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Zürcher Diskurse über Zwangsarbeitsanstalten, „Korrektion“ und „Verwahrung“ zwischen 1840 und 1930


Von Thomas Huonker


Dem liberalen Zürcher Geist der 1830er bis 1860er Jahre war die Durchsetzung von Anstaltsinternierung und Zwangsarbeit gegenüber Leuten, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatten, vorerst noch zuwider. Die Erinnerung an eben abgeschaffte Formen der Zwangsarbeit Ausgegrenzter wie das Schellenwerk waren noch wach. Die Schellenwerker hatten, in Ketten und mit einem Gestell mit einer Glocke, das am Nacken montiert war und den Kopf überragte, die Strassen zu reinigen.1 Das Zürcher Armengesetz von 1836 erwähnte keine Zwangsarbeitsanstalten. In der Folge wurden solche Korrektionsanstalten im Kantonsrat mehrfach debattiert, deren vor allem von Bürgermeister Ulrich Zehnder propagierte Einrichtung vorerst aber verworfen. Am 23. Juni 1846, bei der Debatte zum neuen Armenpolizeigesetz, protokollierte der Kantonsrat: „Es wurde mit offenbarem Mehr entschieden, dass in dem Gesetze des Zwangsarbeitshauses nicht erwähnt werden solle.“ 2

Eine weitere Debatte zur Frage der Arbeitsanstalten folgte, als der Grosse Rat über die Ideen des kommunistischen Schneiders Wilhelm Weitling (1808-1871) debattierte und ein Gesetz zum Verbot kommunistischer und atheistischer Meinungsäusserungen („Maulkrattengesetz“) legiferierte, welches wegen der Einführung der liberalen Bundesverfassung von1848 jedoch nie Gültigkeit bekam. Weitling begründete seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen nicht nur aus universellen ethischen Prinzpien, sondern leitete sie, in der Nachfolge Ideen Thomas Müntzers sowie des frühen Befreiungstheologen Hugues Félicité Robert de Lamennais (1782-1854), respektive als Vorläufer von Theologen und Philosophen wie Leonhard Ragaz und Ernst Bloch, gerade auch aus der Bibel ab.3 Argumenten des konservativen Zürcher Staatsrechtlers Johann Kaspar Bluntschli folgend,4 war Weitling wegen Gotteslästerung und Angriffen auf das Eigentum verhaftet und zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden. Eine Berufung an das Obergericht führte zur Erhöhung der Gefängnisstrafe auf sechs Monate und zur Ausweisung aus der Schweiz. Regierungsrat Johann Jakob Rüttimann (1813-1876), selber Befürworter von Zwangsarbeitsanstalten,5 unterstellte Weitling in der Ratsdebatte vom 24. März 1846: „Alle Eigenthümlichkeiten, die Sitten, Sprachen, Rechte, Nationalität, Staat und Kirche will er von Grund aus vernichten und die ganze Erde in Eine grosse Arbeitsanstalt verwandeln.“ 6

Im Oktober 1846 verlangten die Gemeinden Fischenthal und Sternenberg „die endliche Errichtung von Korrektionshäusern (...), von denen schon so oft gesprochen worden ist.“ 7 Pfarrer Johann Friedrich Esslinger von Sternenberg, der die Petition mitunterzeichnete, musste kurz darauf wegen begangener Unterschlagung ins Gefängnis. Die Gemeinde kam deswegen von 1847 bis 1859 unter kantonale Finanzverwaltung.8

Viele Liberale argumentierten gegen Arbeitsanstalten. Der spätere freisinnige Bundesrat Jakob Dubs (1822-1879) aus Affoltern am Albis formulierte am 1. März 1853 (damals war er Grossrat und Nationalrat der Liberalen) eine radikale Anstaltskritik: „Die solidesten Schriftsteller auf dem Gebiete des Armenwesens heben denn auch hervor, dass es, von den ökonomischen Folgen ganz abgesehen, keine schlimmern Anstalten gebe als Gemeindearmenhäuser, in denen weder die Trennung der Geschlechter, noch diejenige der Alter ordentlich durchzuführen ist; wo brutale Willkür mit Schmutz und Roheit in Bälde heimisch werden und zuletzt ein wahrer moralischer Sumpf entsteht, in welchem jeder Hineingefallene gänzlich verdirbt. Man hat namentlich die Erfahrung gemacht, dass neun Zehntel der in Armenhäusern erzogenen Kinder fast für ihr ganzes Leben unterstützungsbedürftig blieben. Mit Bezirksarmenanstalten aber hat man ganz ähnliche unerfreuliche Erfahrungen gemacht.“ 9

