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Thomas Huonker MONDFISCH

Kapitel IV

Moran legt einige Bücher auf das Sofa.
Er schlägt eines davon dort auf, wo er ein Buchzeichen hineingelegt hat vorgestern. NEIL POSTMAN. WIR AMÜSIEREN UNS ZU TODE.

Unser Fernsehapparat sichert uns eine ständige Verbindung zur Welt, er tut dies allerdings mit einen durch nichts zu erschütternden Lächeln auf den Gesicht.

Das Gesicht des Fernsehers, denkt Moran. Er hat eine Scheibe.
Weiter, Herr Postman:

Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert. Um es anders zu formulieren: Das Entertainment ist die Superideologie des gesamten Fernsehdiskurses. Gleichgültig, was gezeigt wird und aus welchem Blickwinkel - die Grundannahme ist stets, dass es zu unserer Unterhaltung und unserem Vergnügen gezeigt wird. Deshalb fordern uns die Sprecher sogar in den Nachrichtensendungen, die uns täglich Bruchstücke von Tragik und Barbarei ins Haus liefern, dazu auf, 'morgen wieder dabeizusein'. Wozu eigentlich? Man sollte meinen, dass einige Minuten, angefüllt mit Mord und Unheil, Stoff genug für einen Monat schlafloser Nächte bieten. Aber wir nehmen die Einladung des Nachrichtensprechers an, weil wir wissen, dass wir die 'Nachrichten' nicht ernst zu nehmen brauchen, dass sie sozusagen nur zum Vergnügen da sind. Der ganze Aufbau einer Nachrichtensendung gibt uns das zu verstehen; das gute Aussehen und die Liebenswürdigkeit der Sprecher, die netten Scherze, die aufregende Anfangs- und Schlussmusik der Show, die abwechslungsreichen Filmbeiträge, die attraktiven Werbespots - das alles und manches mehr erweckt den Eindruck, dass das, was wir eben gesehen haben, kein Grund zum Heulen sei.

Kein Grund zum Heulen, stimmt.

Hat Moran, auf dem Sofa liegend, im Elend der Welt herumzappend, je geheult?

Nie.

Er hat die Leiden von Einzelnen und von Tausenden gesehen, Bomben, Hungersnot, Fliegen auf blinden Augen, Hungrige im Abfall stochernd, Irre in sterilen Kliniken isoliert, Gefangene hoffnungslos meuternd, Gettokinder Kriminalität einübend, Tiere sinnlos verpestet und geschlachtet, ganze Landstriche atomar verseucht, Tausende mit Leukämie und Knochenkrebs, Kampfpiloten, ihren Job geniessend, Gefolterte, ihre Wundmale zeigend, Täler durch Staudämme überflutet, Kinder von Autos zermalmt.

Kein Grund zum Heulen. Kein Grund zum Heulen. Kein Grund zum Heulen.

Würde er heulen, wenn Olga ihn nicht mehr will? Steht sie mir so nahe? Moran sah das nicht klar. Moran sah fern. Bisher hatte sie spätestens nach drei Wochen telefoniert, wenn er sich nicht meldete. Er hatte oft gar nicht realisiert, dass er ein, zwei, drei Wochenenden in seinen Wänden hockte, Bücher las, Theorien spann, zappte. Oder er war mal wieder bei Tante Emma gewesen.

Seine Eltern waren tot, Geschwister hatte er keine.
Vielleicht war er wirklich etwas zu sehr im Gehäuse.
Verdammt, er war selber eine Art Ammonit.

Als seine Eltern starben, da hatte er geheult. Sechsjährig war er, als sie im Auto verunglückten. Moran hasste Autos. Er war dann von den Grosseltern aufgezogen worden. Das waren milde Menschen. Wo andere mit ihren Eltern wilde Kämpfe ausfochten wegen ihrer Frisur, ihrem Kleidungsstil, ihrer Freizeitgestaltung, da sagten sie ihm: Das musst du selber wissen, zu unserer Zeit war es sowieso ganz anders. Er kaufte seine Kleider selber, sie gaben ihm reichlich Taschengeld, sie schliefen selig, wenn er nach zehn Uhr heimkam.

Auf drei Dinge legten sie Wert: Dass er am Sonntagabend mit dem Grossvater drei Partien Schach spielte, dass er die Eier holte, welche die Hühner ausserhalb des ordnungsgemässen Legenests hinter der Holzbeige im Sägemehl oder auf Nachbar Bolders Heustock legten, und dass stets ein Vorrat kleingehackter Tannenscheite beim Holzherd lag.

Fernsehen hatten die Grosseltern keines, aber ihrem Feldstecher entging kein Vogel und kein Passant.

Als die Grossmutter starb, hatte er auch geheult.

Der Grossvater war gestorben, als Moran ein Auslandsemester absolvierte, er war zu spät benachrichtigt worden, um ans Totenbett zu kommen, auch das Begräbnis war schon vorbei. Am Leichmahl hielt er sich an Onkel Egon, der nach dem zweiten Glas Wein von seiner Zeit als Monteur in Pakistan und Afrika zu erzählen begann. Prachtsweiber gab es da, ich sage dir, Prachtsweiber.

