Referat von Thomas Huonker an der Tagung „Erinnern und Vergessen“ (Schweizerische Gesellschaft für Geschichte), Universität Fribourg, 1. März 2003
Interdisziplinäre wissenschaftliche Ausgrenzungskonstrukte in der Schweiz zwischen 1880 und 1980: Unerwünschte Menschengruppen als „Landplage“, „Gefahr“ oder „Seuchenherd“
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte mit einigen tabellarischen Aufstellungen beginnen.
Zuschreibungen von Ausgrenzungskonstrukten:
krank
abnormal
unterdurchschnittlich
unzivilisiert/primitiv/wild/überzüchtet/degeneriert
unmündig, verantwortungslos
gefährlich
kriminell
fremd, unheimlich
anders (z.B. Hautfarbe, Esssitten, Musikstil, Sprache, Glaube, Kleidung etc.)
arm respektive reich
stinkend
unerzogen
unsauber
faul
dumm
frech
missgebildet, unschön
Zuschreibungen von Eingrenzungskonstrukten:
gesund
normal
durchschnittlich bis überdurchschnittlich
zivilisiert
mündig, verantwortlich
harmlos, nett, erfreulich
heimatlich vertraut
gleich oder ähnlich
reich respektive arm
geruchlos oder dezent und passend parfümiert
wohlerzogen
sauber
fleissig, tüchtig, brauchbar
klug oder zumindest nicht gerade dumm, fähig
anständig, angepasst, höflich, korrekt
schön, angenehme Erscheinung, gut gekleidet, normalproportioniert oder -operiert
Gründe von Ausgrenzungs- respektive Eingrenzungskonstrukten:
Selbstbewusstsein, Selbstbestätigung, Stolz, Pflege der eigenen Identität
Erhalt von Privilegien oder bedrohtem Status
Angst
Projektionen, unausgelebte Wünsche, Grössenfantasien
Formen von Ausgrenzungs- respektive Eingrenzungskonstrukten:
strikt
durchlässig/definierte Aufnahme- und Ausschlussformen
durchlässig/undefinierte Aufnahme- und Ausschlussformen
offiziell festgelegt
informell
Folgen von Ausgrenzungs- respektive Eingrenzungskonstrukten:
Abschottung, Pflege oder unbewusster Fortbestand spezifischer Codes und Normen
kulturelle Vielfalt
unterschiedlicher Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen/Revieren/Bereichen, Ausschluss der einen vom Zugang zu gewissen Ressourcen/Revieren/Bereichen, Reservierung spezifischer Ressourcen/Reviere/Bereiche für andere
unterschiedlicher Rechtsstatus
unterschiedliche Machtpositionen
Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Gruppen, die nicht mit der individuell unterschiedlichen Erwerbstüchtigkeit von deren jeweiligen Mitgliedern zusammenhängen
Gefühl der eigenen, gruppenspezifischen Höher- oder Minderwertigkeit
Konflikte zwischen Eingegrenzten und Ausgegrenzten
Verneinung der Gleichwertigkeit und Mitmenschlichkeit gegenüber den Ausgegrenzten
von unbewussten Regungen angetriebene, besonders brutale Formen solcher Konflikte
Steigerung solcher Konflikte bis hin zu Ausrottung und Völkermord
Dies
sind leicht aus diversen Klassikern dieser Thematik zu entnehmende
und für alle Kulturen und Gruppen unter uns Menschen relativ
einheitlich und seit Urzeiten zu konstatierende Mechanismen. Als
solche Klassiker nenne ich hier unter wärmster Empfehlung ihrer
leicht zugänglichen Schriften: Herodot, Tacitus, Ibn Chaldun,
Michel Eyquem de Montaigne, Alexis de Tocqueville, Margaret Mead,
Claude Lévy-Strauss, Albert Memmi, Norbert Elias, Michel
Foucault, Georges Devereux.
Die aufgezählten Mechanismen werden allerdings in Diskursen, die gruppenintern geführt werden, und dies ist die grosse Mehrzahl aller Diskurse, oft übersehen oder ausgeblendet.
Einige davon sind auch besonders anfällig dafür, ins Unbewusste abgeschoben zu werden, besonders die ganz banalen und körperbezogenen Punkte dieser Liste. Es sind vor allem Forscher und Individuen, die einer Minderheits- oder Outsidergruppe angehörten oder welche im Lauf ihrer Biografien einmal oder mehrfach die Gruppenzugehörigkeit wechseln mussten, die also Biografien als Flüchtlinge, Ausgebürgerte oder Eingebürgerte, Weltreisende, Ethnografen, Auf- oder Absteiger, Absolventen eines Coming-Outs, Schiffbrüchige, Gekidnappte etc. hatten, welche auch ganz normal und ungebrochen Dahinlebende auf diese Mechanismen aufmerksam zu machen versuchten und versuchen. Ich füge der obigen Liste noch bei: Marco Polo, Bartolomé de las Casas, Herman Melville, Joseph Conrad – und die Liste ist leicht fortzusetzen oder zu ergänzen.
