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Thomas Huonker

Referat, gehalten am   27. Juni 2003  an der Tagung Maladie en lettres / Krankheit in Briefen vom 26. bis 28. Juni 2003 an der Universität Lausanne


 

Schreiben und Verstummen: Friedrich Glauser und Emma G.

Bemerkungen zu einigen Briefen in den Fallgeschichten von zwei Bevormundeten und Psychiatrisierten in Zürich zwischen 1920 und 1960

 

1. Allgemeines

Psychiatrisierung und Bevormundung, die in den beiden hier von mir untersuchten Fällen eng zusammenhängen, sind Abläufe oder Massnahmen, welche die davon Betroffenen zwar nicht immer gänzlich verstummen lassen, was allerdings auch der Fall sein kann, ihnen jedoch die Kompetenz absprechen, die eigenen Interessen zu vertreten. Es ist vielmehr der Vormund oder der Psychiater, der diese abklärt, erkennt, ausspricht und in Verfügungen oder Gutachten schriftlich niederlegt. Dies ist jedenfalls die rechtliche und ärztliche Sicht der Dinge, die in dem von mir in den letzten Jahren untersuchten Forschungsfeld – Zürich 1890 bis 1970 – vorherrschte.

 

Andererseits waren auch damals sowohl Vormunde wie Psychiater stets bestrebt, von den Bevormundeten und Psychiatrisierten Zustimmung und Einwilligung zu den von ihnen festgelegten Massnahmen zu erhalten. Der Zwangscharakter der damaligen Interventionen ärztlicher- und behördlicherseits zielte geradezu darauf ab, die Betroffenen zu solchen Zustimmungen und Einwilligungen zu bringen, und zwar mittels des Drucks, andernfalls andere, noch unerträglichere Massnahmen zu verfügen. Mediziner wie Fürsorger schrieben zu diesem Zweck häufig Briefe an die Betreuten selber, und es liegen auch Einwilligungserklärungen der Betroffenen bei den Akten. 

 

In diesem Spannungsfeld formulierten die Betroffenen ihre Aussagen, die entweder in Gutachten und Protokollen wiedergegeben werden oder in den Akten als Briefe aufzufinden sind. Diese Aussagen bewegen sich gegenüber den psychiatrischen und vormundschaftlichen Entscheidungsträgern zwischen den Polen des flammenden Protests, der untertänig flehenden Bitte oder des möglichst geschickten Taktierens.

Daneben finden sich in den Krankenakten oder in den Vormundschaftsdossiers gelegentlich auch abgefangene Briefe an Verwandte oder Drittpersonen, welche ebenfalls zwischen diesen Polen angesiedelt sein können, gelegentlich aber auch mehr deskriptiv und kritisch sind.   Umgekehrt finden sich in den Akten oder in anderen Quellenbeständen auch Briefe von Verwandten oder Drittpersonen an Bevormundete oder Psychiatrisierte.

 

In den Kranken- und Vormundschaftsakten finden sich ferner auch Briefe zwischen Amtsstellen oder Medizinern über die Kranken oder Bevormundeten. Diese sind entweder in einem amtlich-formellen oder in einem kollegialen Stil gehalten und sie wurden häufig vor den Patienten oder Bevormundeten geheim gehalten, im Gegensatz zu den Verfügungen sowie zu den Briefen an die Betreuten. Bei den Gutachten ist nicht immer klar, ob sie auch den Begutachteten vorgelegt wurden; in vielen Fällen war dies offenkundig nicht der Fall. Die Handakten der Behandelnden und Betreuenden standen den Betroffenen ebenfalls nicht zur Einsicht offen. Hier legten Psychiater, Pfleger, Vormunde und andere Fürsorgebeamte einerseits Rechenschaft zuhanden ihrer Kontrollinstanzen ab, andererseits bildeten, festigten und begründeten sie damit ihre persönlichen Einschätzungen und Meinungen über die Betroffenen. Diese Texte sind somit auch als subjektive Selbstzeugnisse der Entscheidungsträger zu lesen, es sei denn, man fasse sie als reines Destillat wissenschaftlicher Objektivität oder amtlicher Korrektheit auf – was ich nicht tue.

 

Tabellarisch aufgelistet handelt es sich um folgende Textsorten:

 

Verfügungen

Gutachten

Briefe von Psychiatern an Patienten

Briefe von Fürsorgern an Betreute

Androhung anderer Massnahmen (dies konnte in informellen Briefen oder formell als Teil einer Verfügung ausgedrückt werden)

Briefe zwischen Entscheidungsträgern

Notizen in Fürsorge-Handakten oder Krankengeschichten

Briefe von Betreuten oder Psychiatrisierten an den Fürsorger bzw. behandelnden oder begutachtenden Arzt

Gesuche/Rekurse der Betroffenen betreffend Entscheide, Verfügungen oder Massnahmen (gelegentlich von Drittpersonen verfasst)

Briefe von Behandelten oder Betreuten an Verwandte oder Drittpersonen

Protokollarisch festgehaltene mündliche Ausführungen von Betreuten oder Psychiatrisierten (im Zürcher Fürsorgebereich „Abhörung“ genannt, im medizinischen Bereich oft unter „Anamnese“ festgehalten)

Selbstverfasste Lebensläufe von Betreuten oder Psychiatrisierten

Briefe von Verwandten oder Drittpersonen an die Entscheidungsträger

Briefe von Verwandten oder Drittpersonen an die Betreuten oder Psychiatrisierten

 

 

2. Beispiele

Ich will nun an zwei Beispielen aus Akten der Zürcher Amtsvormundschaft einige dieser Textebenen exemplifizieren.

