mensch den Film dreht, entwickelt und ansieht, sieht auch er, was die Behörden zunächst verschwiegen. Kinoglasnost.

Schnitt. Es ist Feiertag, Kinder spielen Fussball, Jugendliche flanieren. Schnitt. Zwei Uniformierte in Schutzanzügen, mit Gasmasken, schreiten ins Bild. Ein Passant bittet um Auskunft, wird kurz beschieden und bleibt ratlos stehen. Der Amateurfilm hat keine Tonspur. Auf der anderen Strassenspur erscheint ein Panzerfahrzeug.
Schnitt. Eine Mutter nimmt ihr Kind an die Hand.

Ist ein Schnitter, heisst der Tod.

Schnitt: Totale. Ein Helikopter kreist über hohen Wohnblocks. Aus dem Off die nachsynchronisierte Lautsprechermitteilung an die Bevölkerung, erst russisch, dann deutsch: Achtung. Achtung. Im Zusammenhang mit dem Störfall im Atomkraftwerk von Tschernobyl hat sich eine ungünstige Strahlenbelastung in der Stadt Pripjat ergeben. Um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, in erster Linie die der Kinder, wird eine zeitweilige Evakuierung der Einwohner in die nächstgelegenen Orte der Kiewer Umgebung notwendig.
Im Bild, unter rötlichem Himmel, fahren lange Kolonnen orangefarbener Busse vor. Schnitt. Ein Kind hält seine Katze im Arm.
Schnitt. Menschen sitzen neben einer Baustelle auf ihrem Gepäck. Immer mehr Wartende kommen ins Bild.
Zu diesem Zweck werden heute, am 27. April, ab vierzehn Uhr, zu jedem Wohnhaus Autobusse, in Begleitung der Miliz und von Vertretern des Stadt- Exekutiv- Ausschusses geschickt.
Schnitt: Das Kind steigt ohne Katze in den Bus. Schnitt: Auf dem Fensterbord eines evakuierten Hauses sitzt eine Puppe. Es wird empfohlen, Dokumente und die allernotwendigsten Dinge sowie Lebensmittel für einen Tag mitzunehmen.
Schnitt: Aus einem offenen Fenster weht ein weisser Vorhang.
Schnitt: Die Menschen steigen ein. Ein Bus ist voll.

Zurück ins Studio.
Moderator: Die Kinder spielten draussen im Freien. Wann wurde den Leuten gesagt, was tatsächlich passiert war? Wurde es erst zugegeben, als die ersten Opfer zu beklagen waren?
Schowkoshitnyi: Man hat erst am 27. April um zwölf Uhr nachmittags über den Störfall berichtet, anderthalb Tage nachdem der Unfall tatsächlich passiert war. Die ersten Opfer gab es in der Nacht der Katastrophe. Als erster ist der Ingenieur Valeri Charintschuk gestorben, und am Morgen darauf Vladimir Schoshunok, ein anderer Mitarbeiter des Atomkraftwerks.
Bei der Erwähnung dieser ersten Toten erscheinen Dokumentaraufnahmen schwer verstrahlter Männer mit kahlem Kopf und verbranntem Rücken. Sie werden von Händen in Schutzanzügen behandelt. Schowkoshnitnyi spricht mit grossem Ernst, voller Trauer. Seine Augen haben mehr gesehen, als in diesem Film Platz findet.
Schnitt, Studio, Moderator: Später begannen dann die gross angelegten Evakuierungsaktionen. Heute war in der Zeitung zu lesen, dass bisher fünfundzwanzigtausend Menschen evakuiert worden sind, weitere zweihunderttausend sollen noch folgen. Wir schauen uns jetzt einige Bilder an aus dem Film, in dem man sieht, welche Wüste, welche Verwüstung dort zurückgeblieben ist.
Schnitt: In einer sumpfigen Wiese liegen verrottende Autos, Lastwagen, Raupenfahrzeuge kreuz und quer, teils halb eingesunken. Lange Kamerafahrt, ein weites Feld. Musik. Eine zerbrochene Windschutzscheibe. Eine Tafel, im Untertitel ist ihr Text übersetzt: Platz Nr.1. Abstand halten. Verseuchte technische Geräte.
In einer Baggerschaufel ein Vogelnest. Zoom. Es ist die Feldlerche, die da brütet. Das Skelett eines Evakuationsbusses mit zerbrochenen Fensterscheiben.
Studio. Moderator: Radioaktiv verseucht, alles. Die Bedrohung, die Gefahr ist eben nicht sichtbar.Wir haben vorher gesehen, dass die Kinder alle auf der Strasse waren und gespielt haben, wie das passiert ist. Gibt es eigentlich Schätzungen, wieviele Kinder davon betroffen sind, wieviele verletzt sind, wieviele erkrankt sind dadurch?
Schowkoshitnyi: Man schätzt, dass sechshunderttausend Menschen direkt betroffen waren von Tschernobyl. Wir haben achthundert Kinder aus der 30-Kilometer-Zone untersucht, die absolut alle krank waren. Die Uebersetzerin spricht ganz leise.
Moderator: Es wird ja auch nicht zugegeben, dass diese Kinder durch die Strahlung aus Tschernobyl erkrankt sind. Auch dazu wollen wir uns einen Filmausschnitt anschauen.

