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Dieser Text erschien im April 2007 als Beitrag zu Nr. 49 der Literaturzeitschrift „entwürfe“, Zürich, S.73-80:

 

 

Thomas Huonker, * 1954, studierte Geschichte, deutsche Literatur und Ethnologie in Zürich und Genf, arbeitet als Deutschlehrer und freier Historiker (www.thata.ch). 1997 - 1999 Mitarbeiter der Bergier-Kommission. Veröffentlichte Gedichte, einen Videoroman und Sachbücher.

 

 

Was Menschen ausweist

 

Gesellschaften, in denen alle alle kennen, seit Geburt, Einheirat oder Zuzug, also kleine Stammesgruppen oder kleine Dörfer, brauchen keine Ausweise und auch kein Mitgliederregister. Das Identitätsproblem stellt sich nur bei Fremden, Unbekannten.

Wie soll man einen Menschen kennen, den man nicht kennt? Er kann sich selber vorstellen. Er kann sich aber auch verstellen, verleugnen, neu erfinden. Solche Identitätsunsicherheiten kann erschweren, wer nur jene vorlässt, für die Befreundete bürgen. So hält es auch der Mafia-Boss.

 

Wichtig ist vor allem, wissen zu können, ob Unbekannte zu den Freunden oder zu den Feinden zu rechnen seien, und wozu sie taugen. Bevor es Ausweise gab, gab es Trachten und Zeichen. Kleider machten Leute. Kam eine mit der Pilgermuschel am Hut, war sie Pilgerin und tat Gutes fürs Seelenheil. Kam einer in Zimmermannskluft und sagte sein Handwerker-Erkennungsgedicht auf, konnte er beim Bauen helfen. Ging einer in Lumpen, war er ein Lump. Kam eine Person in vornehmer Kleidung, hoch zu Pferd, mit Gefolge, war sie eine Dame oder ein Herr. Darauf musste man sich verlassen, aber man konnte sich auch täuschen. Namen waren noch nicht sehr wichtig. Hilfreicher war es, zu erfahren, woher jemand kam – aber wer wusste schon, wo all die fremden Orte lagen, wenn sie mehr als einige Wegstunden entfernt waren? Einen Dieb oder sonstigen Missetäter erkannte man lange daran, dass ihm eine Hand fehlte. Oder ein Ohr war ihm geschlitzt worden, oder ein Brandzeichen ins Gesicht gebrannt. Haare, einem Übeltäter oder einer Liederlichen abgeschoren, wuchsen wieder nach; das war eine Kurzzeitstrafe, ein Stigma auf Zeit. 

 

So stand es teilweise noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert. Doch in vielen Regionen wurden schon lange vorher immer genauere Geburts-, Ehe- und Sterberegister geführt, zuerst von den Pfarrherren, später auch von Städten und Gemeinden. Im 18. Jahrhundert kamen die Pässe auf, amtlich ausgestellt, aber lange noch so wenig standardisiert wie frühere individuelle Empfehlungsschreiben, die es schon seit Jahrtausenden gibt. Handwerksgesellen trugen nicht mehr alle eine Tracht, viele hatten nun einen Gesellenbrief als Ausweis, später ein Wanderbüchlein; die einzelnen Seiten oder Zeilen für die jeweilige Station waren vom Meister auszufüllen. Die Siegel der ältesten Pässe wurden bald ergänzt durch amtlich vorgedruckte Hoheitszeichen, und es wurden vorgedruckte Rubriken entwickelt. Die Pässe bestanden noch aus gewöhnlichem Papier und enthielten kein Bild.

 

Aber ist eine Person, die sich mit solchen Papieren ausweisen kann, auch die damit Gemeinte?

 

Als Antwort auf diese Frage erfand der früh zentralisierte französische Staat im 18. Jahrhundert das Signalement. In deutschen Fürstentümern und in den Kanzleien der alten schweizerischen Orte hiess das noch lange einfach Beschreibung. Häufiger noch als in einzelnen Pässen, in welche Elemente signalisierender Beschreibung zunehmend Eingang fanden, standen solche Signalemente und Beschreibungen in den Listen der Bösewichte, in den so genannten „Gaunerlisten“ dieser Zeit.