 

Das erste Beispiel ist das gegenüber einem als „moralisch defekt“ und „Psychopath“ diagnostizierten Morphiumsüchtigen zwischen 1932 und 1938 durchgehaltene Ehe- und Nachwuchsverbot. Es handelt sich dabei um den Schriftsteller Friedrich Glauser, einen schriftlich wie mündlich zeit seines Lebens sehr ausdrucksfähigen, gebildeten, ausserordentlich bewussten, keineswegs verstummenden lebenslang Bevormundeten und Psychiatrisierten. Seine Sicht seiner Krankheiten und Leiden sind in seinen Briefen und Werken sowie in Biografien und Aktenbeständen über ihn sehr genau dokumentiert.

 

Das zweite Beispiel ist der Fall einer Frau der Unterschicht mit karger Bildung, welche psychatrisiert, zwangssterilisiert sowie leukotomisiert wurde und schliesslich völlig verstummte respektive nur noch mit sich selber sprach.

 

2. 1. Friedrich Glauser

Ich beginne mit dem in 1758 Aktenstücken der Zürcher Amtsvormundschaft wie auch in zahlreichen Briefen des Psychiatrisierten und Bevormundeten, seines Vaters und anderer Personen ausführlich dokumentierten Fall des Schriftstellers Friedrich Glauser.

Ein Brief des Amtsvormundes von Glauser, Walter Schiller, an dessen ehemaligen Lehrer und späteren Universitätsprofessor Otto von Greyerz vom 24. August 1920 ist ein Beispiel der Kollegialität zwischen Experten, innerhalb derer hinter dem Rücken der Bevormundeten und Psychiatrisierten Krankheit thematisiert wurde. Der Vormund schrieb dem Professor über sein Mündel: „Meiner Meinung nach handelt es sich bei Glauser um einen, namentlich auch in der Prognose, sehr bedauerlichen Fall. Bedenklicher wohl als der Morphinismus sind zweifellos die schweren moralischen Defekte Glausers.“

Der Vormund schrieb diesen Brief, bevor ein psychiatrisches Gutachten vorlag, und sah sich offensichtlich, obwohl von Ausbildung her Jurist, als psychiatrischer Diagnostiker. Solche Übernahmen oder Vorwegnahmen psychiatrischer Kategorien durch Fürsorger sind charakteristisch für das Forschungsfeld.

 

In Glausers Fallgeschichte, die ich andernorts ausführlicher dargelegt habe,[1] dreht sich vieles um die spezifisch zürcherische eugenisch motivierte Eheverbotspolitik gegenüber Menschen, die wie Glauser als „moralisch defekt“ oder als „erblich minderwertig“ hingestellt wurden. Die Zürcher Amtsvormundschaft sah bei Glauser die Gefahr „erbkranken Nachwuchses“, weil sie den Morphinismus im Gleichklang mit deutschen „Erbforschern“ als „erbliche Belastung“ sah. Deshalb wurde Mündel Glauser unter Eheverbot gestellt, es sei denn, er liesse sich sterilisieren. Im Brief vom 24. Juni 1932 an den Vater von Friedrich Glauser referiert Amtsvormund Schiller die diesbezügliche Einigkeit mit Friedrich Glausers Psychiater Max Müller angesichts des Wunsches von Friedrich Glauser, die Tänzerin Trix Gutekunst zu heiraten:

„Ich habe am 19. Juni mit Herrn Dr. Müller in Zürich konferiert. Wir sind in der Heiratsfrage eigentlich vollständig einig. Wir halten dafür, dass eine event. Verehelichung die behördlichen Schwierigkeiten wegen des ungesetzlichen Zusammenlebens beseitigen, in wirtschaftlicher Hinsicht jedoch eine Vereinfachung der Situation kaum bringen würde. Dazu kommen gewisse medizinische Bedenken. Ich könnte als Vormund diese Bedenken nur überwinden, wenn sich F.G.zu einer vorherigen Sterilisation entschliessen würde. Andernfalls würde man ja in aller Form die Verantwortung für die Zeugung von Nachkommen übernehmen.“  Des weiteren kamen Psychiater und Vormund überein, „die Heiratsfrage vorerst noch aufschiebend zu behandeln.“

Mit seinem Mündel hatte sich der Vormund noch nicht besprochen: „Ob Friedrich Glauser zu einer Sterilisation bereit wäre, wissen wir vorläufig noch nicht.“ Hingegen wurden der Braut die „medizinischen Bedenken“ durch Max Müller dargelegt. Es heisst im selben Brief: „Dr. Müller wird Gelegenheit haben, in allernächster Zeit mit Frl. Gutekunst zu sprechen.“ [2]

In der Folge zerschlugen sich die Hochzeitspläne des Paars, das jahrelang zusammengelebt hatte.

 

Zwei Jahre später, 1934, ging es um die Eheschliessung Glausers mit einer anderen Frau, der Irrenpflegerin Berthe Bendel. Der nunmehrige Amtsvormund, Robert Schneider, ein Propagandist der „Eugenik“, blieb auf der bisherigen Linie, „die Heiratsfrage aufschiebend zu behandeln“.