Moran hatte einen eigenartigen Traum diese Nacht.

Er hat die Kurve gekratzt. Ja. Er stand in einem riesigen Frachtflugzeug, das eben abhob. Es konnte sich kaum von der Piste lösen. Meterknapp donnerte es über Hausdächer und Baumwipfel. Eine scharfe Kurve drückt Moran an die plastikgepolsterte Wand, ans Flugzeugbullaugenfenster.
Er schaut durch das Bullauge. Das Flugzeug liegt voll in die Kurve, aber es steigt einfach nicht. Stattdessen steigt das Gelände. Ein Hügel kommt in die Flugbahn. Moran denkt, das ist das Ende. Funkensprühend knirscht der Flugzeugflügel über die Hügelkuppe. Die Seitenantenne, die Seitenlichter, die ganze Flügelspitze wird wegrasiert. Aber nichts passiert. Das Flugzeug rast weiter, steigt endlich, geht auf geraden Kurs.

Erleichtert und verwirrt ist er aus diesem Traum erwacht.

Abheben.

Moran setzt den Wäschekorb neben die Bücher aufs Sofa. Von jetzt ab wird er am Schreibtisch sitzen. Schreiben statt visionieren.

Aber zuerst geht er joggen.

Aus dem Wäschekorb nimmt er ein graues T-Shirt, das er gar nicht kennt. Er wundert sich, wie es in seine Wäsche gekommen ist. Ach ja, Olga hat es hier vergessen.

Vorletztesmal wahrscheinlich. Da waren sie drei Tage nicht aus der Wohnung gegangen, und er hatte auch nicht ferngeschaut. So etwas wird nie verfilmt. Das wäre ja eigentlich einfach. Doch, einmal mussten sie Milch, Brötchen und Eier holen. Ein kurze Aussenszene.

Moran zieht zieht das graue T-Shirt an und sucht eine Trainerhose und ein Paar Turnschuhe. Vor fünf Jahren ist er gelegentlich Volleyball spielen gegangen. Mit den Kollegen von der Bibliothek, wo er den Nachlass eines Wehlacher Ehrenbürgers zu ordnen hatte. Der schrieb etwa zwanzig Bücher über Musik, davon drei über Mozart.
Aber auch eines über Zydeco. Moran hat ihn flüchtig gekannt. Er war ein Freund seines Vermieters, des Kunstsammlers. Der hat ihm den Auftrag verschafft. Damals lernte Moran Olga Woldin kennen. Sie ist die Tochter des Bibliotheksvorstehers und arbeitet immer wieder als Aushilfe in der Ausleihe.

Seitdem hatte Moldan keinen Sport mehr getrieben. Er fühlte sich verrottet. Diese Visionierungsphase hatte ihn fast flachgelegt.

Moran hat jetzt fünfundfünfzig vierstündige Videobänder mit den wirrsten Aufnahmefolgen gefüllt.

Hässliche Bilder, schöne Bilder. Schrott einer Schrottzeit. Jetzt muss er ans Abschreiben, Aufschreiben gehen.

Der Ammonit war ein Zeichen.

Moran schnürt sich die Turnschuhe und tritt aus dem Haus. Etwas kühl, windig, aber ein schöner Tag. Mit Wolken wie in Holland.
Sonst ist der Himmel über Wehlach auch bei Sonnenschein meist verschmiert, braungelb vom Stadtsmog, weissgrau von den sich langsam über das ganze Himmelsblau ausbreitenden Kondensstreifen der Flugzeuge.

Moran schaut ihnen neidisch nach. Die fliegen nach Alaska, nach Bali, nach Australien. Und es sitzen Leute darin, welche diese Länder nicht nur vom Fernsehen kennen werden.

Vielleicht eine Crew von Fernsehreportern.

Moran verfällt in einen Tagtraum.

Olga und er und eine Horde Kinder auf einer Kokospalmeninsel, ohne Telefon, ohne Geld, ohne Steueramt, ohne Winter, ohne Autos. Olga sagt, das würde ihr rasch verleiden. Keine Freundin, kein Tanzkurs, keine neuen Kleider. Oh nein. Aber Moran bleibt dabei. Kein Fernseher, kein Projekt, kein Sofa.

Oder doch eine kleine Schüssel. Und ein Solarfernseher. Sofa muss nicht sein. Aber Hängematten. Und Papageien.
Die würden lernen:
Dow Jones. CNN. Wir begrüssen Sie.
Und Kolibris. Duftende Orchideen. Viel träge Bewegung in der feuchten Wärme. Slippers, Shorts, T-Shirt. Braune Haut. Ein kleiner Gewürzgarten, Fruchtbäume, Wasserfälle. Ausgezeichnete frische Fische. Im Erdloch gedünstet, auf Palmblatt serviert. Dazu Palmwein und Sonnenuntergang. Sterne und Flughunde in den warmen Nächten. Bei Wirbelsturm würden sie sich an den Palmen angurten.

Moran erwacht, weil er fast über eine Radkappe gestolpert wäre, die auf dem Trottoir liegt.

Ach, eine Insel.