 

Nicht alle „Signalisierten“ waren Bösewichte. So der vom oberhessischen Hofgerichtsrat Conrad Georgi wie folgt Ausgeschriebene:

„Alter: 21 Jahre

Grösse: 6 Schuh, 9 Zoll neuen hessischen Masses

Haare: blond

Stirne: Sehr gewölbt

Augenbrauen: blond

Augen: grau

Nase: stark

Kinn: rund

Angesicht: oval

Gesichtsfarbe: frisch

Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit“.

Dieses Signalement vom 13. Juni 1835 beschrieb den „wegen seiner staatsverräterischen Handlungen“ zu fassenden Flüchtling Georg Büchner. Der grosse Dichter fand jedoch zunächst in Strassburg, dann in Zürich sicheres Asyl und dort sogar eine Dozentenstelle an der Universität.

 

In Europa hatten die meisten Staaten um 1800 mit dem Aufbau einer flächendeckenden Polizeitruppe zur Überwachung Verdächtiger begonnen. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten diese Kontrollinstanzen mit Hilfe neuer Techniken der Identifikation eine Akribie der Personenfeststellung, der kaum eine Person entgehen kann, wenn sie dem Erkennungsdienst zugeführt wird. Umgekehrter Einsatz der Technik ist aber, im Zeitalter der Transplantation von Händen und Gesichtern, ebenfalls absehbar.

 

Die polizeiliche Technik der Personenfeststellung nutzte sofort nach deren Erfindung die ersten Formen der Fotografie zur Erstellung von Verbrecheralben. Die damaligen Papierlosen in der Schweiz, die heimatlosen „Vaganten“, wurden ab 1851 in Bern fotografiert, vom Privatfotografen Carl Durheim. Ihre Porträts wurden auf grossen Bogen in grosser Auflage gedruckt und landesweit verteilt; mittels gründlicher Befragung hatte die Behörde vorher herauszufinden, um wen es sich handelte, insbesondere, ob es ein ausländischer „Vagant“ sei, der dann auszuweisen war. Dies auch, wenn seine Frau, die er aber als Papierloser nicht hatte heiraten dürfen, und die deshalb seine „Beihälterin“ genannt wurde, eine wegen konfessionell „falscher“ Partnerwahl in der guten alten Zeit Zeit ausgebürgerte einheimische Heimatlose war und, meist in einem entlegenen Bergdorf, vom Bundesstaat schliesslich wieder eingebürgert werden musste. Diese Bürgerrecht galt dann nur für sie, und wenn sie Glück hatte, auch für die Kinder.

 

Viele „Vagantenkinder“ waren seit 1825, dem Datum des sogenannten „Gaunerprozesses“ in Luzern, einer Justizfarce, ihren Eltern weggenommen worden; sie wurden unter neuen Namen wie Demuth, Freund oder Schweizer in andere Landesteile verbracht. 1926 bis 1973 (und in vielen Fällen weit länger dauernd) folgten die Fremdplatzierungen jenischer Kinder durch die Pro Juventute und ihr so genanntes „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“, gegründet und über dreissig Jahre lang geführt vom vorbestraften Pädokriminellen Dr. Alfred Siegfried. Auch dabei kam es zu Namensänderungen.

 

Nach und neben dem Einsatz fotografischer Identifikationstechniken perfektionierte der französische Polizeibeamte Alphonse Bertillon (1853-1914) die Vermessung und schematische Charakterisierung der erkennungsdienstlich Erfassten durch das nach ihm benannte Verfahren der Bertillonage. Dank dem 1875 zum zu internationalen Massstab gemachten Pariser Urmeter aus dem Jahr 1795 konnten die Menschen, ihre Proportionen und die Form ihrer Gliedmassen weltweit millimetergenau schematisiert werden. Allein für die allerdings unendlich verschiedenen Formen des menschlichen Ohrs legte Bertillon einen Kombinationscode vor, der Hunderte von kodifizierten Ohrformen polizeilich genauestens registrierbar machte. Mit seiner Schematisierung der Vermessung des menschlichen Körpers, das er „portrait parlé“ nannte, konnte Bertillon die Identität eines Menschen auf eine Abfolge von Nummern und Worten reduzieren.