Vormund Robert Schneider tat dies mit Erfolg weitere vier Jahre lang, bis zu Glausers Tod. Dabei spielte der Fürsorgebeamte ein Katz-und-Maus-Spiel mit Glauser, indem er ihm weismachte, der einzige Weg zur Heirat sei eine erneute Begutachtung in einer psychiatrischen Klinik, worein der Schriftsteller, der inzwischen ausserhalb der Klinikmauern lebte, erst nach langem Zögern einwilligte. Anlässlich dieses Klinikaufenthalts erlitt Glauser einen Schädelbruch. Ärzte und Vormund liessen in wider besseres Wissen im Glauben, es handle sich um eine blosse Gehirnerschütterung. Als schliesslich der Basler Psychiater John E. Stähelin Friedrich Glauser für ehefähig erklärte, schrieb Vormund Schneider seinem Mündel zynisch, er brauche dieses Gutachten auf dem Zivilstandsamt gar nicht vorzuweisen: „Das Gutachten von Prof. Stähelin benötigen Sie nicht. Sie brauchen davon beim Zivilstandsamt nichts zu erwähnen. Ich bitte Sie nur, mir zu berichten, wenn sie die Anmeldung vorgenommen haben, damit ich Ihrer Heimatgemeinde die nötigen Mitteilungen machen kann.“ [3]

Denn es war niemand anders als die Zürcher Amtsvormundschaft selber gewesen, welche in der Berner Heimatgemeinde Glausers, Muri, schon 1934 einen Sperrvermerk für den Fall einer Eheverkündigung erwirkt hatte. Diesen hätte der Amtsvormund jederzeit in eigener Kompetenz aufheben können. Davon aber teilte Amtsvormund Schneider seinem Mündel nichts mit, sondern schickte Glauser zum Untersuch in die Irrenanstalt, dies unter der Vorgabe, ihm bei seinem Wunsch nach Eheschliessung behilflich zu sein. Andere Behörden, vor allem das Zivilstandsamt Basel, verzögerten dann die Ehepläne um weitere Monate, so dass Glauser schliesslich am 8. Dezember 1938 ehe- und kinderlos starb.

 

Die an diesem Beispiel vorgeführten Texte waren Briefe zwischen Psychiater und Fürsorgern  über den Psychiatrisierten. Sie zeugen von Kollegialität zwischen den Entscheidenden und von Absprachen und Vorgehensweisen hinter dem Rücken des Mündels, welche diesen einerseits vom Informationsfluss aussperrten und somit kommunikativ nicht für voll nahmen, andererseits schwerwiegende soziale und gesundheitliche Folgen auf den Betreuten hatten.

In diesem Rahmen sind viele der Briefe der Vormunde an Mündel Glauser über weite Strecken taktisch geprägte Texte,  – so inbesondere auch der hier zitierte Brief Schneiders an Glauser –  und dies bis hin zu bewusster Irreführung. Irreführung und Urkundenfälschung, etwa um an Opium zu gelangen, war aber beim Mündel ein Beleg von dessen „moralischen Defekten“ .

 

 

2. 2. Emma G.

Ich komme zum zweiten Beispiel, einer Frau namens Emma G., welche psychiatrisiert, zwangssterilisiert sowie leukotomisiert wurde.

 

Ich zitiere zunächst ihre Jugendgeschichte aus einem Gutachten, das Manfred Bleuler 1958 über die damals 50jährige Langzeitpatientin des Burghölzli erstellte:

„Die Patientin wurde (...) bis zum zehnten Altersjahr in geordneten Verhältnissen im Kanton Zürich auferzogen. Sie verlor aber in der Schulzeit ihren Vater an Tuberkulose. Nach dem Tode ihrers Vaters war sie einige Jahre zum Teil in Pflegefamilien, zum Teil wegen Ohrkrankheiten und Verdacht auf tuberkulöse Drüsenerkrankungen in Spitälern und Sanatorien. Sehr frühzeitig musste sie als Dienstmädchen arbeiten gehen, meistens in Privatfamilien, aber auch in Restaurants und Spitälern.“ [4]

1931 wurde sie verwirrt und in Angstzuständen in Zürichs Strassen aufgegriffen und Dr. Charlot Strasser, dem damaligen Vertrauensarzt der Zürcher Fürsorge, zugeführt. Er diagnostizierte „Dementia praecox”. Sie kam ins Sanatorium Kilchberg bei Zürich, anschliessend in die Heilanstalt Königsfelden im Aargau.