Doch der Trend ging in die Richtung solcher Anstalten. In einigen Zürcher Gemeinden „bestand, allerdings ohne gesetzliche Grundlage, schon die Praxis, widerspenstige Arme in die Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain, Kt. Thurgau, einzuweisen“, dies bezogen auf das Jahr 1866.10

Oberrichter Aloys von Orelli hielt vor der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Zürich am 26. März 1865 einen Vortrag „Über Errichtung von Zwangsarbeitsanstalten“.11 Er sah sich als Nachfolger von Bürgermeister Ulrich Zehnder (1798-1977), der seit 1844 vergeblich versucht hatte, eine kantonale Zwangsarbeitsanstalt in Zürich einzurichten. Als Kenner der damaligen und seitherigen Diskussion referierte Orelli die drei häufigsten Argumentationslinien der Gegner von Zwangsarbeitsanstalten gleich selber, um anschliessend dagegen zu argumentieren: „1. Die Entziehung der persönlichen Freiheit rechtfertigt sich nicht wegen blosser Arbeitsscheu. 2. Der Zwang zur Arbeit führt zu dem sozialistischen Prinzip der Garantie der Arbeit durch den Staat. 3. Der Standpunkt der christlichen Liebe gestattet keine Zwangsmittel.“ 12 Dies waren alles Haltungen, die Orelli nicht teilte. Oberrichter Orelli berief sich bei seiner Befürwortung von Zwangsarbeitsanstalten auf eine 1849 von einer kantonsrätlichen Kommission gemachte Umfrage, wonach in mehreren Bezirken des Kantons die Mehrheit der Gemeinden für die Errichtung von Zwangsarbeitsanstalten sei, die Orelli nach dem Vorbild der seit 1836 bestehenden Bezirksarmenanstalt Kappel, deren Insassen Zwangsarbeit zu verrichten hatten, bezirksweise, nicht als Zentralanstalt, und ohne gesetzliche Neuerungen einrichten wollte. Laut dieser Umfrage, auf welche 139 Gemeinden geantwortet hatten, lebten im Kanton Zürich „840 Individuen“, welche als „für ein Korrektionshaus passend bezeichnet“ worden seien; Orelli schätzte allerdings, dass davon nur die Hälfte arbeitsfähig sei.13

Orellis Hauptziel war die Einrichtung einer Korrektionsanstalt im Bezirk Zürich, was die Gemeinden des Bezirks Zürich, unterstützt von der dortigen Sektion der Gemeinnützigen Gesellschaft, in Gestalt der Korrektionsanstalt Uitikon 1874 verwirklichten. Diese Institution, 1926 in eine Arbeitserziehungsanstalt für Jugendliche umgewandelt, heisst heute Massnahmenzentrum Uitikon.