Die obigen Listen der Ein- und Ausgrenzungsmechanismen haben bei Ausrottung und Völkermord geendet. Doch es soll hier keineswegs dem Geschichtspessimismus im Stil von Hegels Diktum: „Die Geschichte ist eine Schlachtbank“ das Wort geredet werden. Ich bringe deshalb noch eine Liste in Anschlag, die glücklicherweise in den letzten 5 Jahrzehnten, Rückschlägen zum Trotz, an Akzeptanz und Geltung hinzugewonnen hat – wenn auch noch viel zu tun bleibt.
Kulturtechniken zur Begrenzung der nachteiligen Folgen von Ein- und Ausgrenzungskonstrukten:
interkultureller Dialog
Bekämpfung des Rassismus in allen Formen
Progagierung, Respektierung und Garantie der gleichen Menschenrechte für alle Gruppenangehörigen respektive Einzelindividuen in allen Staten und auch gegenüber Staatenlosen und Papierlosen
Propagierung, Respektierung und Garantie des Existenzrechts aller Menschengruppen und Einzelindividuen
Einhaltung des Völkerrechts
humane Strafregelungen, mit einer unabhängigen, weltweit zuständigen richterlichen Oberinstanz
Nun geht es aber hier um Schweizer Geschichte und um Bevölkerungspolitik in der Schweiz. Auch für diese gelten die oben genannten Einsichten und Erkenntnisse.Ich handle einiges davon an Beispielen des wissenschaftlichen und behördlichen Umgangs mit folgenden Gruppen im gemäss Titel vorgegebenen Zeitraum in der Schweiz ab:
Jenische, Sinti und Roma
Bevormundete und Anstaltsinsassen
Frauen, die nicht dem jeweiligen Normenstandard entsprachen
Homosexuelle
Als „schizophren“ oder „moralisch schwachsinnig“ Diagnostizierte
Behinderte
Näheres zu den von mir präsentierten Beispielen und viele weitere Beispiele finden Sie in den im Abstract erwähnten Publikationen1 sowie in zwei Büchern, die demnächst erscheinen; das eine trägt den Titel: „Diagnose: 'moralisch defekt'“ und ist die erweiterte Fassung meines Zürcher Berichts zu Zwangsmasnahmen im Fürsorgewesen,incl. Zwangssterilisationen und Kastrationen, das andereträgt den Titel: „Wandlungen einer Institution“ und schildert die Geschichte eines Männerheims für Alkoholiker und Randständige in Rossau, einer Fraktion der Gemeinde Mettmenstetten im Knonauer Amt, Kanton Zürich, Schweiz.2
I. Die Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma
In der alten Eidgenossenschaft wurden gemäss immer wiederholten Dekreten der damaligen Zentralinstanz, der Tagsatzung, die Fahrenden als unerwünschtes herrenloses Gesindel folgender Behandlung unterzogen: Bei erstmaliger Kontrolle durch Behörden wurden sie formell des Landes verwiesen, mussten schwören, es nie wieder zu betreten und wurden mit einem Brandzeichen in der Haut als bereits einmal Zurückgewiesene stigmatisiert. Oft wurde das Prozedere durch Prügelstrafen verstärkt. Wurden sie ein zweites Mal innerhalb der eidgenössischen Grenzen aufgegriffen, wurden sie erhängt oder als Sträflinge auf die Galeeren Frankreichs, Venedigs oder Savoyens verkauft.3
Dennoch hielt sich konstant eine illegale und rechtlose fahrende Bevölkerungsschicht auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Deren Mitglieder machten sich, wo es ihnen erlaubt war, auch gerne sesshaft. Umgekehrt erhielten die Nichtsesshaften steten Zuzug durch Kranke, Verarmte, aus konfessionellen Gründen Verstossene, abgedankte Krieger, fahrende Schüler und Ärzte, Hausierer und andere. Regionen wie Teile der Waadt (Jorat), Graubünden und insgesamt die Moore, Wälder und Berge der Schweiz waren auch das Rückzugsgebiet für auswärtige Verbannte respektive Banditen.
Von der Regierung der helvetischen Republik erhielten im Prinzip alle Einwohner das Bürgerrecht, was die Ansiedlung vieler vordem Rechtloser erleichterte. Nach Mediation und Regeneration wurden alte Privilegien und Ausgrenzungsregeln wieder eingeführt. Die napoleonischen Kriege, die beginnende Industrialisierung mit ihrer destruktiven Wirkung auf dörfliche und familiäre Strukturen sowie der Ausbau der Transportwege liess die Anzahl nicht nur der als „classes dangereuses“ 4 etikettierten Fabrikler und Bewohner städtischer Elendsquartiere ansteigen, sondern auch die Anzahl der papierlos teils behördlich zwischen verschiedenen Zuständigkeitsgrenzen herumgeschobenen, teils auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten und ökonomischen Nischen selber herumziehenden „Heimatlosen“.5
Die einzige aus der Revolutionswelle von 1848 in Europa hervorgegangene Regierungsform, die sich an der Macht halten konnte, der schweizerische Bundesstaat, machte sich an die Lösung der Heimatlosenfrage. Dies in erster Linie dadurch, dass er, wie unter der Helvetik, das allgemeine und gleiche Bürgerrecht einführte, allerdings weder für Frauen noch für Juden, sondern auschliesslich für christliche Männer. Diesen stand neu auch die volle Niederlassungsfreiheit zu. Viele Nichtsesshafte nutzten diese Gelegenheit zur Niederlassung und Einbürgerung. Andere wählten, manchmal auch unter Druck der Behörden und Finanzierung der Behörden, die Auswanderung als Wirtschaftsflüchtlinge, in der Hoffnung auf besseren Erwerb in den Siedlungskolonien, was wiederum für die dortigen Ureinwohner nachteilig war.