 

Sir Francis Galton (1822-1911) war ein Cousin von Charles Darwin und der Erfinder der auch unter dem Namen „Rassenhygiene“ bekannten „Eugenik“. Diese Theorie wurde von Wissenschaftern in den USA, der Schweiz, in Skandinavien und schliesslich auch in Nazi-Deutschland gelehrt und praktiziert. Sie unterteilte das Menschengeschlecht in „erblich Minderwertige“ und „erblich Höherwertige“. Mit grausigen Folgen: Allein in der Schweiz wurden ab 1890 Tausende als „erblich minderwertig“ medizinisch Abgestempelte zwangssterilisiert, viele auch zwangskastriert. Unter Leitung des St. Galler Psychiaters Ernst Rüdin wurden in Nazideutschland ab 1933, als das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen wurde, Hunderttausende „erblich Minderwertiger“ zwangssterilisiert. Ab 1939 wurden unter den Stichworten „Euthanasie“ und „unwertes Leben“ weitere Hunderttausende Behinderter und psychiatrisch Diagnostizierter ermordet – von ihren Ärzten und Psychiatern.

Eben dieser Francis Galton ist auch Erfinder der polizeilichen Identitätserfassung durch die bei jedem Menschen verschiedenen Formen des Fingerabdrucks. Der kam früher durch Einfärben der Fingerspitzen mit Stempelfarbe und Abrollen der Fingerbeeren auf den dazu erstellten Formularen zustande. Heute werden Fingerabdrücke von hoch auflösenden Scan-Systemen erfasst und automatisch mit bereits vorliegenden Datensätzen abgeglichen. Der Begriff lebt auch im Ausdruck „genetischer Fingerabdruck“ weiter, womit die ebenfalls indivduell verschiedene Abfolge der chemischen Bausteine der Erbsubstanz DNA gemeint ist. Weitere zeitgenössische und zukunftsträchtige Erfassungstechniken, die in Firmenzutrittsystemen und zur Herstellung biometrischer Identitätsausweise und Pässe genutzt werden, sind die dreidimensionale Erfassung der Gesichtsformen oder die optische Abtastung der Iris des Auges.

 

Das System der Bertillonage wurde ab 1884 in die polizeiliche Praxis umgesetzt, das der Fingerabdrücke ab 1895. Der englische Kolonialoffizier Edward Henry legte in Bengalen die erste Fingerabdrucksammlung an. In den Kolonien hatte es sich gezeigt, dass herkömmliche Personenbeschreibungen nicht genügten, um die von den Kolonialherren stereotyp wahrgenommenen Kolonisierten verwechslungssicher von einander zu unterscheiden.

 

Neben Menschen, die ihre Identität zu vertuschen und zu verbergen versuchen, gab und gibt es immer auch solche, deren Identität missachtet und zerstört wird. Damit meine ich keineswegs nur die seltenen Fälle der in der Geburtsabteilung Verwechselten, die es durchaus gibt.

 

In Afrika geraubte Sklaven verloren alles ausser ihrem nackten Körper, auch ihre afrikanischen Namen. Sie wurden zu Nummern auf den Rechnungen und Quittungen jener, die sie kauften und verkauften. Wenn sie nicht vorher auf dem Transport oder in den Plantagen starben, erhielten sie von ihren Besitzern neue Namen wie Clay oder Little. Deshalb machte sich Cassius Clay als Muhammad Ali einen Namen, und Malcolm Little als Malcolm X. Letzterer wurde zuletzt unter seinem Muslim-Namen El Hajj Malik el-Shabbaz vierzigjährig in New York City erschossen, im Jahr 1965, genau hundert Jahre nach der Befreiung der Schwarzen in Sklavenstaaten der südlichen USA und drei Jahre vor dem Mord an Martin Luther King. Als Bürger und Wähler waren auch 1968 noch lange nicht alle Afroamerikaner registriert, und in einigen Bundesstaaten ist heute noch unklar, ob und wie sie mitgezählt werden.

