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Hier eine HTML-Umsetzung von Seite 7 der WOCHENZEITUNG (WoZ), Zürich, vom 23. März 2000. Die darin erwähnte Studie der Bergier-Kommission ist am 1.12.2000 unter dem Titel Roma, Sinti, Jenische - Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, verfasst von Thomas Huonker und Regula Ludi doch noch publiziert worden und ist auch als Buch beim Chronos-Verlag, Zürich erhältlich.


"Katharina Florian, Zigeunerin"
Karte aus dem Zigeunerregister der Kantonspolizei Bern
Schubladisierte Studie
Der Historiker Thomas Huonker, der sich seit 1986 in vielen Publikationen mit dem Umgang der Schweiz mit Roma, Sinti und Jenischen beschäftigte, hat im Auftrag der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg (UEK) einen Berichtsentwurf zum Thema erarbeitet, der als Beiheft zum Flüchtlingsbericht hätte erscheinen sollen. Obschon die Arbeit der UEK als erste vorlag, wird sie, nach Kürzungen und Umarbeitungen, nun als letzte veröffentlicht werden. Der vorliegende Artikel beschränkt sich auf die geraffte Wiedergabe von - bislang allerdings zu wenig bekannten - Fakten, wie sie öffentlich zugänglichen Akten und Publikationen zu entnehmen sind.

Der weisse Fleck im Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission

Der Tatbestand, Zigeuner zu sein

Sinti und Roma wurden bis 1972 offiziell registriert und so schnell wie möglich ausgeschafft - während des Zweiten Weltkriegs wie Juden und Jüdinnen in den Tod.