Orelli, der 1850 die Zwangsarbeitsanstalt in Parkhurst auf der Isle of Wight besichtigt hatte, schilderte den Betrieb bestehender Zwangsarbeitsanstalten in der Schweiz, so der 1839 gegründeten Anstalt in Fürstenau, später Realta, in Graubünden. Die dort „inapellabel“ von den Kreisvormundschaftsbehörden eingewiesenen „Zwangsarbeits-Sträflinge“ würden bei Verletzung der Hausordnung durch „Rüge“, „Entziehung von Kost oder Ruhezeit“, „Arrest“ und „in ganz besonderen Fällen die Züchtigung mit Ruten, doch nie mehr als in 10 Streichen“ bestraft, vermerkte Oberrichter Orelli und fügte bei: „Ein Bericht an die SGG meldet: ‚körperliche Strafen, als die erfolglosesten, werden selten angewandt, Arrest bei schmaler Kost und wenn dieses nicht genügt bei Wasser und Brot, einen Tag um den andern, hat bis jetzt noch immer angeschlagen.’“ 14 Die Thurgauer Zwangsarbeitsanstalt wurde vor allem auf Betreiben des Präsidenten der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft, Johann Ludwig Sulzberger (1815-1888), unmittelbar nach dessen Aufhebung im Jahr 1849 im ehemaligen Frauenkloster Kalchrain eingerichtet.15 Zu Kalchrain überliefert Orelli: „Zur Arbeit ist jeder nach seinen Kräften verpflichtet und wird notfalls durch Hunger oder Einsperrung dazu gezwungen.“ 16 1862 arbeiteten acht „Detinierte“ aus dem Kanton Zürich in Kalchrain, von insgesamt 36.17 Gestraft wurde dort so: „Zuerst wird der Fehlbare ermahnt und bekommt seinen Verweis für geringe Vergehen. Sind diese wichtiger, so tritt Abbrechung der Lebensmittel ein. Die Schüsseln, in denen die Detinierten ihre Speisen erhalten, haben innen Ringe, und nach denen wird die Speise bis auf ein Minimum abgebrochen. Wiederholte Vergehen, gröbere Übertretungen, Ungehorsam werden mit Einsperrung bis auf vier Tage im dunkeln Kerker bestraft. Noch grössere Vergehen, Entweichung besonders ziehen die Prügelstrafe nach sich und der Hausvater hat das Recht, bis auf acht geben zu lassen“.18 Im Sommer 1863 berichtete der Verwalter von Kalchrain der SGG zur Frage, ob die dortigen Insassen nach 1 bis 2 Jahren „Detention“ die Anstalt „gebessert“ verlassen würden: „Die Dauer des Aufenthalts von 1 bis 2 Jahren ist zu kurz, um bei so gründlich verdorbenen, der Liederlichkeit und Arbeitsscheu ergebenen Menschen immer Besserung erwarten zu können. Ist auch der Vorsatz hiezu vorhanden, oder wird er wenigstens geäussert, so fehlt doch meistens die Ausführung desselben. Die Verachtung, die solche Individuen meist nach Entlassung aus der Anstalt erfahren, der Mangel an Vertrauen zu sich selbst, erschwert ihnen oft die Ausübung besserer Vorsätze und lässt sie mehr oder weniger in das alte Leben zurücksinken. Die Furcht, bei schlimmem Verhalten wieder in die Anstalt treten zu müssen, bewirkt dann einzig noch, dass sie sich mehr in Acht nehmen und sich so viel wie möglich hüten, ihrer Gemeinde zur Last zu fallen.“ 19 Ein Orelli bekannter Thurgauer Geistlicher habe aus seiner „eigenen amtlichen Erfahrung“ heraus die abschreckende Wirkung der Anstalt bestätigt: „Die blosse Hinweisung auf Kalchrain schreckt manchmal wirklich ab und macht diese letzte Massregel überflüssig.“ 20

Zur damals grössten schweizerischen Institution dieser Art, der (nach Vorläuferinstitutionen im alten Vogteischloss) 1849 gegründeten Zwangsarbeitsanstalt im bernischen Thorberg mit rund 250 Insassen, fasste sich Orelli kurz und machte keine Angaben zu den dortigen Disziplinarstrafen, erwähnte aber das hohe jährliche Defizit von Fr. 23'780 beispielsweise im Jahr 1863. Bei der 1857 von der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige gegründeten kleinen Anstalt Klosterfiechten für 7 bis 9 Insassen in Basel vermerkte Orelli die „milde Disziplin“: Körperliche Züchtigung sei ganz ausgeschlossen, Arrest auf maximal 14 Tage beschränkt.21