Moran denkt an Herrn Angermeier. Der hat ihm, auf dem Sofa vor dem Fernseher liegend, er mochte es damals gar nicht aufschreiben, einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Herr Angermeier lebt auf Galapagos. Er wird von Käptn Cousteau besucht. Käptn Cousteau lebt vom Fernsehen wie die Flibustiere von den Handelsschiffen. Recht hat er. Er sieht Herrn Angermeiers Welt nochmals vor sich, wie ab Video.

Ein freundliches Urviech, mit einem Rückenkamm im Punkstil, fast ein Drache, eine Meerechse, grünrot wie ein verwittertes, mit Flechten bewachsenes uraltes Ziegeldach, lässt die Zunge aus dem Bildschirm hängen, hustet und faucht dazu.
Blauer Himmel, blaues Meer, wenig Land.
Käptn Cousteau, der gute alte Käptn Cousteau, der Erfinder des Freitauchens mit Pressluftflaschen und Herr der Meere, legt auf Galapagos an. Dorthin ist anno 1935, gerade rechtzeitig, Karl Angermeier ausgewandert.

Angermeier lebt seitdem eng mit den Meerechsen zusammen. Sein Haus hat er direkt an die Felsküste gebaut, Cousteau ankert vor der Haustür.
Beim Hausbau hat Angermeier darauf geachtet, die auf der felsigen Baustelle seit Jahrmillionen ansässigen Meerechsen nicht zu vertreiben. Ueber vierzig Stück, die grössten davon gut einen Meter lang, leben auf seinem Anwesen.
Er füttert sie mit Reis, Fisch und Brot, daneben weiden sie den Seetang ab. Angermeier nennt sie alle ANNI, weil sein kleiner Neffe sie so zu nennen pflegt. Sie liegen auf der Chaiselongue, vor dem Kamin, im Garten sowieso. Sie erklettern das Dach und die Büchergestelle und kriechen unter Bett und Kommode. Sie lassen sich von Angermann herumtragen. Sie seien nicht nur wegen dem Futter zahm, sondern auch, weil er sie liebe.
Ein Hund und ein Papagei sowie die Schwiegermutter vervollständigen den Haushalt.

Angermeier fragt Cousteau, ob es nicht besser um die Welt stehen würde, wenn alle Menschen in dieser freundschaftlichen Weise mit den Tieren zusammenleben würden. Cousteau will sich nicht festlegen. Er frägt zurück, ob er denn diese Insel für das Paradies halte.
Angermeier antwortet, wenn schon, sei es ein eher rauhes und trockenes Paradies. Und er fügt hinzu, es liege an jedem Menschen selber, überall, sich sein Paradies einzurichten.

Cousteau legt ab und begegnet, weit im Meer draussen, einer Gruppe von spielenden Seelöwen. Sie benehmen sich wie Delphine, springen, tauchen, spielen mit den Wellen. Cousteau und seine Taucher halten an und steigen aus. Sie sehen, wie die Seelöwen sich auch unter Wasser in leichtflossigen, schwebenden Tanzbewegungen gegenseitig umwerben, beflossen, beschnauzen, begatten.

Cousteau hat den Tanz- und Verlobungsplatz der Seelöwen entdeckt, die jeweils für ein Jahr eine stabile Paarbeziehung eingehen und ein oder zwei Junge aufziehen. Wenn die Haie die Welpen nicht schnappen bei den ersten Schwimmversuchen.

Käptn Cousteau philosophiert.

Auf den Galapagos-Inseln, sagt er, gibt es keine fleischfressenden Landtiere. Keine Tiere mit Angriffswaffen. Und diese friedlichen Tiere, Riesenschildkröten, Meerechsen, haben waffenlos Millionen von Jahren überlebt, sie werden, sagt Cousteau, vielleicht auch den Menschen, diesen schwerbewaffneten Beutejäger, überleben.

Am besten gar nichts denken. Zap. Weg. Abschalten. Irgendwann werden alle Menschen sein wie der Ammonit. Tot und bestenfalls versteinert.

Aber noch lebt Moran.

Er geht am kleinen Milchladen vorbei über die Forkstrasse zum Friedhofsportal. Das erinnert ihn an chinesische Paläste. Der Friedhof ein Garten. Stille. Es gibt da keine Hunde, dafür behauene Steine, gekieste und gerechte Wege, Blumenrabatten, Ziersträucher, Bäume. Und Vögel. Sogar einen Goldfischteich haben die Toten. Aber kein TV.

Viele Mütter mit Kinderwagen spazieren hier, sitzen am Teich. Für grössere Kinder ist es nichts, ein Friedhof ist kein Spielplatz. Eine Mutter spricht mit ihrem Handy.

Moran nimmt den Weg entlang der Mauer. Zuerst eine Reihe Familiengräber. Raus Robert, Raus Hulda, Raus Erich. Die hiessen wirklich Raus. Das nützt dann auch nichts mehr, im Sarg. Ein Grab ist als Vogelbad konzipiert. Familie Romano hat drei romanische Bogen als Grabstein, Familie Zimmermann eine süssliche Jesusstatue. Auf dem Grabmal der Familie Dr. Bosshard aus sonnendurchwärmtem Basalt liegt eine graugetigerte Katze. Der Doktortitel wird im Himmelreich nicht mehr nötig sein, Herr Bosshard.
Nicht mal der Name wird noch zählen.
Michael Moran, Wolke 35973875.
Oder Oeltopf fünfzehnhundertelf, 300 Grad Celsius.