Es blieb eine Schicht von sogenannten Vaganten, die aus persönlicher Problematik oder aus Gründen ihrer Wandergewerbe nicht sesshaft werden konnten oder wollten. Es waren dies die Einzelwanderer und die Fahrenden, welche als Schausteller, Musiker, Hausierer, Korber, Messer- und Scherenschleifer, Wanderhändler von Pferden, Geschirr, Medizin, Druckschriften, Merceriewaren, Gewürzen und in vielen anderen Branchen, oft in mehreren gleichzeitig, tätig waren und über transportable und vielfach durchaus auch komfortable Wohnsitze wie Wagen und Zelte verfügten.
Die Einzelwanderer kamen in den rasch ausgebauten Kreis von Zwangsarbeitsanstalten oder organisierten sich ihr Dasein längs den Hilfseinrichtungen für wandernde Handwerksgesellen und städtische Clochards. Für die fahrenden Familien, unter denen es sowohl jenisch Sprechende wie auch romanes Sprechende gab, erliess der eben gegründete Bundesstaat 1851 ein „Gesetz, die Heimatlosigkeit betreffend“. Es statuierte einerseits die Verpflichtung der Kantone und Gemeinde, auch diese Menschen als Bürger aufzunehmen, und zwar unter Zwang, denn freiwillig bürgerte sie offenbar keine Gemeinde ein. Andererseits verbot es den Zwangseingebürgerten, als Familien herumzuziehen, jedenfalls nicht mit schulpflichtigen Kinder, was angesichts der meist hohen Kinderzahl der Fahrenden einen grossen Teil von deren Lebenszeit betraf. Parallel zum Vollzug dieses Gesetzes führte die neu eingerichtete Bundesanwaltschaft eine landesweite Vagantenfahndung durch. Die Fahrenden wurden landesweit aufgegriffen, nach Bern, Aarau oder Zürich ins Gefängnis transportiert und dort verhört und fotografiert.6 Das Verfahren war eine Triage zwischen jenen, die den wenigen schliesslich dazu ausersehenen Gemeinden als Neubürger aufoktroyiert werden sollten und jenen, die in ausländische Zuständigkeit ausgeschafft werden sollten.
Während die Ausschaffungen der ausländischen Fahrenden relativ zügig gehandhabt werden konnten, zogen sich die Zwangseinbürgerungen der als Inländer anerkannten Fahrenden, wegen dem Widerstand aus Kantonen und Gemeinden, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts hin. Anschliessend wurde das Gesetz nicht mehr angewendet, insbesondere nicht auf neu einreisende Roma, Sinti und Jenische aus dem Ausland.
Diesen stand die Ein- und Durchreise aufgrund der liberalen Denkweise des frühen Bundesstaats zwar offen, nicht aber die Niederlassung und Einbürgerung. Und auch die Einreise und Durchreise wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ausgehend von den Grenz- und Transitkantonen, eingeschränkt und schliesslich im 20. Jahrhundert gänzlich gesperrt.
Der Kanton Uri verlangte am 14. Oktober 1872 in einer Eingabe vom Bund die Durchreise von „Zigeunerfamilien“ und „Bärentreibern“ durch geeignete Massnahmen an den Grenzposten zu sperren. Das eidgenössische Justizdepartement antwortete am 21.Oktober 1872, solche Massnahmen gegen „ganze Klassen von Personen“ würden „im Widerspruch sein mit dem allseitig und zumal in der Republik anerkannten Grundsatz der freien Zirkulation der Individuen“.7 Die Grenzkantone führten dann in eigener Regie ab 1888 eine solche Grenzsperre durch.
Ein Beamter des Justizdepartements, Eduard Leupold, Adjunkt der Polizeiabteilung von 1905 bis 1915, profilierte sich in der Folge mit der Perfektionierung der schweizerischen Grenzsperre gegen „Zigeuner“. Zwar gelang es ihm nicht, auch die Nachbarstaaten in diese Politik einzubinden. Weder kam eine von ihm angestrebte internationale Konferenz zustande, noch beteiligten sich Italien, Frankreich, Deutschland oder Oesterreich an dem Transportverbot für „Zigeuner“ auf Eisenbahnen und Dampfschiffen, das die Schweiz 1906 dekretierte. Im Alleingang praktizierte in der Folge die Schweiz das von Leupold nach Erstellung mehrer Expertisen durch diverse Wissenschafter zu Geschichte und Charakter der „Zigeuner“ entwickelte Verfahren, das auch im Zusammenhang steht mit den von Alphonse Bertillon, dem „Eugeniker“ Sir Francis Galton und anderen entwickelten anthropometrischen Techniken. Leupolds Verfahren, das auch auf Abschreckung zielte, sah nebst der schon seit 1888 wieder praktizierten Grenzsperre die Verhaftung illegal eingereister „Zigeuner“ vor. Es folgte deren zwangsweise Familientrennung. Die Männer kamen nach Witzwil oder Thorberg, die Frauen und Kinder in Heime der Caritas oder der Heilsarmee. Die Personalien aller Internierten wurden aufgenommen und, ergänzt durch Fingerabdrücke und Polizeifotografien, in das bei der Polizeiabteilung zentral geführte „Zigeunerregister“ abgelegt. Nach Ablauf des Identifikationsverfahrens, das mehrere Monate dauerte, wurden die Familien getrennt an die Grenzen geführt, dort wiedervereinigt und illegal in die Nachbarstaaten abgeschoben. Dieses ab 1913 voll institutionalisierte Verfahren wurde insbesondere auch während dem ersten Weltkrieg durchgeführt. Die Kosten von Leupolds Verfahren 8 wurden durch einen jährlich wiederkehrenden „Zigeunerkredit“ getragen, den das Parlament beschlossen hatte.