Zur Bezirksarmenanstalt im zürcherichen Kappel am Albis schrieb Orelli: „Über die Aufnahme und Entlassung der von den Gemeindsarmenpflegen oder von Privaten Empfohlenen entscheidet die Kommission (...). Jeder Versorgte wird auf ein Jahr aufgenommen. Die Beschäftigung der Detinierten und der Kostgänger besteht vorzugsweise in landwirtschaftlichen Arbeiten (...). Im Winter tritt an deren Stelle Flechten von Strohteppichen, Holzhauen usw. (...) Die Strafen, welche nach Artikel 19 des Hausreglements gegen widerspenstige Detinierte angewendet werden dürfen, sind: Verweise entweder einzeln oder vor allen Bewohnern der Anstalt, Eingrenzung ins Innere des Hauses, teilweise Entziehung der Nahrung, Einsperrung mit oder ohne warme Speisen, Anlegung des Blockes oder der Springkette (nach Artikel 31 des Armengesetzes), endlich nötigenfalls auch körperliche Züchtigung. Diese letztere wird höchst selten und gegen Weiber nie angewendet. Sie bleibt in praxi auf eigentliche Notfälle beschränkt, z. B. wenn ein Versorgter sich an den Knecht oder, wie auch schon geschehen, am Verwalter sich tätlich vergriffen hat. (...) Die gewöhnliche Strafe ist Einsperrung oder Beschränkung der Nahrung; auf Fluchtversuche folgt auszeichnende Kleidung (die sog. Strafhosen).“ 22 Die Anstalt Kappel praktizierte also in ihrer Korrektionsabteilung ein hartes Regime mit scharfen Strafmitteln, und dies unter Berufung auf eine Armengesetzgebung, welche damals noch gar keine Zwangsarbeitsanstalten vorsah.

Im Namen der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Zürich sandten am 28. Februar 1869 die Pfarrer J. Pfister und K. Furrer dem Verfassungsrat des Kantons Zürich ein Schreiben, um eine Änderung von Artikel 22 des anstehenden Verfassungsentwurfs, der „die Errichtung solcher Anstalten für die Zukunft ausgeschlossen“ hätte, zu erreichen, was ihnen gelang. Sie legten „eine grössere Anzahl“ der Druckfassung des Vortrags von Oberrichter von Orelli bei und verwiesen darauf, dass nach Graubünden, Bern, Thurgau und Basel-Stadt nun auch in den Kantonen Aargau und St. Gallen entsprechende Anstalten errichtet würden.