Nein.

Moran hofft, dass er dereinst zu Humus wird.
Als das Kind Michael aufhörte, die Händchen zu falten, als es nicht mehr klein und rein bleiben wollte, hat es die Wurmhaufen durchgekauter Erde als Altare von Mutter Natur in Erwägung gezogen. Der kleine Moran hatte sie dann aber doch lieber in den Händchen geformt, zerdrückt, warmgeknetet und schliesslich an die weisse Hauswand geschmissen. An den Fensterscheiben blieben sie manchmal kleben.

Moran liebt Friedhöfe.

Die Katze ist scheu. Sie tut, was sie tut, lässt sich nicht streicheln. Moran folgt dem Weg aufwärts, immer der Mauer entlang. Sie ist von Efeu und wildem Wein überwachsen. Er geht hinter den Betriebsgebäuden des Friedhofs durch. Da passt er besser hin, in seiner Sportkluft, als zu den frischen Gräbern mit verwelkenden Blumen oder zu den alten Leuten, die zittrig Erikasträucher begiessen.
Hier, im Betriebsgebäude, essen die Totengräber um halb zehn und um halb drei ihre Pausenbrote. Durch die Fenster des Betriebsgebäudes blinken die Chromstahltüren der Kühlschränke für die Leichen. Sechs Kühlkammern.
Die Hand des Todes ist kühl und knochig.
Sie hat einen eisernen Griff wie die rostige Ersatzschaufel des Grabbaggers, die neben dem Gebäude lagert, hinter den Fahrrädern der Friedhofangestellten.

Der Friedhofsgärtner wohnt hier. Unten ist das Büro des Bestattungsamts, oben seine Wohnung. Am Fernsehen schaut er nur klassische Konzerte. Die Nachrichten mit den vielen Toten verträgt er nicht, auch keine Krimis, keine Western. Er spielt selber Cello. Er pflegt Nelken und Geranien vor den Fenstern. An der Ostseite des Friedhofgebäudes zieht er Kiwis und Birnen am Spalier.

Moran wagt es nicht, eine Birne, genährt von Leichenhumus, zu klauen. Ja, es ist der Leichenhumus, der hier die Gewächse treibt. Oder doch nicht? Vielleicht be-steht der riesige Komposthaufen bloss aus Rasenschnitt, Trauerkränzen, Schnittblumen, gejätetem Unkraut, Herbstlaub, gehäckseltem Baum- und Sträucherschnitt.
Den Zuchettis, die darauf gedeihen, sieht man es nicht an.

An der Südseite des Friedhofsgärtnerhauses ranken sich blaue Trauben empor. Netze schützen sie vor Vogelfrass.
Ein schönes Haus in der Totenstille.

Moran stellt sich vor, dass der Friedhofsgärtner abends Handorgel spielt, um es nicht allzu ruhig zu haben hier, in diesen Mauern. Aber vielleicht schaut er auch Videofilme mit Scheintoten und Vampiren, denkt Moran. Er weiss es nicht. Wir schon.

Das Portal wird um sieben Uhr abends geschlossen.
Auch das obere Friedhofstor ist imposant. Es wirkt eher mykenisch als chinesisch. Schwere Sandsteinquader ruhen auf solidem Mauerwerk.

Hier beginnt der Wald. Ein Buchenmischwald, viel Unterholz.
Die Waldwege sind hervorragend unterhalten. Wo es steil aufwärts geht, bilden Granitriemen Treppenstufen.

Hunde mit ihren Herren und Damen treffen hier auf halbzahme Rehe, Eichhörnchen, Eichelhäher und Spechte.
Der Invalide meidet diese Wege. Sie sind ihm zu steil und zu bevölkert. Der Fronbergwald ist der Spazierwald von hunderttausend Wehlachern. Moran zählt zur Untergruppe der Jogger. Die Jogger kreisen auf der Finnenbahn, einer Rundlaufstrecke, die dick mit Sägemehl bestreut ist.
Fette Jogger, die abnehmen wollen. Durchtrainierte, welche die Fetten verächtlich überrunden. Jogger mit Hunden. Joggende Familien, deren Kinder die Abkürzung durchs Unterholz benützen. Die sturen Keucher, die ihr Tempo nicht der Steigung anpassen.

Moran merkt, dass er in der verkehrten Richtung rennt. Auch seine graue Kluft macht ihn zum Aussenseiter. Anständige Jogger und Joggerinnen tragen zur Zeit glitzernde, enganliegende Kunststoffkleidung in Schockfarben.
Moran passt sich an. Er rennt andersherum. Jetzt kann er auch die Reklameschildchen des Sponsors auf der Bahnumrandung lesen.

Es ist angenehm, auf dem federnden Sumpf der feuchten Sägemehlpiste zu laufen. Nach der ersten Runde hat sich der Körper an die Beanspruchung gewöhnt. Es ist schön, den Rhythmus der Schritte und des Atems zu halten. Moran spürt sich. Es gibt ihn noch.