Der Jurist Leupold definierte die von der Schweiz fernzuhaltende Menschengruppe, die er als „Zigeuner“ bezeichnete, als kollektive Gefahr für den schweizerischen Staat. Er schrieb 1911: „Die Zigeuner (...) setzen sich in beständigen und bewussten Widerspruch mit den Gesetzen und Verordnungen des Zivilstandswesens, da sie keine Geburten in die Geburtsregister eintragen lassen, keine bürgerliche Trauung eingehen und dadurch jede Fixierung des Personenstandes verunmöglichen. Durch ihre unstete Lebensweise entziehen sie sich jeder zivilstandsamtlichen Kontrolle und damit auch jeder auf die Verletzung der Zivilstandsvorschriften gesetzten Strafe. Sie sind somit refraktär gegen jede bürgerliche Ordnung und staatliche Autorität und zwar nicht nur theoretisch, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich mit der Tat.“9
Mit seiner Vorgabe, es gelte, das „Zigeunerunwesen“ zu „sanieren“, rückte Leupold die als Staatsfeinde und chronische Gesetzesbrecher Ausgegrenzten zudem noch in eine gesundheitspolitische Dimension der Seuchenabwehr.
Franz Egger fasste Leupolds Sichtweise und Politik wie folgt zusammen: “Auf ideellem Gebiet ging es um die Vernichtung des Zigeunertums, auf praktischer Ebene um die Fernhaltung der Zigeuner vom Gebiet der Eidgenossenschaft.“10
In der Zwischenkriegszeit wurde diese Politik so konsequent wie möglich durchgehalten.
Eine 1934 aus Italien per Zug nach Zürich gereiste Familie griechischer Roma, die hier überwintern und das Kupferschmiedegewerbe ausüben wollte, wurde zunächst in Basel in einen französischen Zug gesetzt und, als die französichen Zöllner sie zurückwiesen, nach Domodossola gebracht, wo sie jedoch von den italienischen Grenzern wieder in die Schweiz zurückgeschoben wurden. Die Polizeiabteilung, inzwischen von Heinrich Rothmund geführt, beauftragte hierauf eine bekannte Transportfirma mit der Rückführung der Familie per Zug und Schiff nach Griechenland. Den Schweizer Konsularbeamten, der die Visa erteilt hatte, offenbar weil er von der Einreisesperre nichts wusste, rügte Rothmund wie folgt: „Der Anblick der überaus schmutzigen Leute und die Tatsache, dass von den 23 Personen 15 Minderjährige waren, hätten (...) zur Überlegung führen müssen, dass diese Leute in der Schweiz unerwünscht seien“.
Um kurz auf die Liste von zugeschriebenen Eigenschaften Ausgegrenzter zurückzukommen: Wir haben schon in diesem kurzen Überblick die Stichworte „fremd“, „gefährlich“, „Unwesen“ und „schmutzig“, die Resultante „unerwünscht“ sowie das Lösungsrezept „Sanierung“.
Erfolgreicher waren verschiedene kantonale Polizeikorps mit der Rückschaffung verschiedener so genannter „Zigeunerbanden“ nach Italien oder auch nach Frankreich, je nachdem, wo es ihnen besser gelang, sie schwarz über die Grenze zu stellen.
Nachdem jedoch Mussolinis Italien 1926 beschlossen hatte, sein „Territorium von Zigeunerkarawanen zu säubern“, um den „zigeunerischen Organismus in seinem Kern zu treffen“,11 und solche Rückweisungen nicht nur mit Grenzpolizei und Zöllnern, sondern auch mit Truppen der faschistischen Miliz flankierte, wobei es zu Schiessereien an der Schweizer Grenze kam, musste Rothmund, nach jahrelangen vergeblichen Abschiebeversuchen, schliesslich im Jahr 1936 den Aufenthalt von drei Sinti-Familien in der Schweiz dulden.
Auch die in der Schweiz bekannte lebensbedrohende Lage der im Dritten Reich und den besetzten Gebieten während des 2.Weltkriegs als „Zigeuner“ Verfolgten änderte nichts an der schweizerischen Einreisesperre gegen diese Menschengruppe.