Seit 1913 wurden „Zigeuner“ in der Schweiz sofort verhaftet, mit Fotos, Fingerabdrücken und Fichen registriert und einige Zeit interniert. Die Familien wurden getrennt: die Männer kamen als Zwangsarbeiter im Zuchthaus Witzwil, Frauen und Kinder in Heime der Heilsarmee. Einzeln oder auf Sammeltransporten wurden sie ausgeschafft, auch schwarz und illegal, teils mitten in der Nacht oder im tiefen Winter. So auch im ersten und zweiten Weltkrieg. Im zweiten Weltkrieg bedeutete diese Praxis Auslieferung ans KZ-System. Wie die Schweiz verfolgten auch die faschistischen Staaten damals das Ziel, ihr Territorium „zigeunerfrei“ zu halten.
Nach 1945 war diese Haltung nirgendwo mehr salonfähig - ausser in der Schweiz. Hier galt die generelle Grenzsperre gegen „Zigeuner“ offiziell bis 1972. Seitdem gilt Reisefreiheit im Prinzip auch wieder für Menschen dieser Zugehörigkeit. Doch bis zum heutigen Tag werden Roma in der Schweiz immer noch häufig abgewiesen, ausgeschafft oder von ihren Lagerplätzen vertrieben.
Entsprechend lange sträubte sich die Schweiz gegen die Übernahme internationaler Menschenrechtsabkommen. Die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords wird erst jetzt, mehr als 51 Jahre nach ihrer Ausarbeitung im Jahr 1948, ratifiziert. Politik und Justiz übersahen bisher, dass zu Tatbeständen des Genozids auch Verbrechen gehören, wie sie gegenüber den Schweizer Fahrenden verübt wurden, ebenfalls bis 1972 und bislang unbestraft. So die „Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“ und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ (Artikel II, Absätze d und e der Konvention).
Eine Folge der diskriminierenden Behandlung von Roma, Sinti und Jenischen durch die Behörden ist die späte Entstehung selbstbestimmter Organisationen: Die Schweizer Jenischen haben erst seit den 70er Jahren, die in der Schweiz lebenden Roma erst seit 1998 eigene Organisationen zur Einforderung ihrer Menschen- und Bürgerrechte und zum Kampf gegen fortbestehende Diskriminierungen. Die Budgets dieser Organisationen sind im Vergleich zu den Finanzen von Kantonen, Gemeinden oder Verbänden anderer Steuerzahler minimal. Entsprechend gering ist ihr Einfluss auf Abläufe in Verwaltung, Raumplanung, Wissenschaftsbetrieb oder Kulturpflege.
Das polizeiliche Zigeunerregister
Als am 29.April 1900 in Moudon eine Gruppe Sinti vor dem Waadtländer Polizisten Ramelet floh, schoss dieser auf die Flüchtenden. Notwehr seitens des Polizisten lag nicht vor. Der Geiger und Hausierer Andreas Meinhardt wurde getötet, sein Bruder Johannes angeschossen. Die Witwe des Erschossenen, Christine Meinhardt-Kessler, und ihr anderthalbjähriges Kind blieben unverletzt. Die Meinhardts waren Bürger von Bindernheim im Elsass. Der deutsche Botschafter nutzte die Gelegenheit, als Schirmherr der Elsässer aufzutreten, und forderte vom Kanton Waadt Schadenersatz. Nach diplomatischer Intervention beim Bundespräsidenten und Weiterzug der Forderung ans Bundesgericht erhielt der angeschossene Bruder 200 Franken Schmerzensgeld und die Witwe 5000 Franken Abfindung. Das entsprach damals dem Jahreslohn eines mittleren Beamten. Die Höhe der Genugtuungsumme und die schnelle Anerkennung des Rechtsanspruchs der Opfer aus dieser Bevölkerungsgruppe blieb im ganzen folgenden Jahrhundert ein Einzelfall und ging vor allem auf die Einflussnahme des deutschen Botschafters zurück.
Die Schweiz erliess 1906 ein generelles Transportverbot für „Zigeuner“ auf schweizerischen Eisenbahnen und Dampfschiffen. Österreich als Partner in der Bodenseeschiffahrt wandte sich dagegen, „die Angehörigen eines bestimmten Volksstammes (Zigeuner) von der Beförderung auszuschliessen“. Zur Frage, ob „Zigeuner“ ein Volk mit entsprechenden Rechtsansprüchen seien, liess Bundesanwalt Kronauer Expertisen anfertigen, unter anderen auch vom Historiker Wilhelm Oechsli. Die meisten Gutachter kamen zum Schluss, die Roma seien ein Volk mit eigener Sprache und Kultur.
Polizeiabteilungsadjunkt Leupold sah das anders. „Sie sind refraktär gegen jede bürgerliche Ordnung und staatliche Autorität, und zwar nicht nur theoretisch, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich mit der Tat.“ Somit sei gemäss Artikel 70 der Bundesverfassung jeder Einzelne von ihnen als Staatsfeind auszuweisen. Das Ermessen darüber, wer „Zigeuner“ sei, wies Leupold der Polizei zu: „Die Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren hat es bisher nicht für notwendig gehalten, den Begriff des Zigeuners zu definieren. Wer nach Zigeunerweise lebt, wird als Zigeuner bezeichnet und behandelt.“ Für Leupold war „Zigeuner“ zu sein ein „Tatbestand“. Nachgewiesen wurde er durch den Eintrag ins polizeiliche „Zigeunerregister“. Ab 1910 lief ein vom Parlament beschlossener Jahreskredit von 2000 Franken zur Führung dieses Registers. Verschiedene Kantone hatten eigene Registraturen über Fahrende. Polizeisprecher beteuern, die Spezialregister seien im Lauf der Fichenaffäre, also erst in den neunziger Jahren, vernichtet worden. In verstreuten Archivbeständen finden sich einzelne Dossiers und Aktenbelege.
Säubern, internieren, abschieben