Manfred  Bleuler schreibt weiter: „Schliesslich trat eine wesentliche Besserung ein und die Kranke konnte am 23. 10. 1931 in befriedigendem Zustand an eine Stelle als Dienstmädchen entlassen werden. Dann ging es jahrelang mit der Kranken wieder gut. Sie konnte sehr gut in Haushaltungen arbeiten. Sie schien fröhlich, wenn auch verschlossen.“ [5]

1940 irrte sie erneut verängstigt in den Strassen umher, kam am 24.3.1940 ins Burghölzli und anschliessend erneut nach Königsfelden. Es wurde „Schizophrenie“ diagnostiziert, und sie wurde bevormundet. Im August 1940 entlassen, fand sie eine Stelle in einem Zürcher Restaurant, später arbeitete sie in einer Fabrik. Dort lernte sie 1944  den Appenzeller Jakob G. kennen, und sie wollten heiraten. Das Zürcher Zivilstandsamt meldete diesen Heiratswunsch einer ehemaligen Psychiatriepatientin, die zudem bevormundet war, an die Fürsorge, diese ordnete eine ambulante Ehefähigkeitsbegutachtung durch die Heilanstalt Königsfelden an. Erst in diesem Zusammenhang erwähnt Gutachter Bleuler die Sterilisation der Explorierten: „Die Ehefähigkeit wurde bejaht; bei dieser Entscheidung spielte es eine Rolle, dass die Patientin früher unfruchtbar gemacht worden war, sodass die Problematik der Ehe einfacher und weniger verantwortungsvoll erschien, als wenn Kinder zu erwarten gewesen wären.“ [6]

Die Hintergründe dieser Sterilisation bleiben in diesem Gutachten ebenso im Dunklen und in seltsam abstrahierender Weise ausgeblendet wie die Hintergründe der ersten beiden Krisen, welche sie 1931 und 1940 für je einige Monate in psychiatrische Kliniken brachten.

 

Im Schlussbericht des Amtsvormunds des Aargauer Heimatbezirks von Emma G. steht zur Sterilisation ein einziger Satz: „Auf Veranlassung von Frau Dr. med. Luisa Hösli-Kohberg, Aerztin Zürich, wurde Emma Häusermann im Jahre 1933 sterilisiert.“ [7] Ich habe in der ausführlichen Publikation zur Thematik von Zwangssterilisationen und Eheverboten in Zürich nachgewiesen, dass in vielen Fällen  „rassenhygienische“ oder „eugenische“ Überlegungen dabei ausschlaggebend waren.[8] In diesen Akten scheint eine solche Begründung nicht auf; allerdings auch keine andere. Die Ärztin hat die Sterilisation einfach „veranlasst“.

 

Die grosse Distanz, fern von jeder Anteilnahme und Einfühlung, welche viele damalige psychiatrische Gutachten und auch das hier zitierte von Manfred Bleuler kennzeichnet, hält auch in der weiteren Darstellung an: „Die Heirat erfolgte dann am 13. 5. 1944. Sie ging nach der Verheiratung wieder in der Fabrik arbeiten. Nach Angaben des Ehemannes  war die Ehe etwa 1 Jahr lang glücklich und der Mann war auch mit der Führung der Hausgeschäfte durch die Frau zufrieden.“ [9] Die Bezugnahme auf den Mann ist ein weiteres Element, welches die ärztlichen Äusserungen zur Patientin prägt. Deren eigene Äusserungen werden einfach als „unverständlich“ [10] erklärt und als Beleg ihrer Krankheit, aber nicht mehr als valable Kommunikationselemente aufgefasst.

1945 geriet Emma G. in jene letzte Krise, in deren Folge sie bis zu ihrem Lebensende psychiatrisiert bliebt. Wieder enthält sich der Gutachter, Klinikleiter und Universitätsprofessor Manfred Bleuler eigener Versuche des Verstehens und Deutens der Vorgänge in der Seele von Emma G. und gibt einfach die Sicht des Mannes wieder:

„Vom Frühjahr 1945 an fand der Mann die Patientin verändert. Sie habe in sonderbarer Weise und in trauriger Stimmung von ihrer Vergangenheit zu sprechen begonnen. Sie ging damals auch in ärztliche Behandlung wegen ihres schweren Gemütes.“ [11]

Der Arzt wies sie im März 1946 ins Burghölzli ein.

In der Darstellung von Manfred Bleulers Gutachten folgte nun sofort die jahrzehntelange konsequente Nicht-Kommunikation seitens der Patientin: „Bei der Aufnahme war die Patientin wenig zugänglich und in den folgenden Tagen verfiel sie in vollkommenes Schweigen, wenn sie angeredet wurde; in der Nacht hingegen war sie laut. Sie begann, die unmöglichsten Grimassen zu schneiden und fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum. Sie zog sich auch mitten im Tag ohne vernünftigen Grund oft plötzlich aus. Wenn sie zu sprechen versuchte, so waren die Worte oft unverständlich. Auch ihre Handlungen waren völlig unbegreiflich.“ [12]

 

Demgegenüber schrieb der zuständige Zürcher Amtsvormund Meier genau zu dieser Zeit, kurz nach ihrer Einweisung, am 14.6.1946, in einer Aktennotiz folgendes: „Besuch im Burghölzli. Frau G. empfängt mich freundlich, ist aufgeräumt und spricht ziemlich klar. Sie wünscht möglichst bald entlassen zu werden, da ihr Mann sie nötig habe. Denn sie besorge führ ihn alles. Er sei eben nicht so auf der Höhe. Ich teile ihr mit, dass ich zur Frage der Entlassung nichts zu sagen habe, darüber müssten die Ärzte entscheiden, womit sie sich zufrieden gibt.“ Dieser Text belegt ohne Zweifel eine stattgehabte Kommunikation mit gegenseitig verständlichen Sätzen. Die anwesende Vertreterin der Institution Burghölzli empfand den Gegensatz zur Einschätzung, welche die Aerzte von der Kommunikationsfähigkeit der Patientin hatten, ebenfalls, denn in der Aktennotiz des Amtsvormunds heisst es abschliessend: „Die Pflegerin berichtet, dass Frau Graf, seit sie hier ist, den ersten klaren Tag habe. Wie lange das dauern werde, könne man noch nicht sagen.“

 

Die Vertreter der Institution Burghölzli beharrten darauf, dass es keinen gesprächsweise-kommunikativen, sondern nur einen körperlich-therapeutischen Zugang zur Psyche von Emma G. geben könne.