Im Bild erscheint eine Versammlung, Frauen, Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahren. An der Wand steht ein Milizsoldat.
Eine Frau spricht. Erinnern wir uns was hier über die Kinder gesagt wurde. Ueber die Kinder, die noch in den verseuchten Gebieten der 30-Kilometer-Zone leben, und über unsere eigenen Kinder. Zum Beispiel mein Kind, das zuerst in der näheren Umgebung und dann in der Stadt Pripjat aufwuchs.
Die Frau ist bleich, ihr Blick ist wie der des Ingenieurs Schowkoshitnyi wach, traurig, ausgeglüht. Der Milizsoldat steht da mit gefalteten Händen. Im Publikum sitzen auch zwei massige Offiziere in Uniform. Sie hören jedes Wort der kleinen, schmalen Mutter. Mein Sohn war durch und durch gesund. Jetzt hat er eine ganze Reihe von chronischen Erkrankungen. Solche Kinder gibt es viele. Die Kinder meiner Bekannten, und andere.
Die Frau hält die linke Hand auf ihr Herz.
Aber darüber schweigt man. Es heisst nur: Unsere Kinder sind gesund. Doch wir müssen darüber sprechen. Ueber alles, was wir zu ertragen haben. Wir haben kein Recht, die Wurzeln, die die Tragödie von Tschernobyl verursacht haben, in der Erde zu vergraben.
Studio. Der Moderator: Vergangenheitsbewältigung soll wohl dieser Film sein für die, die ihn gemacht haben, um selber mit dieser Katastrophe fertig zu werden?
Schowkoshitnyi: Ja. Um den eigenen Schmerz zum Ausdruck zu bringen. Und um die Warnung weiterzugeben, dass so etwas auf der ganzen Welt nie wieder passieren soll.
Nur sein grosser Ernst hilft dem Ingenieur, das Weinen zurückzuhalten. Der Moderator leitet zur nächsten Sendung über.
Moderatoren heissen im Atomkraftwerkbau jene Apparaturen, welche die Kernspaltungsaktivität aufs Nicht-Katastrophale beschränken sollen.

Olga hat angerufen. Sie will mit Michael wandern gehen.
Er hat sie und die Aussenwelt fast vergessen.
Eigentlich geht er gerne wandern, draussen, in der Luft, weitab von Satellitenschüsseln und Zubringerkreuzen.

Wiesen, Laub, Luft, Sumpf, Wolken, Bäche, Felsen, Viehweiden, Seen, Hügel, Berge. Ja, es gibt sie noch.

Sie treffen sich bei der Endstation Landauerhof.
Michael trägt den leichten Joggerrucksack.
An den letzten Lagerhallen vorbei schreiten sie ins offene Land.

Olga und Michael gehen bei trockenem, kühlem, diesigem Wetter über den Grat der Langenalb, hintereinander, es ist ein schmaler Weg. Das Rückgrat eines Kalkrückens, dessen Gestein voller Versteinerungen ist. Der Weg wird breiter, sie kommen in den Wald. Er ist voll bizarrer Felsbrocken. Sie erforschen die Kalksteinbrocken, lockern brüchiges Gestein mit Astgabeln. Moran findet einen Ammoniten, eine versteinerte Riesenschnecke. Er bricht den Brocken mit seiner Astgabel aus dem lockeren Gestein.
Er wiegt ihn in der Hand. Mehr als ein Kilo.
Es freut Moran, etwas in der Hand zu haben, statt es bloss zu sehen. Er verstaut den Stein neben den Proviantresten im Rucksack. Olga hat einen versteinerten Haifischzahn gefunden.