Der Jurist Waltisbühl empfahl in seiner Dissertation 1944 „die Sterilisation einzelner schwer erbkranker Landfahrertypen“. Er schrieb dort auch: „Zigeuner wurden in der Schweiz frei zum letzten Male vor dem ersten Weltkriege in der Gegend von Biel beobachtet.“ Seit 1913 griff Leupolds Ausschaffungsverfahren. 1926 begann auch Italien, das „nationale Territorium von der Gegenwart von Zigeuner-Karawanen zu säubern“. Faschistische Milizen und Schweizer Grenzer trieben die Sinti im Grenzgebiet hin und her. Familien mit Kindern wurden zu mehrtägigen Fussmärschen im Tiefschnee der Bündner und Walliser Alpen gezwungen: traurige Einübungen ähnlicher Szenen der Flüchtlingspolitik im 2.Weltkrieg. Eine Familie von Fahrenden wurde während Monaten in Tessiner Polizeigebäuden interniert, bis zum nächsten Versuch, sie wieder abzuschieben. Ein Kind der Familie starb in der Tessiner Polizeihaft.
Ähnliches spielte sich an der französischen Grenze ab. Wurde ein Kind Fahrender in Frankreich geboren, war es französischer Staatsbürger – falls die Geburt amtlich registriert wurde. Sonst blieb es staatenlos. In einigen Fällen schob die Schweizer Behörde jene Familienmitglieder, die sie als Franzosen erachtete, nach Frankreich ab – worauf Frankreich sie als Staatenlose zurückschob. Im Hin und Her zerbrachen Familien. Um diplomatischen Querelen mit dem Ausland ein Ende zu setzen, tolerierte die Polizeiabteilung 1936 drei Sinti-Familien in der Schweiz. Ihre Gesuche um Einbürgerung wurden immer wieder abgelehnt. Erst 1993, nach über 50jährigem Aufenthalt in der Schweiz, wurde der mit einer Schweizer Jenischen verheiratete Musiker Tschawo Minster eingebürgert.
Falls es Roma-Flüchtlingen aus dem NS-Bereich nicht gelang, ihre Identität zu verbergen, wurden sie auch nach dem 12. Juli 1944 ausgeschafft. Ab dann sollten alle Flüchtlinge aufgenommen werden, die „wirklich an Leib und Leben gefährdet sind.“ Trotzdem wurde der 17jährige Sinto Anton Reinhardt noch im September 1944 nach Deutschland ausgewiesen, er kam ins KZ Struthof und wurde am Ostersamstag 1945 von der SS erschossen. Vorher war der weltbekannte Jazzgitarrist Django Reinhardt, Sinto aus Frankreich, als Flüchtling an der Schweizer Grenze abgewiesen worden. Die aus der Schweiz ausgeschaffte Sinti-Familie Meinhardt kam nach Auschwitz. Mitglieder der jenischen Familie Hartmann mit Schweizer Wurzeln kamen in Sachsenhausen und Mauthausen um. Dem in Chalais, Wallis, als Schweizer Bürger geborenen Josef Freiwald wurde, entgegen Einträgen der Heimatgemeinde und des Amts für Zivilstandswesen, von der Polizeiabteilung der Schweizer Pass verweigert, letztmals am 8. Juli 1943. Freiwald wurde in Holland von den Nazis verhaftet und kam nach Auschwitz. Ein Telegramm im Archiv von Auschwitz „betr. schweizerischer Zig.Mischling“ vom 6.8.1944 meldet seine Flucht. Der Schweizer wurde gefasst, kam nach Buchenwald und überlebte auch dieses KZ. Nach dem Krieg blieb er, staatenlos, in Holland.
Antiziganismus bei der Polizei
Konträr zur strikten Abweisung von Sinti und Roma ist die Aufnahme des SS-Manns Paul Dickopf als Flüchtling. Er reiste 1943 über La Cure ein, jenen Grenzposten, wo die Schweizer Grenzer im selben Jahr den jüdischen Flüchtling Spring den Nazis übergaben. Dickopf war als Spion für die Schweizer wie für die Amerikaner tätig, behielt aber auch seine Kontakte zu Nazi-Grössen. Er war und blieb eng befreundet mit dem bis zu seinem Tod 1996 einschlägig aktiven Lausanner Nazi François Genoud, in dessen Wohnung Dickopf logierte.
Als Leiter des Erkennungsdienstes in Karlsruhe hat sich Dickopf als Zigeuner-Registrator betätigt. In Frankfurt war er an KZ-Einweisungen beteiligt. Nach dem Krieg wurde er BKA-Direktor, dann Präsident der Interpol. Die Interpol hatte in der Kriegszeit, unter Mithilfe und Zustimmung der Schweizer Delegierten, ihren Sitz in Berlin-Wannsee und Heydrich als Präsidenten. Sie führte auch nach 1945 internationale Register über „Zigeuner“ und diffamierte die Fahrenden kollektiv. Ein Briefwechsel Dickopfs aus dem Jahr 1959 mit dem Berner Zentralpolizeibüro betrifft die Registratur von in der Schweiz verhafteten und ausgewiesenen Roma.
Die Wissenschaft steht bei den an Fahrenden in der Schweiz verübten Verbrechen in vielen Fällen auf der Täterseite. Schweizer Wissenschaftler waren Anstifter und Ausführende bei systematischen Diffamierungen, Körperverletzungen, Kindswegnahmen, Eheverhinderungen und Zwangssterilisationen. Wissenschaftliche Selbstkritik an diesen Vorgängen ist vom Wissenschaftsbetrieb immer wieder behindert worden, während die Täter über grosszügige institutionelle und finanzielle Hilfsmittel verfügten. Der spezifisch schweizerische Antiziganismus hat eigene, frühe Wurzeln im eugenischen Denken. Zentrale Figuren sind die Bündner Psychiater Josef Jörger und Benedikt Fontana oder der zitierte Jurist Waltisbühl. Schweizer Eugeniker - beispielsweise die Burghölzli-Ärzte Eugen und Manfred Bleuler oder Jakob Lutz - arbeiteten auch mit nationalsozialistischen Eugenikern wie Ernst Rüdin, Hans Luxenburger, Theo Lang oder Friedrich Stumpfl zusammen. Letzterer befasste sich speziell mit dem angeblich "minderwertigen" Erbgut "Nichtsesshafter".
Ein anderer Link zwischen Schweizer Antiziganismus und NS-Vernichtungspolitik ist die Zentralfigur der Verfolgung von Roma, Sinti und Jenischen in der NS-Zeit, Robert Ritter. Ritter und seine Frau arbeiteten 1931/32 als Praktikanten am Burghölzli. Ritter lobte die Zürcher Anstalt 1944 rückblickend wegen ihrer "eugenischen Grundeinstellung". Und in seiner Habilitationsschrift von 1937 bedankt sich Ritter bei schweizerischen Stellen für ihre Informationen zu seinen Forschungen an den von ihm so genannten "jenischen Zigeunerlingen".

Thomas Huonker