Zap. Er ist immer noch da. Zap. Zap. Zap. Zap.
Moran macht vier Schritte pro Atemzug.
Aufwärts tänzelt er, im Sambaschritt.
Zap Mama Erde, Zap, Zap.
Nur nicht keuchen, nur nicht hetzen. Nach vier Runden ist Moran auch in diesem Tempo erledigt. Er trinkt einen Schluck Wasser am Holzbrunnen, bleibt keuchend stehen, macht sich dann auf den Heimweg. Ein schwebendes Gefühl stellt sich beim normalen Gehen ein. Doch. Moran hat wieder Boden unter den Füssen. Walderde. Töpferton.
Scheissfernsehen.
Er hält sich auf dem Laufenden. Er wird die Sache packen. Er geht zurück, er geht voran, lebendig durch den Friedhof, zu Fuss über die Autostrasse, am Milchladen vorbei, in die Wohnung hinauf, unter die Dusche.
Wohlig warm setzt er sich an den Schreibtisch. Er tuckert auf den Tasten herum wie ein Fischkutter, der frühmorgens zum Fang ausläuft.

Moran legt ein Band ins Videogerät ein.
PLAY STILL PLAY
Es ist fast schon ein halbes Jahr her, seit er es aufnahm.

Ja, so sieht er aus, unser Planet. Kugelrund, blau, umwölkt, mit Kontinenten wie Muster auf einer bunten Murmel, aber grösser. Etwa in der Grösse eines Fussballs erscheint Mutter Erde im Schirm.

Schnitt.

Brandrodung im Regenwald, neue Weiden werden urbar gemacht für Kühe, die Kühe werden zu Hamburgern zerhackt. Wieviel Quadratmeter Regenwald kostet eine Frikadelle, fragt der Sprecher. Dummes Zeug, denkt mancher Zuschauer, ein Hamburger kostet zwo Mark fuffzich. Der Amazonas brennt, sagt der Sprecher, er meint nicht den Fluss, sondern den Regenwald dort. Selbst die Astronauten im All können die Rauchwolken sehen. Der Rauch verdüstert die blaue Murmel. Jede Sekunde verbrennt Urwald in der Grösse eines Fussballfeldes. Dazu kommt der Holzschlag.
Eine röhrende STIHL-Säge erledigt einen Urwaldriesen.
Der Holzfäller, ein magerer Schwarzer, muss auch leben. Für Fensterrahmen und Schrankwände aus tropischem Edelholz wird ein unersetzliches Oekosystem vernichtet, sagt der Sprecher. So ist es.
Das gleiche Bild aus Papua-Neuguinea. Die Hälfte des Regenwaldes ist schon dahin. Moran denkt, vielleicht auch schon die Hälfte meines Lebens. Aber das ist gewiss nicht dasselbe. Die Bäume werden zu Papier zerhäckselt. Wahrscheinlich sind die Arbeiter, die sie in die Maschinerie schieben, Analphabeten. Sie brauchen kein Papier, sie lesen keine Bücher, lieber Leser, sie brauchen ihren Hungerlohn.

Der Film ist gut gemacht und wahr, denkt Moran.
Fernsehen könnte auch weitsichtig machen, liebes Publikum.

Nach dem riesigen gelbbraunen Holzschnitzelberg unter dem blauen Himmel, der vom Gestell des Laufkrans durchschnitten wird, erscheint ein mit weissem Lehm bemalter, mit roten Federn geschmückter Kopf eines braunen Mannes mit erzürnten Augen.
Er spricht in einer fremden Sprache, voll Ueberzeugungskraft.
Er erscheint ganz im Bild, er trägt einen Grasrock, eine Kette um den Hals, Ringe um Arme und Beine. Eine würdevolle Erscheinung. Jeden Satzteil bekräftigt er damit, dass er mit dem geschnitzten Sprecherstock auf den Boden klopft. Neben ihm stehen sechs gleichartig geschmückte Stammesbrüder vor ihren grasgedeckten Häusern inmitten wild wuchernder Gemüsegärten.

Die Rede des Papua-Sprechers wird übersetzt. Er heisst Kipling Yiriga.
Wir haben unser Land von Gott erhalten, und eines Tages wird er es zurückverlangen. Niemals dürfen sie unseren Wald anrühren, der uns Nahrung gibt und Medizin. Der Wald ist unsere Haut, und ohne seine Haut stirbt der Mensch. Dies ist meine letzte Warnung!

Der Fernsehsprecher führt immer neue Bilder von abgeholzten Flächen vor, die Erde herabgeschwemmt, vom Wind verweht, öde und leer.
In einigen Gegenden Dürre, in anderen Orkane.
Das Klima verändert sich, zum Schlechten. Wir führen Krieg gegen die Umwelt, sagt der Sprecher, aber wer Krieg führt, kann ihn auch verlieren.

Nun die Stimme des Astronauten Wladimir Kowalenko. Er hat keinen Boden unter den Füssen. Er ist von Mama Erde abgetrieben, weit hinaus ins Weltall ausgesetzt. Wladimir Kowalenko kommentiert eine blaues Meeresbild mit Wolkendrachen. Eine Wolke trieb es von der Sahara bis zu den Philippinen, wohin sie Regen brachte. Er hat ihr von oben zugeschaut, der Kosmonaut. Und er sagt, in diesem Moment habe er begriffen, dass wir alle im selben Boot sitzen.