Die Sperre wurde sogar ausgeweitet auf den Schweizer Bürger Joseph F., Sohn einer Sintezza und eines Jenischen, der als Artist und Musiker zuerst mit dem Zirkus Krone, dann mit einer belgisch-holländischen Gruppe von Sinti unterwegs war. Als die Gruppe in Holland anfangs 1944 in die Fänge der Nazis geriet, berief sich Josef F. vergebens auf seine Schweizer Staatsangehörigkeit, denn es war ihm schon Jahre zuvor die Ausstellung eines Schweizer Passes verweigert worden, und kein Konsul oder Botschafter der Schweiz setzte sich für ihn ein. Dies obwohl Beamte aus Italien – nach dem Sturz Mussolinis – und aus Guatemala, sogar solche Sinti vor diesem Transport von Westerbork nach Auschwitz retteten, deren italienische und guatemaltekische Ausweise offenkundig gefälscht waren. Josef F. kam nach Auschwitz. Glücklicherweise überlebte er den Holocaust.12
Noch im Herbst 1944, als die gegenüber vor dem Holocaust flüchtenden Juden ebenfalls unmenschlich konzipierte und gehandhabte Schweizer Einreisesperre für jüdische Flüchtlinge schon aufgehoben war, wurde der 17jährige Sinto Anton Reinhardt, der vor seiner Zwangssterilisation in die Schweiz geflohen war, ins Elsass abgeschoben. Er fiel den Nazis wieder in die Hände und wurde am Ostersamstag 1945 von der SS erschossen.13
Das Verbot für „Zigeuner“, in die Schweiz einzureisen, galt bis ins Jahr 1972, als es auf Proteste aus dem Ausland hin aufgehoben wurde. Kein Zufall ist es, dass auch die Verfolgung der eingebürgerten Jenischen durch die gezielten und systematischen Kindswegnahmen der Pro Juventute ebenfalls bis 1972 andauerte, einige Vormundschaften des so genannten „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“14 wurden noch länger fortgeführt.
II. Sichtweisen und Haltungen der Ausgrenzung und Unfruchtbarmachung angeblich „erblich Minderwertiger“
Auch andere flohen wegen ihrer drohenden Zwangssterilisation aus dem Nazireich in die Schweiz, so Franz S., ein Hausierer. Seine Ankunft veranlasste den Beamten Simmen von der Polizeiabteilung in Bern zu einem Aktenbericht über die Frage, ob dies ein anerkennenswerter Flucht- und Asylgrund sein könne. Simmen verneinte das in wuchtiger Klarheit.
Erstens befürchtete der Polizeibeamte weitere Fälle: „Die nicht nachkontrollierbare Bedrohung mit Sterilisation als Begründung für die Emigrantenqualität wäre ein gefundenes Fressen für diese Kreise.“
Zweitens aber hatte sich Simmen beim schweizerischen Oberfeldarzt kundig gemacht, dass auch in der Schweiz die Sterilisation psychiatrisch als „minderwertig“ Diagnostizierter „auf Grund einer eugenischen Indikation dem schweizerischen Odre public“ in keiner Weise widerspreche. Sondern, so schrieb Simmen in seinem polizeilichen Aktenbericht, „die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine bahnbrechende Rolle gespielt. Sie war das erste Land in Europa, in dem dieses Problem praktische und gesetzliche Form angenommen hat. Der Pionier, der schon im letzten Jahrhundert für die Verwirklichung sich eingesetzt hat, war Prof. Auguste Forel. Seit 1905 hat im Burghölzli eine reiche und systematische Kastrations- und Sterilisationspraxis die Zustimmung der Behörden gefunden. Die Schweiz ist auch das erste Land Europas, in dem eine gesetzliche Regelung dieses Problems getroffen wurde, die nicht das Einverständnis des zu Sterilisierenden voraussetzt, sondern dieses durch den Entscheid eines Gesundheitsrates ersetzt. Der Kanton Waadt ist mit seinem 'Gesetz vom 3.9.1928, betr. die Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger' (Irrengesetz von 1901, IV. Abschnitt) auch gesetzgeberisch bahnbrechend geworden. Von dieser rechtlichen Möglichkeit ist sehr häufig Gebrauch gemacht worden.“ 15
Die Grundthesen von „Rassenhygiene“ und „Eugenik“, ihre Verknüpfung mit dem Kolonialismus, ihre erstaunlichen Vermengungen nicht nur mit Theorien der Vorherrschaft von Eliten, zu denen sie am bruchlosesten passen, sondern auch mit christlichen und sozialistischen Theorie-Elementen, ihre Installierung als Staatsdoktrin im Nazireich mit der daraus abgeleiteten Zwangssterilisation und schliesslich "Euthanasie" (übersetzt so viel wie "gute Tötung") an Hunderttausenden von Opfern ist in Deutschland schon seit Jahrzehnten gründlich und kritisch mehrfach dargestellt worden. Auch auf die wichtige Rolle der Schweizer „Eugenik“-Pioniere ist schon mehrfach hingewiesen worden, in den letzten Jahren auch durch einige Publikationen aus der Schweiz selber.