In Ausübung des 1865 von der demokratischen Bewegung durchgesetzten Initiativrechts reichten die Befürworter von Zwangsarbeitsanstalten im Kanton Zürich zusätzlich im Jahr 1873 eine von 12'759 Stimmberechtigten unterzeichnete Volksinitiative ein. Deren Text lautete: „Es seien von Staats wegen eine oder mehrere Korrektionsanstalten für arbeitsscheue und liederliche Personen zu erstellen und die hiefür nötigen Gesetze zu erlassen.“ Eine knappe Mehrheit des Kantonsrats empfahl die Verwerfung des Volksbegehrens in seinem „Bericht an das zürcherische Volk über die dem Frühjahrsreferendum 1874 zu unterbreitenden Vorlagen“. Der Bericht formuliert die Befürchtung, “dass durch die Zwangsarbeitsanstalt ein neues soziales Unrecht geschaffen wird. Der reiche Müssiggänger und Verschwender, der vielleicht durch schlechtes Beispiel und Verführung ein schädlicheres Glied der menschlichen Gesellschaft ist als manches der Individuen, welche der Zwangsarbeit verfallen sollen, geht straflos aus, solange er im Stande ist, seine nichtsnutzige Existenz aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Nur den armen, daher der Familie oder der Gemeinde zur Last fallenden Taugenichts trifft die Züchtigung.“ Diese Argumentation spiegelt die Sicht der damaligen Kantonsratsmehrheit der Demokraten, welche auch mit Teilen der frühen Arbeiterbewegung wie dem Grütliverein zusammenwirkten und welche die neue Zürcher Verfassung von 1869 prägten; diese brachte neben dem Ausbau des Initiativrechts auch die Abschaffung der Todesstrafe. Die Mehrheit des Stimmvolks befürwortete im Gegensatz zum Kantonsrat am 14. Juni die Initiative. „Am 4. Mai 1879 wurde das Gesetz [betreffend die Korrektionsanstalten] in der Volksabstimmung angenommen. Damit wurden die Versorgungen, die sich in der Praxis schon eingebürgert hatten, legalisiert und einem Verfahren unterworfen, das Missbräuche nach Möglichkeit ausschloss.“ 23 Artikel zwei des Gesetzes enthielt folgende für die Bezirksarmenanstalten Kappel und Uitikon wichtige Bestimmung: „Von Gemeinden oder Privaten errichtete Korrektionsanstalten haben Anspruch auf angemessene staatliche Unterstützung, insofern sie den staatlichen Bedingungen betreffend Aufnahme entsprechen und zweckmässig eingerichtet und geleitet sind.“ 1884 wurde für Korrektionsmassnahmen an Minderjährigen zusätzlich die Anstalt Kellerloch bei Ringwil eröffnet, da das neue Gesetz deren gemeinsame Unterbringung mit älteren „Korrektionellen“ verbot und in Artikel 3 verlangte: „Die Minderjährigen sind in besonderen Anstalten unterzubringen“, wo ihnen auch Ausbildungsmöglichkeiten offen standen. 1882 war die Korrektionsanstalt Uitikon von den Gemeinden des Bezirks Zürich an den Kanton übergegangen, und im selben Jahr schloss der Regierungsrat mit der Anstalt Kappel jenen Vertrag zur Unterbringung von Korrektionshäftlingen, der bis zur Aufhebung der Verwahrungsabteilung (1978) galt und der Anstalt Kappel höhere kantonale Subventionen einbrachte als die wenigen 100 bis 700 Franken pro Jahr, die der Kanton bisher an den Betrieb beigesteuert hatte. So erging beispielsweise im Jahre 1878 ein Beitrag von Fr. 600 an die „Armen- und Zwangsarbeitsanstalt Kappel (...) unter der Bedingung, dass das Kostgeld für arme Kantonsangehörige höchstens 250 Fr. per Jahr betrage“.24 Um 1880 hatten neben den bereits vorher erwähnten Kantonen auch Basel-Land, St.Gallen, Solothurn und Luzern staatliche Zwangsarbeits- oder Korrektionsanstalten eingeführt. In Korrektur des Vertrags von 1882 wurde 1892 bestimmt, dass der Kanton die Korrektionshäftlinge unter 30 Jahren nach Uitikon, die über 50 Jahre nach Kappel einweisen und die restlichen gleichmässig auf beide Anstalten verteilen solle. Zur Terminologie von Korrektions- respektive Zwangsarbeitsanstalt formulierte die Kantonsratskommission, welche den regierungsrätlichen Entwurf leicht abänderte, am 15. November 1878 in der Weisung zum Entwurf des Gesetzes betreffend die Errichtung von Korrektionsanstalten: „Der Ausdruck ‚Korrektionsanstalt’ (...) fasst (...) am besten Beides in sich: Die Erziehungs- und Besserungsanstalt für die Minderjährigen, wie die eigentliche, auch der Besserung dienende, Zwangsarbeitsanstalt für Volljährige.“ 25