Auf derselben blauen Murmel. Und es gibt keinen Murmelladen gleich um die Ecke, denkt Moran.
Gibt es eben nicht.

Auch die Bengali werden nicht so leicht ein neues Land bekommen. Hebt sich der Spiegel der Ozeane um einen Meter, ist ein Drittel dieses Landes dahin. Schon die letzte Sturmflut hat drei Millionen Menschen obdachlos gemacht. Einer davon, ein Mann von fünzig Jahren, stochert, brusttief in der Flut stehend, im Grund herum; den Teekrug hat er bereits gefunden. Seine restliche Habe ist vielleicht fortgespült, vielleicht auch nicht.

Frauen, mit Holz beladen, tauchen aus einer nebligen Gebirgslandschaft auf. Am Himalaya wird abgeholzt, weil immer mehr Menschen Weiden und Brennholz brauchen. Die Niederschläge werden nicht mehr von Wäldern aufgehalten, die Flüsse schwemmen oben das Erdreich mit und treten unten über die Ufer, jedes Jahr mehr. Das Bild eines wunderschönen Schneegipfels, davor Holzträgerinnen.
Auch hier, sagt der Sprecher, gibt es immer weniger Bäume und immer mehr Menschen.

Ein Nepali spricht.
Ohne Holz kann ich mein Essen nicht kochen. Ich muss jeden Tag Holz holen. Ich habe keine andere Wahl. Ich muss es tun, auch wenn es falsch ist.

Das falsche Müssen hat noch andere Orte, es hat System.

In jeder Sekunde, sagt der Sprecher, gehen auf der Erde acht Tonnen Erde verloren. Die Wüsten wachsen. Die Wälder tragen den Himmel, sagen die Indianer. Wenn sie gefällt werden, fällt das Firmament auf uns.

Nach gelben Wüstenbildern kommt wieder die blaue Murmel auf den Schirm.
So schön, so weiss verwirbelt vom Südpol her, die Sonne geht hinter dem Nordpol unter. Der Kosmonaut Wladimir Schatalow, der das gefilmt hat, sagt: Versetz dich in ein Raumschiff. In zehn Minuten stösst du durch die Luftschicht, hinter der das Nichts ist. Der Luftraum, der uns das Atmen ermöglicht und uns vor endloser Weite und Tod schützt, hat sich als ganz zartes Häutchen erwiesen.

Es erscheint die Freiheitsstatue vor der Skyline von Manhattan. Der Sprecher sagt: Zu ihr schauen alle auf. Sie verkörpert das, was alle anstreben. Die Freiheit, zu wirtschaften. Die Freiheit, immer noch mehr zu wollen. Die Skyline der freien Welt, Vorbild für Bogotá, Bangkok, Brazzaville. So sieht Fortschritt aus. Entwicklung.

Eine Dollar-Notenpresse zaubert der Sprecher jetzt hervor. Was zählt, ist Geld. Geld kann man nicht essen, sagen die Indianer.

Blick auf ein gigantisches Autokreuz.

Früher, sagt der Sprecher, hiess es: Ein Mann, ein Pferd. Jetzt will jeder ein Auto. Ein Amerikaner braucht dreihundertfünfzehnmal soviel Energie wie ein Nepali. Würden alle so wirtschaften, der ökologische Zusammenbruch unseres Planeten käme innert eines Jahrzehnts.

Und wieder Haut, weisse Haut am Strand von Sydney. Das Ozonloch macht Baden dort gefährlich. Den Kindern werden Nase und Backen mit dicker blauer Zinksalbe eingerieben, eine Strandärztin überwacht kostenlos die Muttermale und Leberflecken, die im neuen scharfen Sonnenlicht so viel schneller wachsen.

Schnitt in eine Klinik, unter grünem Tuch ein Rückenausschnitt, kreisrund wird ein Leberfleck, der zu schnell gewachsen ist, weggeschnitten. Das Skalpell stochert im Gewebe, neue Haut wird darauf transplantiert.

Moran würgt der Anblick. Zwei Drittel der Australier werden sich einer solchen Operation unterziehen müssen, schon wenn alles so bleiben würde, wie es jetzt ist. Eine Schwester tupft das Blut ab. Der Film geht unter die Haut. Der Sprecher lässt das Bild einwirken. Und wieder geht etwas unter die Haut.

Wale in den Wellen tanzend. Eine Harpune. Ein dumpfer Schlag. Blut schäumt auf, dem Wal ist die ganze Seite aufgerissen worden. Zwei Millionen Wale hat die Menschheit in den letzten sechzig Jahren konsumiert , konstatiert der Sprecher. Die riesige Leiche wird an Deck gehievt, zu den Schlächtern gezogen. Mit einem Machetenhieb wird die Schwanzflosse abgehackt. Die Fischereiarbeiter, auch sie müssen das Falsche tun. Sie tragen gelbe Helme, grüne Stiefel, blaue Arbeitskleider. Blut überschwemmt das Deck. Der Speck wird abgeschnitten. Schwanz, Fett und Knochen sind Zutaten für Hühnerfutter, Autowachs und Lippenstifte, sagt der Sprecher.