Die Stimmung des Paars hebt sich auf dem Ausflug in die versteinerte Urzeit.
Sie stellen sich vor, sie seien Riesenwasserschnecken, Seeschlangen, Haifische, Flugsaurier, Riesentintenfische. Sie verlassen den Wanderweg, schlagen sich ins Unterholz, spielen Spiele von früher.
Verstecken, Finden, Kitzeln, Küssen.
Moran lässt sich im Laub begraben.
Ein Wildhüter, der vorbeipirscht, misst Olga mit scharfem Blick. Der Wildhüter sieht gerne Krimis. Er geht erst weiter, als Moran, die verscharrte Leiche, sich prustend aus der Laub- und Moosgrube erhebt und dem scharfäugigen Mann mit der grünen Joppe freundlich zuwinkt.

Olga und Michael umgehen den summenden Sendeturm mit seiner wabenförmigen Kuppel und seinen spitzen Antennen.

Uplink, downlink. Uplink, downlink.

Nein, Moran wird Olga keinen Vortrag über moderne Telekommunikation halten. Er nimmt ihre Hand, hilft ihr über einen umgestürzten Baum, der den Weg blockiert. Sie stützt sich auf seinen Arm, als ob sie seine Hilfe brauchte. Olga ist viel beweglicher als Michael.

Im Restaurant auf der Grathöhe trinken sie Mineralwasser. Sie sind auch ohne Sonne ins Schwitzen gekommen. Moran schnippt eine Blattrippe aus Olgas Haar.

Olga hat recht. Moran sieht zuviel fern. Du bist bald wie Müller aus dem Block, sagt Olga. Der hat schliesslich kaum mehr Zigaretten holen gehen können. Herr Müller ist vor dem Fernseher gestorben, beim Autorennen, in der zwölften Runde, kurz vor dem spektakulären Unfall.
Den hätte er sicher noch gerne gesehen, sagte Frau Müller.

Es überschlug ihn zweimal, der Bolide brannte total aus, aber der Fahrer stand auf und ging auf seinen eigenen Füssen zur Boxe, ohne Probleme, im Watschelgang der Autorennfahrer. Müller hatte einen Herzinfarkt. Eigentlich ein schöner Tod. Leiden musste Müller nicht lange. Aber die Lieferung des Grabsteins liess auf sich warten.

Moran sagt: Ich bin nicht Müller. Ich lebe noch.
Er schaut Olga an. Die schaut nach Norden. Von der Langenalb aus nordwärts sind endlose Hügelketten zu sehen. Viele davon tragen Sendemasten. Dazwischen die Dampfsäule des Atomkraftwerks von Heiligenstatt.

Olgas schmales Gesicht mit den Sommersprossen auf Stupsnase und Backen, ihre rötlichen Wimpern über den grünbraunen Augen, ihre braunen Augenbrauen, ihr braunblondes Strohhaar, ihm zuliebe zu zwei Schulmädchenzöpfen geflochten.
Olga.
Ja, er liebt sie. Ja, er schämt sich, dass er sie nie mehr angerufen hat. Hast wohl nur noch Sexfilme visioniert, sagt Olga. Und mich einfach vergessen. Du öder toter TV-Zombie. Moran gibt alles zu.

Er hat sogar einen Film über Zombies gesehen.

In einer ärmlich eingerichteten, überbelegten psychiatrischen Klinik in Port-au-Prince ist ein aufgedunsenes Mädchen gefilmt worden. Es erzählt mit schwerer Zunge, ja, die Voo-Doo-Leute hätten sie zum Zombie gemacht. Ja, eine Woche sei sie scheintot in einer Höhle gelegen. Ja, ihr Vetter habe sie dann in die Stadt gebracht. Ja, sie habe sonst alles vergessen.

Hand in Hand mit Olga, die sagt, das nächste Mal solle er anrufen, trägt Moran seinen Ammoniten in die Stadt. Olga steckt den Haifischzahn in die Handtasche und steigt in den Bus. Michael öffnet das massive Stahlschloss und steigt aufs Fahrrad.
Das hätte die alte Schnecke nicht gedacht, dass sie mal noch Fahrrad fährt.
Zuhause legt er den Ammoniten auf den Fernseher, als Zeichen der Zeit.