Die Klinikdirektion erlangt vom Mann Jakob G. sowie von der Schwester von Frau G. am 9.4. 1946 schriftliche Einwilligungen zur Durchführung von „Schlaf- und Elektrokuren“ an der Patientin, während dieser selber keine derartige Einwilligung bei den Akten liegt. Emma G. selber hatte ja gegenüber dem Amtsvormund vielmehr die Entlassung aus der Klinik gewünscht.

 

Zunächst wurde eine Schlafkur durchgeführt.[13] Zu deren Verlauf und Ausgang heisst es in der Krankengeschichte von Emma G.: „2.6.46. Pat. erwacht heute aus 12tägiger Schlafkur. Sie hat diese Zeit sehr gut überstanden und sie brauchte nur wenig Schlafmittel. Die Schlafkur wurde mit Balophen u. DHK in der ersten Hälfte und mit Balophen u. DHE durchgeführt. Pat. wird nun nach G II verlegt. (..) 8.8.46. Tut nichts rechtes, steht herum, hält Finger in die Ohren, staunt blöde, wenn man sie anredet, zu keinem geordneten Gespräch mehr fähig, zerfahren stumpf, affektiv völlig verödet.“ [14]

 

In zwei weiteren Aktennotizen hielt der Amtsvormund ein Jahr später fest, dass Emma G.  bei einem Besuch ihres Mannes nicht ansprechbar gewesen sei und diesen nicht erkannt habe,[15] während ihre Schwester von der Internierten berichtete, „sie sei recht gut zweg gewesen, und man habe vernünftig mit ihr reden können. Ob die Besserung, welche eine Folge der Schlafkur sei, anhalten werde, sei nach dem Bericht des Arztes vorerst ungewiss.“ [16]

Dies war auch deshalb ungewiss, weil die Ärzte parallel dazu auch eine „Elektrokur“ an der Patientin durchführten. In der Krankengeschichte von Emma G. heisst es dazu: „18.8.46. Eine am 18.4.46 begonnene Elektrokur hat mit 18 Shocks bis jetzt noch keine Besserung erzielt.“

Dennoch oder deshalb wurde sie weitergeführt. „9.6.46. Völlig verödet, ist nicht zur Arbeit zu gebrauchen, ausser zum Zupfen. Ein Gespräch ist nicht möglich, sie kann auch keine einzelne Worte mehr antworten, lächelt stumpf, völlig dement.“

Vorher hatte Emma B. in der Anstalt als Strickerin gearbeitet. Die „Elektrokur“ wurde trotz dieser weiteren Verschlechterung weitergeführt, und sie wurde auch weitergeführt, als sie zu  zu noch stärkerer Verschlechterung und auch zu extremer Widerstands- und Aggressionshaltung der Patientin führte. Die Patientin war jetzt trotz ihres Wunsches auf Entlassung, den sie am 14. Juni gegenüber ihrem Amtsvormund geäussert hatte, schon neun Monate lang in der Klinik behandelt worden. Die Krankenakte berichtet über die für Emma G. besonders bitteren Weihnachtstage 1946: „30.12.1946. In den letzten Tagen zunehmende Verschlechterung. Pat. muss isoliert werden. Benimmt sich in der Zelle wie ein Tier. Liegt auf dem Boden herum, schmiert und zerreisst die Decken. Elektroschock.“

Die „Elektrokur“ wurde auch im Jahr 1947 weiter betrieben. Blatt 3 der Statistik zur „Elektro-Kur“ hält unter anderm beim 47. Elektroschock, durchgeführt am 9.6.1947, zu dessen Verlauf fest: „Spannung in Volt: 150. Zeit in sec: 0,15. Reaktion: Anfall. Bemerkungen: Starke Tachykardie, lange Benommenheit.“

 

Nach all diesen „Schlaf- und Elektrokuren“ stimmten Ärzte und Vormund darin überein, dass diese körperlichen Therapien keine positive Wirkung zeitigten, sondern zur völligen „Verödung“ des Geists der vorher weit besser ansprechbaren Patientin geführt hatten.

Auch Amtsvormund Meier musste am 17.7.1947 in einer Aktennotiz konstatieren: „Trotz den 13 Elektroschock-Kuren, keine Besserung eingetreten. Sie kennt mich nicht, spricht wirres Zeug und kann sich weder an ihre Verwandten, noch an ihren Mann richtig erinnern.“

 

Gerade hier, kurz nach der vollständigen „Verödung“ trotz (oder wegen)  erfolgloser Therapien, setzt ein Abschnitt in Klinikdirektor Manfred Bleulers Auseinandersetzung mit dieser Patientin ein, wo er plötzlich mit Herzblut dabei ist, Positives sieht und Hoffnungen weckt. Was ihn derart Anteil nehmen liess, war allerdings nicht die Patientin, sondern eine neuartige Körpertherapie, und zwar keine chemische und keine physikalische, sondern eine operative, wie schon die Sterilisation. Professor Bleuler wandte sich in persönlichen, längeren Schreiben, die im Vergleich zum distanzierten Ton im Gutachten oder in der Krankengeschichte recht herzlich wirken, an die Angehörigen und den Amtsvormund von Emma G. Manfred Bleuler schrieb ein Jahr nach Weihnachten 1946, als sich Emma G. in der Isolationszelle „wie ein Tier“ benommen hatte, dass sie nunmehr auch einen Selbstmordversuch hinter sich habe:

„Sehr geehrter Herr Amtsvormund, es tut mir ausserordentlich leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich das Befinden von Frau Emma G. in letzter Zeit wieder verschlechtert hat. Sie ist wieder vollkommen verwirrt und sehr erregt und laut. Gestern machte sie auch einen Selbstmordversuch, indem sie sich mit einem Stoffband erwürgen wollte. Wie Sie wissen, konnte mit allen bisher bekannten Behandlungsmethoden noch nie ein dauernder Erfolg erzielt werden. Ich fühle mich deshalb verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass in den letzten Jahren im Ausland ein neues operatives Behandlungsverfahren für derartige Krankheitszustände ausgearbeitet worden ist. Es handelt sich darum, operativ durch eine Schnittführung in der Hirnsubstanz gewisse nervöse Bahnen, mit denen die Erregung zusammenhängt, zu unterbrechen. Dieses Verfahren ist heute in vielen tausenden von Fällen in Portugal, Skandinavien, England, Amerika und vielen anderen Ländern durchgeführt worden.  Es liegen zahlreiche gewissenhafte Publikationen über die Erfolge vor und ich habe mich ausserdem durch Besuch und Besprechungen in den Kliniken, die Erfahrung mit diesem Behandlungsverfahren haben, genau orientiert. (In der Schweiz wurde diese Operation vor etwas mehr als einem Jahr zum ersten Mal in unserer Klinik ausgeführt.) Es ist zweifellos, dass in vielen Fällen eines ähnlichen Krankheitszustandes wie bei Frau G. durch diese Operation ein dauernder Erfolg gezeitigt wurde. Eine völlige Heilung einer derart schweren, langdauernden Krankheit ist freilich durch die Operation nicht zu erwarten. Was aber mit grosser Wahrscheinlichkeit erhofft werden darf, ist wenigstens eine weitgehende Beruhigung und Erleichterung.“ [17]

 

Manfred Bleuler sah also die Anwendung dieser neuen Therapie, welche der Nobelpreisträger Egas Moniz in Portugal erfunden hatte, „in tausenden von Fällen“ als „zweifellos“ erfolgreich an und erhoffte „mit grosser Wahrscheinlichkeit“ auch eine Besserung des Zustandes von Emma G., an der nun auch noch diese Behandlung  vorgenommen werden sollte, wobei Bleuler gleichzeitig einräumte, dass bisher bei ihr „mit allen bisher bekannten Behandlungsmethoden noch nie ein dauernder Erfolg erzielt werden“ konnte.

 

Manfred Bleuler verschwieg die Risiken der Operation nicht: „Wie jede Operation ist auch die hier in Frage stehende nicht gefahrlos. Es kommen lebensgefährliche Zwischenfälle vor, z.B. solche, die mit der Narkose zusammenhängen, die die Blutstillung betreffen oder die auf eine Infektion zurückzuführen sind. Im Fortbestehen der jetzigen Erregung liegen aber zweifellos grössere Gefahren als in der Operation. Wenn auch ein Erfolg nicht mit Sicherheit versprochen werden kann, so kann ich Ihnen doch sicher mitteilen, dass Erfolge in ähnlichen, bisher völlig verzweifelten Fällen im Ausland oft erreicht worden sind.“ [18]

 

Die so beredt propagierte Leukotomie an Emma G. wurde von Manfred Bleuler ausdrücklich als ein medizinischer Versuch deklariert:

„Die Operation würde in der neurochirurgischen Abteilung des Kantonsspitals Zürich unternommen. Der Leiter dieser Abteilung, Herr Prof. Dr. med. H. Krayenbühl, wäre gerne bereit, Ihnen seinerseits über die Operation Auskunft zu geben (...). Unter diesen Umständen frage ich Sie an, ob Sie damit einverstanden wären, dass bei Frau G. ein Versuch mit dieser Operation gemacht wird.“ [19]

 

Amtsvormund, Schwester und Ehemann stimmten der Operation zu, der Ehemann allerdings erst, nachdem ihm Bleuler in einem zweiten Brief versichert hatte: „Die Operation könnte sehr wohl kostenlos ausgeführt werden.“ [20]

 