Nicht nur von Walfischen werden die Meere gesäubert. Der Pazifik wird mit Treibnetzen bis zu fünfundsechzig Kilometern Länge leergefischt. Auf neun in Büchsen gepresste Thunfische kommt ein irrtümlich erbeuteter Delphin oder Mondfisch oder was sonst noch gross genug ist, sich in den endlosen Netzen zu verfangen: Mantas, Seeschildkröten, Riesenquallen.

Taucher schneiden einen Mondfisch aus den Maschen, der graue Mondfisch, eine seltsame Gestalt unter den Fischen, vier Meter lang, drei Meter hoch, taumelt mit mattem Flossenschlag in die sichere Tiefe zurück, dankbar und verwirrt darüber, dass die einen Menschen ihn aus den Netzen der anderen retten.

Noch seltsamere Bilder hat der Sprecher auf Lager. Schiffe liegen in einer grauen Wüste, nicht etwa alte Modelle, neuere Typen aus den fünfziger und sechziger Jahren. Wer betreibt diese Flotte? Die Wüste war einst der Aralsee. Er h at mehr als die Hälfte seines Wassers verloren. Seine Fischereiflotte ist unnütz geworden.

Sechzigtausend Fischer sind arbeitslos. Der verwüstet Seegrund ist schneeweiss, versalzen. Hier wächst nichts mehr , sagt der Sprecher.

Das Wasser wurde in die Baumwollkulturen gepumpt. Auch dort versalzen jetzt die Böden, zusätzlich werden sie mit Pestiziden vergiftet. Die Muttermilch der Baumwollpflückerinnen ist giftig, sie dürfen ihre Kinder nicht stillen.

Der Baumwollpreis sinkt stetig. Das alte Beispiel ist in Tansania verfilmt worden. Ein blauer Traktor steht vor einem Schupppen, in dem zwei Haufen Baumwolle lagern. Der eine Haufen, riesig, besteht aus vierunddreissig Ballen Baumwolle, der andere, mehr als doppelt so gross, aus vierundsiebz ig. Ein Tansanier erklärt:Für diesen Traktor mussten wir vor sieben Jahren vierunddreissig Ballen Baumwolle bezahlen, jetzt brauchen wir dafür vierundsiebzig.

Denn ein halber Traktor nützt ihnen ja auch nicht viel, denkt Moran. Dafür haben wir doppelt so viel Tuch im Schrank. So ist es eben.


Ein anderer Tansanier, ein würdiger Herr mit weissem Käppi, richtet folgende Worte ans nördliche Publikum: Wenn einer schon plant, den andern auszubeute n, so sollte er es wenigstens mit einer gewissen Fairness tun. So aber ist es einfach ungerecht, findet ihr nicht auch?
Er lächelt und sagt dann noch: Nein. So nicht. Das ist unanständig. Der Sprecher fügt dem nur noch hinzu, dass der hoch verschuldete Süden dem reichen Norden jeden Tag achthundertdreissig Millionen DM Zinsen überweist. Und wenn dann an den Rohstoffbörsen die Preise weiter fallen, werden neue Kredite fällig. So ist es eben.

Die niedrigen Preise für landwirtschaftliche Produkte führen zur Landflucht. Der Sprecher führt ein Slumviertel in Manila vor. Hühnerhausgrosse Menschenställe, auf dünnen Pfählen aus dem verkoteten, abfallübersäten Schlammboden ragend, erstrecken sich über ein riesiges Gebiet. Dazwischen Mütter, Väter, Kinder, Hunde.

Andere wohnen direkt auf der Müllkippe.

Ein Abfuhrlastwagen fährt vor. Er wird noch beim Abkippen seiner Last von Menschen gestürmt. Sie leben davon, allenfalls Brauchbares oder Verkäufliches aus dem Müll zu sortieren. Auf dieser Müllkippe hier leben etwa fünftausend Menschen, und es gibt davon noch viele allein in Manila.

Ein philippinisches Kind sucht von fünf bis acht Uhr morgens den rauchenden Müllberg nach Essbarem, Brauchbarem ab. Von acht bis viertel vor neun wäscht es sich, isst und zieht s ich um. Dann geht es in die Schule, in einem angrenzenden Quartier. In der Müllgegend gibt es keine Schule. Nach der Schule geht es wieder auf den Müllberg. Dort kommt es vor, dass Kinder im Getümmel unter dem ausgekippten Müll ersticken.

Die Reporterin fragt, ob die andern Kinder seiner Schulklasse auch auf den Müllberg gingen. Das M\'e4dchen sagt, nein, es sei die einzige. Das Mädchen trägt für die Arbeit auf dem rauchenden Müllberg einen Sonnenhut.

Eine achtzehnjährige Müllkippenbewohnerin, im dritten Monat schwanger, hat von dieser Lastwagenfuhr einige halbverfaulte Früchte erbeutet. Sie hat sich dafür voll ins Gerangel von mehr als fünfzig Menschen gestürzt, das ist für sie der Alltag. Sie sagt auf englisch, sie wolle ein besseres Leben für ihr Baby. Sie lächelt zuerst stolz, senkt dann den Kopf beschämt auf die fleckigen Früchte, ausgebreitet auf einem schmutzigen Tuch am Boden vor der Sperrholzhütte.