Nein, er ist kein Zombie. Moran steckt Band siebzehn ins Maul des Videogeräts, befiehlt ihm: PLAY!

Frau, Ende dreissig, blond, steuert blauen Kleinwagen, besetzt mit Mann, Anfang fünfzig, sowie zwei blonden Mädchen, vielleicht siebzehn- und zwölfährig, durch eine überbelichtete Waldlandschaft. Wir sind im französischen Sprachgebiet.

Wenn ihnen nur nichts zustösst!
Das ist wahr, die Risiken sind enorm.


Die siebzehnjährige hat Panik, die Frau am Steuer Angst. Doch sie hält den Kurs.
Im allerschlimmsten Fall haben wir noch zwei Minuten.

Der Mann fühlt sich unnütz und empfiehlt eine Abkürzung.
Nie wird bekannt werden, ob er sich durchgesetzt hat.

Denn schon sind wir am Ort der Gefahr live mit dabei.

Ein Vierzehnjähriger, ganz mit den Zügen des Fünfzigjährigen, erklärt einem Mädchen alles, restlos alles, weil es einen halben Kopf kleiner ist als er.
Das ganze System funktioniert mit Hilfe von Computern. Es ist so programmiert, dass alle Bedingungen dem Klima ihrer natürlichen Umgebung entsprechen und weil deshalb sonst doch -

Noch sind nicht zwei Minuten vorbei, da stürmen schon die Autoinsassen am fassungslosen Portier vorbei in ein Gewächshaus.

Dort drinnen suchen die beiden Halbwüchsigen weiter die richtigen Worte. Kurzes Flimmern. Der Junge hat sie gefunden. Heiser stellt er die entscheidende Frage:
Würdest du gerne mit mir tanzen gehen?
Die Partnerin nimmt die in dieser Situation vorschriftsgemässe Haltung an. Kopf schräg aufwärts, lächeln.
Einverstanden.
Das ist super!

Die Welt der Jugend ist in Ordnung.
Das Treibhausklima hat auch seine Vorteile.
Und ich glaubte schon, du würdest nie mit mir ausgehen wollen.
Aber ja doch.


Die beiden setzen zur zarten Umarmung an.
Beiläufig hüpft hinter ihnen, auf einem Tisch voller Terarrien, Futterbüchsen und Bücher, ein schwarz-gelber Pfeilgiftfrosch auf die Kamera zu.
Ob Frosch oder Schlange, Sünde ist ein süsses Gift.

Achtung! Nicht berühren!

Dem doppelsinnigen Warnruf der Retter wird seitens der Ertappten sofort Folge geleistet.
Der Verführten schwant Schlimmes, bis sie den Frosch entdeckt.
Er ist an allem schuld.
Noch nie war der Frosch der Prinz.

Zap.
Kennen Sie die Schlusspose des zweitplazierten kanadischen Paars der Eistanzmeisterschaften vom März 1990?

Er legt sie rücklings aufs vorgestreckte linke Knie und reckt seine Rechte steil zum Gruss. Wäre ihr Haar noch etwas länger, es würde bis zur polierten Eisfläche reichen, in der sich beide spiegeln.

Eis?

Feuer.

Die Feuerwehr konnte hier nichts mehr retten.
Sie schaut ratlos vom Balkon einer Brandruine herunter.
Innert Sekunden zerstörte eine Qualm- und Feuerwalze das ganze Restaurant. Zehn Menschen erstickten sofort. Gäste, die noch versucht hatten, aus dem Fenster zu springen, stürzten sieben Meter in die Tiefe.
Sind ja selber schuld, fährt der Sprecher fort:
Neben der Treppe, in einem Abstellraum, entstand das Feuer zunächst als harmloser Schwelbrand. Als jedoch die Gäste in panischer Angst die Fensterscheiben zerschlugen, kam es durch die Luftzufuhr zur Katastrophe.

Wie vermeidet man Katastrophen?

FENSTER UND TÜREN SCHLIESSEN. RUHE BEWAHREN.

Das hätten die eben auch tun sollen. Wussten die doch.

Das schlimmste ist diese Panikmache. Es handelte sich nur um einen harmlosen Schwelbrand. Da kann man doch ruhig weiteressen. Schade auch um das ganze Geschirr. Und die Tischdecken. Die Stühle. Alles ganz schwarz.