Es war dann nicht Chefarzt Hugo Krayenbühl selber, der die Hirnoperation am 14. Januar 1948 an der Heliosstrasse 22 in Zürich durchführte, sondern Oberarzt G. Weber. Es kam zu einer der befürchteten Komplikationen, wie Weber Manfred Bleuler mitteilte: „Sehr geehrter Herr Professor, Ihre Patientin, Emma G., geb. 1908, Burghölzli, ist am 14. 1. 1948 auf der rechten Seit präfrontal leukotomiert worden. Bei der Schnittführung nach oben war zuerst der rechte Seitenventrikel eröffnet worden, wobei schwach blutiger Liquor abtropfte. Bei dem folgenden Schnitt nach unten kam es vorübergehend zu einer ziemlich starken Blutung aus der Nadel. Obwoh bei zwei nachfolgenden Punktionen kein Blut mehr abfloss, habe ich den Eingriff vorläufig nur auf der einen Seite durchgeführt und von dem Eingriff auf der linken Seite vorerst abgesehen, um die Kranke nicht unnötig zu gefährden. Nach der rechtsseitigen Leukotomie sind eine deutliche linksseitige Facialsparese und ein linksseitiger Babinski aufgetreten. Sobald sich die Pat. von dem Eingriff auf der rechten Seite erholt hat, soll er auch noch links durchgeführt werden. Mit vorzüglicher Hochachtung G. Weber“ [21]

 

Laut den Akten ist es allerdings zu dieser zweiten Hirnoperation nicht mehr gekommen. Emma G. war nach der Operation lange bewusstlos, die Lähmungserscheinungen bildeten sich wieder zurück.

Amtsvormund Meier schildert den Zustand von Emma G. 14 Tage nach der Operation:

„Besuch bei Mündelin im Burghölzli. Diese liegt im Bett und ich erkenne sie kaum wieder, da ihr die Haare wegen der Operation vom Kopf wegrasiert wurden. Auf die Frage, wann die Operation stattgefunden habe, erklärt sie, das sei vor 5 Tagen geschehen (14 Tage). Ich frage sie, ob Frau G. sie kürzlich besucht habe und sie sagte, das sei schon lange her, etwa vor drei Wochen (Frau G. war vor 3 Tagen bei ihrer Schwester). Sie nimmt an, dass ich der Bruder ihres Schwagers sei, doch als ihr sage, dass ich ihr Vormund sei, sagt sie sofort, dann sei ich ja Hr. Meier. Ihr Gedächtnis ist noch stark gestört und eine Prognose über den weitern Verlauf der Krankheit kann nicht gestellt werden.“ [22]

Somit litt Emma G. nach Narkose und Hirnoperation zwar an Gedächtnislücken, war aber auch in diesem Zustand imstande, mit ihrem Amtsvormund zu kommunizieren.

Die erhoffte Besserung trat allerdings auch nach diesem operativen Behandlungsexperiment nicht ein. Emma G. blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1962 Klinikinsassin. 

 

Auch die technisch geglückten Leukotomie-Operationen hatten bekanntlich keinen Heilungserfolg. 1966 musste der einst von der Leukotomie so begeisterte Manfred Bleuler eingestehen: „Psychochirurgische Therapien bei Schizophrenen sind nie oder fast nie mehr angezeigt.“ [23]

 

Etwas Erstaunliches an dieser Fallgeschichte und mit ein Grund, weshalb ich sie hier thematisiere, ist nun, dass die laut Gutachten von Manfred Bleuler und laut Befunden anderer Burghölzli-Ärzte generell „unverständlich“ agierende, grimassierende, herumfuchtelnde, steife, lebensgefährliche Patientin, die sich laut Krankenakte „wie ein Tier“ benahm und nach all diesen „Kuren“ als völlig „verödet“ und „dement“ erschien, selbst noch nach der unplangemäss verlaufenen Hirnoperation aus der Klinik klar verständliche Briefe an ihren Amtsvormund schrieb. Sie war dabei trotz mangelhafter Orthografie und Grammatik, die aber mehr der für sie nur sehr sparsam aufgewendeten Schulbildung zuzuschreiben sind als ihren psychischen Störungen, durchaus imstande, darin ihre Heilung und Entlassung zu wünschen oder ihre Meinung etwa zur Behandlungsmethode des Elektroschocks dem Vormund zu kommunizieren; sie wehrte sich nicht einmal dagegen, sondern fand, die Elektroschocks hätten sie „ruhiger“ gemacht. Insgesamt haben ihre Briefe einen sehr resignierten Grundton.

 

Emma G. schrieb Amtsvormund Meier beispielsweise am 27. November 1949:

„Ich hatte in letzter Zeit Hoffnung, wie es mir ein wenig besser ginge, nur das Ohr fliesst noch ein wenig. Wenn dann das gut ist, bin ich wieder glücklich. Die Elektro-Kuren sind vorbei, bin jetzt aber auch viel ruhiger.“

In einem undatierten Brief aus dem Jahr 1950 oder 1951 schrieb sie: „Hätte die grösste Freude, Sie einmal hier zu begrüssen. Ich hoffe, es geht so langsam aufwärts mit meiner Gesundheit. Glaube, die Elektro-Kur ist jetzt vorbei und hatte ich die Hoffnung, bald wieder arbeiten zu dürfen. Wenn ich ja ausgehen könnte, würde (ich) bei Ihnen vorbei kommen. Andernfalls, wenns Ihnen in der nächsten Zeit nicht möglich wäre, würden Sie die Güte haben, mir ein paar Zeilen zu schreiben? Also auf baldiges Wiedersehen. Hoffend grüsst Sie herzlich Frau E.G.“

Mehrere Briefe an den Amtsvormund, so jenen vom 7. Mai 1952, unterzeichnete sie als „Emma G., Vormundschaftskind (geboren 1908)“; sie war also auch noch zu einer gewissen Ironie imstande.