Was ich in meiner Arbeit am Quellenbestand der Zürcher Fürsorgeakten und einiger psychiatrischer Krankenakten von Mündeln der Zürcher Fürsorge neu darlegen konnte, waren die einzelnen Überlegungen und Haltungen, die hinter der Sterilisationspraxis in der Schweiz standen. Ich will einige davon herausgreifen.
Zum einen ist da die Direktheit zu nennen, in der die „Eugeniker“, Sterilisatoren und Kastratoren klarstellten, dass diese medizinischen Massnahmen, die in der Schweiz in überwiegender Mehrzahl an Frauen vollzogen wurden, nicht im Interesse der Gesundheit und des Wohlbefindens der unfruchtbar Gemachten selber lag. So schrieb Forel: „Die Kastration ist dem Patienten selber unnütz.“16 Hans Binder, ein anderer Psychiater und Sterilisationsbefürworter, erkannte zwar klar, dass viele der operierten Frauen „subjektiv erheblich unter den Folgen des Eingriffs leiden“, doch insbesondere die Sterilisationen aus eugenischen Gründen wertete Binder als „objektiv“ sinnvoll, nämlich wegen dem von ihm und anderen postulierten „Nutzen dieser Sterilisationen für die Allgemeinheit“.17
Welche Verhaltensformen und Haltungen erforderte die Praktizierung der Überzeugung, gegen den Willen und unter Verstümmelung ihrer Patientinnen und Patienten Operationen oder auch Röntgenbestrahlungen zur Unfruchtbarmachung durchzuführen, und zwar nicht auf Befehl einer höheren Instanz, um damit vorgeblich die Gesundheit des gesamten „Volkskörpers“ zu heben, und zwar gerade unter Verstümmelung und Bestrahlung einzelner angeblich „minderwertiger“ Menschen und ihrer Körper und unter Missachtung ihrer Leiden und Proteste?
Folgende gewissermassen methodologische Voraussetzungen brauchte es, damit die damals leitenden und prestigereichsten Wissenschafter zu solchem fähigt waren.
Die klare, aus- und eingrenzende Sicht, man selber sei „höherwertig“, die Forschungs- und Behandlungsobjekte jedoch seien „minderwertig“. Ein Beispiel dafür ist Josef Jörger, dessen Stammbaumforschung, die er „psychiatrische Familiengeschichten“ nannte, am Anfang der Ausgrenzung und Verfolgung der Jenischen, Sinti und Roma durch die „Rassenhygieniker“ nicht nur in der Schweiz stehen. Jörger charakterisierte die von ihm wissenschaftlich behandelte Menschengruppe als „erblich minderwertig“. Die Jenischen seien geprägt durch „ein vom Uhrahn begründetes, vom Ahnen gehäuftes, unheilvolles Erbe von moralisch-ethischem Schwachsinn“, welches der Grund sei für die folgenden von Jörger seinen Forschungsobjekten zugeschriebenen Haupteigenschaften: „Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche und Geistesstörung, Pauperismus.“18 Seine eigene Gruppe beschrieb Jörger hingegen genau gegenteilig und somit sehr idealisierend: „Die Einwohner unserers Tales, ein Zweig der sog. deutschen Walserkolonien, sind allgemein arbeitsame Bauersleute, sparsam, ernst, vorsichtig; wie die Söhne des Gebirges religiös, sittenstreng und nüchtern. Alkoholismus ist dort selten. (...) Familiensinn, Kindes- und Elternliebe, Anhänglichkeit an die heimatliche Scholle und eine durchgehends gute Begabung werden ihnen nachgerühmt.“19
Die bevormundende, Nicht-Experten als Laien abqualifizierende Haltung , man wisse besser als die Anderen selbst, was für diese gut sei. Charlot Strasser und viele andere Psychiater und Gynäkologen argumentierten gerade in der Schweiz in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs sehr lange nach diesem Muster. Strasser schrieb dazu, „dass nicht der Wille der Mutter darüber entscheiden darf, ob ein Kind geboren werden soll oder nicht. Denn dieser Wille kann von unklaren und gerade auch medizinisch laienhaften Vorstellungen bedingt sein. Schon aus diesem Grunde darf es niemals zu einer Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs kommen.“20 Zu dieser Haltung gehörte auch eine grosse emotionale Distanz zu den wissenschaftlich Begutachteten, wobei auch eine Dosis Herablassung einfloss und wohl auch Sadismus mitwirkte. Strasser schrieb: „Mit Strenge und Schärfe, in höchstem Ernst pflege ich diese vorbereitenden Besprechungen mit den Gesuchstellern durchzuführen. (...) Es kommt dabei sehr oft zu aufgeregten, empörten, ja dramatischen Szenen. (...) Kaum eine Einleitung der Untersuchung geht bei Schwangeren, wenn sie nicht gerade schizophren sind, ohne Tränen ab.“21 Bei diesen Gutachten zum Schwangerschaftsabbruch ging es vielfach auch darum, eine Sterilisationsempfehlung auszusprechen.Vor diesem Hintergrund sind auch die sogenannten „Sterilisationskonferenzen“ der zwanziger Jahre in Bern zu sehen, die in ausschliesslich männlicher Besetzung „Richtlinien betreffend operative Eingriffe bei Frauen“ ausarbeiteten, welche dann jahrzehntelang als Richtschnur bei Sterilisationen galten.