Wenn das Mutter Erde wüsste.

Sie erscheint wieder, rund und würdig im schwarzen Weltraum, total blau.

Kosmonaut Juri Artjuchin sagt: Es spielt keine Rolle, in welchem See du Verschmutzungen entdeckst, in welchen Ländern du Waldbrände bemerkst, in welchem Kontinent ein Wirbelsturm entsteht. Du bist Hüter der ganzen Erde.

Die Stimme des Welthüters verklingt im Bild einer Kloake.

Der Sprecher sagt: Früher stand auf Brunnenvergiftung die Todesstrafe, heute fliessen giftigste Abwässer ungeklärt in Bäche, Flüsse, Seen und Meere. Die Kloake ist die Weichsel in Polen. Ihr Wasser, grauschwarz, kann nicht einmal mehr zur Bewässerung verwendet werden.

Auch die Planwirtschaft stellte die Umwelt nicht in Rechnung. Die Ostsee an der Danziger Buch schäumt in der Brandung fast meterhoch, ein schleimiger Schaum wie Wackelpudding kommt ins Bild.

Badeverbot, tote Fische am Strand. Die Ostsee ist über weite Strecken ein totes Gewässer.

Moran schaltet ab.

Er weiss es. Das stimmt alles.
Moran hat den Algenschaum in der Ostsee selber gesehen. Sie ist fast überall braungrau und stinkt, ausser hoch im Norden oben, wo sie mehr saubere Zuflüsse hat. Die Fische stinken auch, viele Fischer fischen nichts mehr, die Schweden und Dänen essen lieber Lachs aus dem Pazifik.

Die Erde stinkt zum Himmel.
>
Da werden Sie sich doch gleich etwas Dusch-Gel-Reklame zu Gemüte führen müssen.

Oder ein Spötchen für hauchzarte Süssigkeit.

Oder für weichduftende Sauberkeit.

Oder für automobile Sicherheit dank starker Motorisierung, optimaler Knautschzone, zwei Airbags und Antiblockierbremssystem.

Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Irgendwie gleicht sich doch alles aus. Was geht mich das alles an. Oder dich.

Müssen Sie schon selber wissen.

Kein Grund zum Heulen oder Toben.

Leises Zähneklappern, etwas seelisches Frösteln vielleicht.

Cool bleiben.

Moran geht zum Kühlschrank, kapert, entert und leert eine Bierflasche.

Noch eine Sequenz. Nicht aufgeben. Nicht die Augen verschliessen. Nicht den Kopf am Sandstrand sonnen. Nicht Beethoven hören.

Moran schaut hin. Ein Bericht aus der Türkei. Eine ältere Frau, blaues Kleid, schwarzes Kopft uch, herbes, faltiges Gesicht mit ausgebrannten schwarzen Augen. Sie wirft sich auf ein Grab. Frisch aufgeworfene Erde, Blumen. Halb kniet sie, halb liegt sie. Sie hebt und senkt den Nacken, senkt den Kopf auf die Blumen und die Erde, hebt ihn wieder hoch . Sie schreit ihre Trauer in einem rhythmischen, melodiösen Singsang laut heraus. Sie klagt die Geschichte ihres Sohnes Yldirim.

Yldirim.

Er ist bei einer Demonstration gegen die Verfolgung der Aleviten von der Polizei verhaftet worden. Er ist einer der zweiunddreissig Menschen, die damals verschwunden sind. Auf der Polizeiwache hiess es: Wir wissen nicht, wo Ihr Sohn ist.

Die Frau schreit, singt, klagt:
Als ich dich nicht fand, wusste ich: Du bist tot.
Sie haben dich geschlagen. Sie haben dich gequält.
Yldirim, Freude meines Herzens. Sie haben dich getötet.
Tot liegst du im Grab.

Yldirim.

In einem Waldstück nahe beim Friedhof fanden die Freunde des Toten, Spuren und Hinweisen nachgehend, die kaum verscharrte Leiche Yldirims.

Sie hatte Verbrennungen an Ohrläppchen und Fingerspitzen: Spuren der Elektrofolter. Prellungen von Schlägen mit Gummiknüppeln auf dem ganzen Körper. Die Polizeidirektion sagt: Wir wissen nichts. Mutmasslich ist Ihr Sohn ein Opfer religiöser Streitigkeiten zwischen Aleviten und Sunniten. Das Staatsoberhaupt ist sunnitisch, die Versammlungsräume der Aleviten werden immer wieder angezündet.

Yldirims Vater, ein ernster Mann, Falten im ganzen Gesicht, ein warmer, guter Blick, Yldirims Vater sagt:
Es war die Polizei. Wir kommen gut aus mit allen. Sunniten, Aleviten; Muslime, Christen - das sind doch alles Menschen.
Alle sind gleich.


Moran schreibt es auf.

Merken Sie sich das.

Moran geht schlafen.

Moran erwacht.

Moran trinkt einen Kaffee.

Moran bleibt dran.



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