In einem Teller sind noch Fleischbrocken zu erkennen, vielleicht eine Terrine. Hätten die doch einfach gewartet, bis die Luftqualität wieder etwas besser geworden wäre. Immer gleich die Scheiben einschlagen! Das macht doch alles noch viel schlimmer. Sieht man ja.

Unter den Opfern war auch ein zweijähriges Kind, das die Eltern zum Essen mitgenommen hatten.
Verantwortungslos. Was soll denn so ein kleines Kind in verrauchten Lokalen.
Sieben Schwerverletzte werden noch in Krankenhäusern behandelt.

Olga hat den Haifischzahn in ihre kleine indische Schatzkiste aus Palisander und Speckstein gelegt, zu ihren Ohrringen, Broschen und Halsketten. Zum Nerzfellstück, das sie von der Urgrossmutter bekam, an die sie sich sonst fast nicht mehr erinnern kann. Olga hätte gerne eine Katze gehabt, immer. Ein Streicheltier. Sie streicht gern über Fell, über Haut, über Baumrinden, Blüten, Sand, Wasser, Felsen.

Sie fährt sich ins Haar.
Der Haifischzahn kommt zum vergrünspanten Freundschaftsring, den sie von ihrem ersten ernstlichen Verehrer bekam. Den hat sie nie mehr gesehen. Sie bezweifelt, ob er seinen Ring noch aufbewahrt.
Zur Taschenuhr ihres Grossvaters kommt der Haifischzahn.
Und zu den Muscheln vom Strand von La Sabinosa.

Ja, sie mochte Michael. Ein lieber, verrückter Kerl. Der hagere Krauskopf. Klug, sanft, neugierig.
Aber Michaels Verwandlung zum Doppelgänger von Herrn Müller aus dem Block, diesem Gespenst aus ihrer Kindheit, das macht Olga zunehmend wütend.

Er wird selber darauf kommen müssen, denkt sie.

Er hat seinen Kopf überschätzt.

Er überschätzt überhaupt seinen Kopf.

Er denkt, mit seinem Kopf gegen die Welt anzukommen.

Er will die Welt in seinen Kopf sperren.

In seinen Kopf, dessen Haar, Stirn, Augenbrauen, Augen, Nase, Bartwuchs, Lippen, Zungen, Zähne, Backen und Kinn sie liebte.

Was war mit ihm passiert? Sie hasste das Literaturförderungsprogramm, für das sie Steuern zahlte.

Bücher sind nicht das Leben. Schon ihr Vater, der Bibliothekar, hatte das nie begriffen. Sie wurde lebendig begraben unter Kinderbüchern, Jugendbüchern, Sachbüchern, Lehrbüchern, Spielbüchern, Tierbüchern, aber eine Katze kam nicht ins Haus.

Das flimmernde Scheinleben in der Mattscheibe befremdete sie noch mehr als Bücher. Die alte, braune, zerfledderte Ausgabe von Bechsteins Märchen, in Frakturschrift, mit kunstvoll geschnitzten Anfangsbuchstaben, die hatte sie wenigstens in die Hand nehmen können, spüren können. Wenn sie den Fernseher berührte, erhielt sie einen elektrischen Schlag. Die Kiste hatte eine tödliche Ausstrahlung. Ihr taten die Augen weh davon.

An diesem Abend zappt Moran nicht lange. Der alte Ammonit gibt ihm Ruhe.

Zweimal dieselben Nachrichten mit jeweils anderen Sprecherinnen und Sprechern, zwei Werbeblocks, ein Talkmaster, eine Talkmasterin, ein Dokumentarfilm über das Edbeben in Tadschikistan. Dort ist eine Goldgrube eingestürzt, zwanzig Arbeiter sind eingeschlossen. Sie werden gerettet, nach vierzehn Tagen.
Struppig, bleich, mit staubigen Gesichtern, aber in Würde erzählen sie, wie sie Ratten assen, an Schuhsohlen nagten. Sie hätten zuerst viel gesungen, dann habe die Kraft nicht mehr gereicht. Die letzten Tage habe sie nur noch das Geräusch der Rettungsbohrung, das sie immer klarer hörten, am Leben erhalten. Die Kraft der Hoffnung.
Sie danken den Kameraden, die in Fünfzehn-Stunden-Schichten den Rettungsstollen gegraben haben.


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