 

Als letztes wurde Frau Emma G. schliesslich auch noch einer „Tabletten-Kur“ unterzogen, wie sie in ihrem letzten Brief an Amtsvormund Meier aus dem Jahr 1954 schrieb, als Antwort auf dessenWeihnachtsgrüsse: „Ein gutes neues Jahr! Bin gerade in einer Tabletten-Kur. Ich hoffe darauf hin, dass es dann endlich mal gesundheitlich besser geht. Also viele Grüsse an alle, die unterschrieben hatten.“

 

Erst nach der „Tablettenkur“ schrieb Emma G. keine Briefe mehr. Sie erkannte nun auch ihre Schwester, die sie regelmässig besuchte, nicht mehr. Emma G. wurde 1957 von Assistenzarzt H. Krebs wie folgt beschrieben: „Sie ist schwer geisteskrank. Das Denken ist völlig zusammenhangslos und zerfahren, das Gefühlsleben ist schwer gestört im Sinne der Kontaktlosigkeit und Leere. Frau G. sitzt stets im dunkelsten Winkel der Abteilung für sich allein, schwätzt andauernd vor sich hin unter vielen Grimassen und manirierten Bewegungen.“ [24]

 

1958 verlangte der Ehemann von der nun fünfzigjährigen Emma G. die Scheidung, die er auch erreichte. Die Burghölzliärzte J. Angst und W. A. Stoll schilderten den damaligen Zustand von Frau G. , welche durch all die geschilderten Therapien nicht einmal „beruhigt“, gerschweige denn geheilt worden war: „Die Patientin weilt ständig seit Jahren auf einer Abteilung für Unruhige Kranke und bereitet pflegerisch grösste Schwierigkeiten. Sie ist derart schwerkrank, dass es nicht mehr möglich ist, mit ihr ein vernünftiges Gespräch zu führen. Sie gibt völlig unverständliche Antworten, verkennt die Ärzte wahnhaft, schwatzt verwirrt vor sich hin, grimassiert dazu und bietet somit das Vollbild einer Irrsinnigen.“ [25]

 

Leider kann ich im Zeitrahmen dieser Tagung nicht noch, wie eigentlich geplant, Auszüge aus den Akten eines Kastrierten und aus der selbstverfassten Lebensgeschichte eines anderen Kastrierten sowie Selbstzeugnisse weiterer Fälle präsentieren, wie ich es bei Abfassung des Abstract eigentlich vorhatte. Ich verweise dazu auf meine gedruckt vorliegenden Publikationen.[26] Vielleicht ergibt sich auch die Gelegenheit zu einer erweiterten Fassung dieses Referats, z.B. als Zeitschriftenartikel.

Ich glaube jedoch, dass schon das in diesem Referat Gesagte einige Anstösse zur Diskussion der Kommunikationsprobleme und des sonstigen Umgangs zwischen Vormündern und Unmündigen sowie zwischen Psychiatern und Geistesgestörten in der damaligen Zeit geben kann.

 

 

 

 

 

 



[1] Vgl. Thomas Huonker, Diagnose: „moralisch defekt“, Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik 1890-1970, Zürich 2003, S.64-78 (Fallgeschichte Friedrich Glauser)

[2] Alle Zitate aus dem Brief Walter Schillers an Max Müller, 24. 6.1932

[3] Brief von Robert Schneider an Friedrich Glauser, 5.5.1938

[4] Gutachten von Manfred Bleuler an das Bezirksgericht Zürich, 29.5.1958, anlässlich des Scheidungsverfahrens von Emma G.

[5] Ebda.

[6] Ebda.

[7] Schlussbericht der Amtsvormundschaft Seengen,

[8] Vgl. Thomas Huonker, Diagnose: „moralisch defekt“, Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik 1890-1970, Zürich 2003, S.159-206

[9] Ebda.

[10] Ebda.

[11] Ebda.

[12] Ebda.

[13] Vgl. zur Mortalitätsrate und Anwendungszeit von Schlafkuren im Burghölzli Thomas Huonker, Diagnose..., S.214

[14] Einträge aus den Krankenakten des Burghölzli über die Patientin Emma G.

[15] Aktennotiz von Amtsvormund Meier, 17.5.1947

[16] Aktennotiz von Amtsvormund Meier, 9.6.1947

[17] Brief von Manfred Bleuler an Jakob G. und an Amtsvormund J. Meier, 13. 12.1947

[18] Ebda.

[19] Ebda.

[20] Brief von Manfred Bleuler an Jakob G., 27.12.1947

[21] Brief von G.Weber an Manfred Bleuler, 14.1.1948

[22] Aktennotiz des Amtsvormunds J.Meier, 28.1.1948

[23] Manfred Bleuler, Nachtrag zum Neudruck der 10. Auflage: Bedeutende Entwicklungen in der Psychiatrie 1960-1965, in: Bleuler Eugen, Lehrbuch der Psychiatrie, 10. Auflage, Berlin 1966, S.653

[24] Brief von Burghölzli-Assistenzarzt H.Krebs an Amtsvormund J.Meier, 26. 1.1957

[25] Brief von J. Angst und W.A. Stoll an das Bezirksgericht Zürich, 6.3.1958

[26] Thomas Huonker, Diagnose: „moralisch defekt“, Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik 1890-1970, Zürich 2003. Thomas Huonker/Martin Schuppli, Wandlungen einer Institution, Vom Männerheim zum Wohn- und Werkhaus, Zürich 2003