Die Haltung, eine vorausschauende, für die Zukunft von Staat und Welt planungsmächtige Elite zu sein, dies wiederum im Unterschied zu den Ausgegrenzten, auch wenn diese die Bevölkerungsmehrheit bildeten. So war es eine Standardformulierung der „Eugeniker“ in der Deutschschweiz, es brauche keine Gesetze für „eugenische“ Massnahmen, sondern man solle allfälligen Regelungsbedarf mit internen Richtlinien abdecken. Denn, so sagte es der Zürcher Stadt- und Nationalrat Hermann Häberlin 1931: „Jedermann ist klar, dass das Volk für eine solche Gesetzgebung noch nicht reif ist.“22
Nun ist es ja so, dass solche Haltungen auch heute noch anzutreffen sind.
Deshalb versuche ich zum Schluss, einige Stichworte zu Formen und Beispielen nicht ausgrenzender Wissenschaft zu geben. Der Kernpunkt dabei scheint mir zu sein, dass in den Human- und Sozialwissenschaften auch und gerade die erforschten Menschen selber zu Wort kommen sollen und ihre Sichtweise keineswegs von vornherein abgewertet oder unterschlagen werden sollte. Vielmehr muss es ein wichtiger Teil der Forschung sein, diese Sichtweise möglichst authentisch zu dokumentieren, etwa durch Interviews oder die Wiedergabe von schriftlichen Selbstzeugnissen. Das bedeutet keineswegs die Übernahme dieser Sichtweisen durch die Forscher selber; diese vielmehr haben auch ihre eigene Interessen, Haltungen etc. klar darzulegen, ebenso wie diejenigen der anderen in den untersuchten Prozess oder Zeitraum involvierten Akteure.
Robert Alexy hat, fussend auf den langjährigen Bemühungen von Jürgen Habermas, faire Formen des wissenschaftlichen Diskurses zu thematisieren, dazu unter anderen folgende Diskursregeln vorgeschlagen:
Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen.
a) Jeder darf jede Behauptung problematisieren
b) Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen
c) Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äussern
Kein Sprecher darf durch innerhalb oder ausserhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in 1. und 2. festgelegten Rechte wahrzunehmen. 23
Ich habe oben einige Beispiele eingeführt, welche solche Regeln aufs krasseste verletzten. Es ist bekannt, dass eine weitere Steigerung solcher Haltungen dazu führte, dass zahlreiche deutsche Wissenschafter bei den Massenmorden an Behinderten und anderen Bevölkerungsgruppen mitwirkten.24
Der methodologisch äusserst sensitive Psychiater und Ethnologe Georges Devereux bemerkt, dass gerade das Pochen auf angebliche „Objektivität“ der Wissenschaft solche menschenverachtenden Haltungen fördern kann: „Die Roheit vieler Experimentatoren (...) ist oft schlicht eine auf den theatralischen Effekt abgestellte Demonstration der 'Objektivität' vor einer internalisierten Galerie kritischer Kollegen, die als eine Art Überich fungieren. Diese Analogie ist um so gültiger, als das Überich per definitionem eine archaische, grausame und dumpfe psychische Instanz ist, von der mehr Brutalität ausgeht, als noch das ungehemmteste Es sich jemals zuschulden kommen lassen könnte.“25
Devereux formuliert seine Kritik gerade auch aus genauer Kenntnis der Praxis etwa von Lobotomie und Kastration in den USA und schreibt dazu unter anderem, dass „eine Lobotomie die Psychose nicht heilt, sondern den Lobotomierten nur gefügiger macht. Einmal lobotomisiert (...), wird der Patient dann behandelt, als sei er ein untermenschliches Wesen. (...) Sehr ähnliche Resultate lassen sich auf sozialer Ebene erzielen, indem man bestimmten Kategorien von Menschen willkürlich den vollmenschlichen Status abspricht.“26
Ich möchte aber diesen Vortrag mit dem Hinweis auf ein positives Beispiel und grosses wissenschaftliches Vorbild abschliessen. Der Historiker Eric J. Hobsbawm hat in seinen Werken, gerade auch in jenen über Geächtete, Ausgestossene und Ausgegrenzte, stets auch diese selbst zu Wort kommen lassen,27 und er ist damit zu einer Leitfigur der modernen Sozialgeschichte geworden.