 

Ein Mensch, dessen Identität nicht anerkannt, sondern behördlich verneint wird, hat es schwer. Zehn Jahre dauerte es, bis die Schweizer Behörden dem Flüchtling aus dem Tschetschenienkrieg Alexander Peske zu glauben begannen, dass er Alexander Peske sei, und ihm Aufenthalt und provisorische Spezialpapiere gaben.

 

Erinnert sei auch an den Fall von Josef Freiwald. Der Sinto, Sohn einer Schweizerin, als Schweizer 1916 in der Schweiz, in Chalais im Wallis, geboren und im Geburtsregister registriert, reiste als Artist mit dem Zirkus Krone und als Musiker in Europa umher. Mehrfach ersuchte er um einen Schweizer Pass, vergeblich. Die Fremdenpolizei wies die Heimatgemeinde an, den Eintrag im Geburtsregister zu löschen, und verbot den Konsulaten, Josef Freiwald einen Pass auszustellen. Letztmals bat Josef Freiwald 1944 in Holland um einen schweizerischen Ausweis, als er, mit seiner Familie und Hunderten anderen Sinti, von Westerbork nach Auschwitz abtransportiert werden sollte. Einige Verfolgte hatten Glück und erhielten vom italienischen und vom guatemaltekischen Konsul in den Niederlanden falsche Ausweise; sie entgingen der Deportation. Nicht so Josef Freiwald. Ihm verweigerte der Schweizer Konsul weisungsgemäss einen echten Schweizer Pass auf seinen echten Namen, unter dem er im Wallis geboren und registriert worden war. Josef Freiwald musste in den Güterzug nach Auschwitz steigen. Von dort wurde er als arbeitsfähig nach Buchenwald kommandiert. Es gelang ihm, aus dem Transport zu fliehen. Er wurde erneut verhaftet und mit dem polizeilichen Vermerk „arbeitsscheuer Schweizer“ nach Buchenwald transportiert. Josef Freiwald überlebte das Konzentrationslager und ging zurück zu seinen Verwandten nach Holland, die dem Abtransport entgangen waren. Die holländischen Behörden fragten in Bern, ob Freiwald nun Schweizer sei oder nicht. Die Fremdenpolizisten antworteten, das Schweizer Bürgerrecht des Josef Freiwald sei nicht bestritten, doch sei es diesem nicht gelungen, seine Identität nachzuweisen.

 

Hingegen waren auch Schweizer Amtsstellen, neben dem Vatikan und dem Roten Kreuz, dabei behilflich, dass Dr. Josef Mengele mit einem echten Rotkreuz-Ausweis, lautend auf den falschen Namen Helmut Gregor, 1949 in sein Versteck in Südamerika reisen konnte – auf demselben Fluchtweg wie Adolf Eichmann und andere Nazimörder. Und ebenfalls unter falschem Namen konnte Mengele 1956 seinen Sohn sowie seine Schwägerin und spätere zweite Frau in der Schweiz besuchen, ohne verhaftet zu werden. So kam der sadistische Massenmörder, der für seine grausamen Menschenexperimente in Auschwitz auch Roma-Kinder umbrachte, bis zu seinem Tod im Jahr 1979 nie vor Gericht.

 

Eine spezielle Form des Passes war der Laufpass. Ein Laufpass wurde im 17. und 18. Jahrhundert jenen verpasst, die man auswies. Station für Station wurden Etappen des behördlichen Abtransports vermerkt. Reiseziel konnte etwa Kleinhüningen bei Basel sein, wo die alte Eidgenossenschaft Unerwünschte auf die französischen Galeeren verkaufte. Meist kamen die Rudersklaven auf den Kriegsschiffen um; kamen sie lebend zurück, hing ihnen der Name „Galöri“ an.

 

In den 1930er Jahren liess die schweizerische Fremdenpolizei eine ganz ähnliche Sorte Pässe herstellen, die so genannten Ausländerpässe. Solche Ausweise bekamen zum Beispiel die immer wieder, bei Nacht und Nebel, in Schnee und Kälte, über alle Landesgrenzen abgeschobenen Mitglieder der Musikerfamilie Minster, ebenfalls Sinti. In diesen blauen, ordnungsgemäss mit Stempeln und Fotos bestückten schweizerischen Ausländerpässen stand, deren Inhaber hätten das Recht, in allen Ländern herumzureisen und dazu auch die Schweizer Grenze zu passieren, allerdings nur in einer Richtung: Hinaus. Ungeachtet dieser weiteren passtechnischen Erfindung von Fremdenpolizeichef Rothmund, der ja auch dem J-Stempel von 1938 Pate stand, schoben die Nachbarstaaten Familie Minster wieder in die Schweiz zurück, wo sie ab 1936 „toleriert“ wurde; in den 1990er Jahren erhielten die in der Schweiz geborenen Mitglieder der Familie Minster, wenn sie nicht vorher als Staatenlose gestorben waren, sogar einen normalen Schweizer Inländerpass.

 

Vergeblich hatte sich Familie Minster in den 1930er Jahren auf das schweizerische Heimatlosengesetz vom 3. Dezember 1850 berufen. Dort steht:

„Art. 1. Als heimatlos sind alle in der Schweiz befindlichen Personen zu betrachten, welche weder einem Kanton als Bürger, noch einem Staate als heimatberechtigt angehören.

(..)

Art. 3. Für die Heimatlosen (...) soll durch die Bundesbehörden ein Kantonsbürgerrecht und durch die betr. Kantone ein Gemeindebürgerrecht ausgemittelt werden.“

Bundesbeamte hatten aber schon 1919 befunden, dieses Gesetz sei ein Gelegenheitsgesetz gewesen, kein allgemein gültiges – eine eigenartige Auffassung  von Legalität, die nie juristisch überprüft wurde. Würde die Schweiz dieses Gesetz weiterhin anwenden, wären viele Probleme der hier lebenden Ausweis- und Staatenlosen elegant gelöst.

 

Wer solche Sätze schreibt, muss mit dem Aufschrei derer rechnen, die „Überfremdung“ fürchten. Eben diese, meist rechts bis rechtsextrem (des)orientiert, schweigen aber zur Kolonialgeschichte oder loben sie.

 

Ohne Zweifel waren die australischen Indigenen die ersten Menschen, die Australien entdeckten und bewohnten. Dies seit mehr als 30'000 Jahren, also schon zu Zeiten, als es die Angelsachsen noch gar nicht gab. Doch 1788 nahmen die Engländer Australien zunächst als Sträflingskolonie in Besitz und rechtfertigten das mit der auch bei anderen kolonialistischen Landnahmen benutzten Behauptung, es handle sich um herrenloses Niemandsland, in lateinischen Fachbegriffen: terra nullius. So wurden die Aborigines in ihrer Gesamtheit nullifiziert, und die Neuverteilung ihres Kontinents durch Abgabe von Eigentumstiteln und Besitzausweisen an die weissen Jemande begann. Ähnlich war es in Amerika und Afrika. Erst seit 1924 gelten alle Native Americans in den USA als Staatsbürger und erhalten entsprechende Ausweise.

 

Die Auffassung, Australien sei vor 1788 terra nullius gewesen, wurde vom obersten australischen Gerichtshof nach einem von Aborigines angestrengten Gerichtsverfahren 1992 für null und nichtig erklärt.

 

Worauf aber auch 2007 noch zu warten bleibt, ist die Erfüllung eines alten Wunsches: Es möge jeder ungefiederte Zweibeiner mit flachen Nägeln, also jeder Mensch gemäss der Definition des Aristoteles, als Erdenbürgerin oder als Erdenbürger, das Recht auf ein Papier besitzen, das ihn als Menschen ausweist und am globalen freien Personenverkehrs nicht nur für die einen, sondern für alle teilhaben lässt.

 

 

 

Literatur zum Thema:

- Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2002

- Simon A. Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification.

London 2001

- Sven Keller: Günzburg und der Fall Josef Mengele. München 2003

- Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Berlin 2006