III. Abstract zum Referat:
Interdisziplinäre wissenschaftliche Ausgrenzungskonstrukte in der Schweiz zwischen 1880 und 1980: Unerwünschte Menschengruppen als „Landplage“, „Gefahr“ oder „Seuchenherd“
Nach 4 Jahrzehnten einer liberalen Öffnungspolitik produzierten seit Ende des 19. Jahrhunderts die vormaligen Träger des kosmopolitischen Liberalismus in der Schweiz, die universitären Eliten, neuartige wissenschaftliche Reinigungs- und Sicherungstheorien gegenüber Menschengruppen, die schon älteren Ausgrenzungsmustern ausgesetzt waren. Mit Einsatz modernster Wissenschaft wurden seit altersher Verdächtigte und Abgedrängte neu definiert und mit neuartigen Verfolgungs-, Abwehr- und Ausrottungsstrategien konfrontiert. Krankheit, Armut und Schmutz sollten dem Fortschritt weichen. Moderne wissenschaftliche Methoden sollten eine gesunde, habliche und saubere Schweiz hervorbringen. Die menschenverachtenden Elemente dieses männlich geprägten, wissenschaftlich argumentierenden säkulären Sendungsbewusstseins sind erst in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein gedrungen und geben seit kurzem Anlass zu wissenschaftskritischer Selbstreflexion. Eine solche wäre allerdings kaum im nun erfolgenden Mass in Gang gekommen, wenn es nicht auch in der Schweiz zu Bruchlinien gekommen wäre, welche den Opfern solcher Konzepte (Flüchtlinge, Fahrende, Frauen, sexuelle Minderheiten, Behinderte) Raum gaben, ihre Sichtweise als unübersehbar, ihre Stimmen als unüberhörbar und ihre vordem bestrittenen und beschnittenen Rechte als legitim zu präsentieren. Umgekehrt erscheinen zahlreiche Argumentationsmuster in Justiz, Medizin, Psychiatrie und Kriminologie der Jahre zwischen 1890 und 1960 im Rückblick als rassistisch oder schlichtweg hanebüchen. Schwieriger noch als die Kritik solcher Konstrukte ist aber das Finden, Bewahren und Weiterentwickeln wissenschaftlicher Methoden und Werte, bei denen nicht elitäre Wissenschafter im Humanbereich den „Laien“ gegenüberstehen als ihrem „Material“, das es zu begutachten und nach verschiedenen Wertigkeiten zu selektionieren gilt, sondern wo Dialog, Respekt und gleichwertige Vielfalt als Leitwerte gelten. Anhand einiger „bevölkerungspolitischer“ Argumentationsmuster von Juristen, Kriminologen, Medizinern und Psychiatern und den damit begründeten institutionellen Verfahren gegenüber einigen der oben genannten Menschengruppen werden gesellschaftliche Tendenzen und Zäsuren des genannten Zeitraums für die Schweiz skizziert.
Anmerkungen
1Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd.23, Zürich 2001; Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, „Eugenik“ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970
2Thomas Huonker: Diagnose:“moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik. Zürich 2003; Thomas Huonker/Martin Schuppli/Fabian Biasio (Fotos): Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003
3Ausführlicher dargestellt in Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. 2. Auflage, Zürich 1990, S.27-39. Diesbezügliche Erlasse der Tagsatzung im Wortlaut auf www.thata.ch/thataabschiede.htm
4Vgl. H.A.Frégier: Des classes dangereuses de la population dans les grandes villes, et des moyens de les rendre meilleures. Paris 1840; Louis Chevalier: Classes laborieuses et classes dangereuses. Paris 1958
5Vgl. Hector Malot: Heimatlos. Diverse Auflagen.
6Vgl. Martin Gasser, Thomas D. Meier, Rolf Wolfensberger: Wider das Leugnen und Verstellen. Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen 1852/53. Zürich 1998
7Vgl. Franz Egger: Der Bundesstaat und die fremden Zigeuner in der Zeit von 1848 bis 1914, in: Studien und Quellen, Nr.8, Bern 1982, S.49-71
8Vgl. Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd.23, Zürich 2001, S.41f.
9Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe, 2. Auflage Zürich 1990, S.64
10Franz Egger: Der Bundesstaat und die fremden Zigeuner in der Zeit von 1848 bis 1914, in: Studien und Quellen, Nr.8, Bern 1982, S.49-71, S.71
11Vgl. Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd.23, Zürich 2001, S.69
12Vgl. ebda, S.86-90
13Vgl. ebda, S.81-84
14Vgl. Walter Leimgruber/Thomas Meier/Roger Sablonier: Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Bern 1998
15Vgl. Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, „Eugenik“ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970, S 94ff.
16Vgl. ebda, S.102
17Vgl. ebda, S.108
18Josef Jörger: Psychiatrische Familiengeschichten, Berlin 1919, S.4, S.1
19Josef Jörger: Familie Zero, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschliesslich Rasse- und Gesellschaftshygiene, Nr.2/1905, S.495-559, S.495
20Charlot Strasser: Der Arzt und das keimende Leben, Schwarzenburg 1948, S.20
21Ebda., S.104
22Hermann Häberlin: Praktische Gesundheitspflege, Zürich 1931, S.35
23Vgl. Jürgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S.99
24Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke: Ärzte ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Aerzteprozesses. Diverse Auflagen.
25Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München o.J.(1973), S.268
26Ebda., S.182. Devereux äussert sich dort auch zu den Schriften eines amerikanischen Kastrators schwachsinniger Kinder. Vgl. zur Lobotomie und Kastration in der Schweiz: Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote. Sterilisationen, Kastrationen. Zwangsmassnahmen, Fürsorge, „Eugenik“ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970, Zürich 2002, S.150-162
27So gibt Hobsbawm etwa einen Brief des sardischen Outlaws Pasquale Tanteddu aus dem Jahr 1954 in extenso und in Anerkennung der Kompetenz des Banditen als Formulierer der eigenen Sichtweise wieder: Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen, Neuwied 1971, S.223-226