Nach einigen Jahren Praxis der Korrektionsanstalten erhob sich die Frage, ob damit wirklich alles zum Besten bestellt sei. Am 24. Januar 1911 hatte Pfarrer Winkler aus Seen bei Winterthur im Kantonsrat eine Motion eingereicht, „ob nicht das Gesetz betreffend Errichtung von staatlichen Korrektionsanstalten in Revision zu ziehen sei“. Ein anonymer Korrespondent unterzog in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juli 1911 den aktuellen Betrieb der Korrektionsanstalten scharfer Kritik. Insbesondere vermisste er deren „bessernde“ Wirkung. „Zeit für die Seele dieser Korrektionsbedürftigen bleibt selbst in einer staatlichen Anstalt keine. Überall schaut der Geschäftsmensch heraus, der bezahlte Mietling. Opfer und Herz sucht ihr umsonst. Eintönig, frostig, kalt, wie das gelblich schmutzige Korrektionsgewand, ist der Lauf des Tages. (...) Und der Detinierte? Glauben Sie etwa, er fühle das alles nicht? Besser und tiefer als wir. Für ihn ist ein Tag, was der andere – wenn er nur herum ist! Sie wissen wohl und sagen es auch mit finsterem Trotz, dass diese Korrektion ihnen nicht auf die Beine hilft, dass sie elender dran sind nach ihrer Detentionszeit als vorher.“ Und weiter: „Heute treibt in unsern Korrektionsanstalten, dank dem geltenden System, dem ungenügenden und zum Teil minderwertigen Personal, ein krasser Arbeitsschlendrian volle Blüten. (...) Den durch den ökonomischen Haushalt schwer belasteten Verwaltungen ist es absolut unmöglich, für die Korrektion der Insassen etwas Erspriessliches zu leisten. Dadurch verwildert die Grosszahl der Detinierten gänzlich, statt gehoben zu werden. Sagte mir doch erst kürzlich ein solcher: Wenn ich hinauskomme, muss ich erst wieder lernen mit den Leuten umzugehen. Sehr bezeichnend, aber leider nur zu wahr! Wen wundert es da, wenn die Disziplin locker wird, und an Stelle von Achtung und Vertrauen ein gewisser Terrorismus der Insassen tritt, die aus den kleinsten Fehlern und Taktlosigkeiten der Angestellten Wasser auf ihre Mühlen sammeln und das Personal in Schach halten.“ Der Kritiker störte sich auch an der Abgabe von saurem Most sowie an der Schnapsbrennerei in den Anstalten und empfahl Totalabstinenz. „Die Totalabstinenz soll sich nicht nur auf die Detinierten, sondern auf das gesamte Personal erstrecken. Einmal haben wir dann kein angeheitertes Personal mehr, und andererseits erblicke ich darin einen erzieherischen Faktor durch das Vorbild.“ Der Verfasser empfahl den Ausbau der Einteilung der Korrektionellen in verschiedene Vergünstigungsstufen, wodurch sich tüchtige Detinierte in „Klassen“ mit angenehmerem Regime innerhalb der Anstalt hinaufarbeiten könnten.

Längerfristig mündeten diese Diskussionen in das Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925. Es ersetzte das Gesetz zur Errichtung von Korrektionshäusern und galt auch für die in der Zwischenzeit gegründete Trinkerheilstätte Ellikon an der Thur. Das Korrektionshaus Uitikon wurde 1926 in eine Arbeitserziehungsanstalt für Jugendliche umgewandelt, die Korrektionsabteilung in in der Bezirksarmenanstalt Kappel wurde neu Verwahrungsabteilung genannt. Dieses Versorgungsgesetz blieb bis 1981 in Kraft. Zusammen mit zahlreichen ähnlichen administrativen Zwangsgesetzen musste es wegen Unvereinbarkeit mit der europäischen Menschenrechtskonvention aufgehoben werden, welche die Schweiz – unter Ausschluss einzelner Teilbereiche – 1974 ratifiziert hatte.



(Zürich, Februar 2008)

1 Vgl. Georg Fumasoli: Ursprünge und Anfänge der Schellenwerke. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Zuchthauswesens. Zürich 1981

2 Verhandlungen des Grossen Rats des Kantons Zürich vom 23. Juni 1846, Fortsetzung, S. 91

3 Vgl. Wilhelm Weitling: Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte, Paris 1838/39; Der Hülferuf der deutschen Jugend, Bern 1941; Die Garantien der Harmonie und der Freiheit, Vevey 1842; Die junge Generation, Genf 1842/3; Evangelium eines armen Sünders, o O. 1845; Jürg Haefelin: Wilhelm Weitling – Biographie und Theorie ; der Zürcher Kommunistenprozess von 1843, Bern 1986; Ernst Staehelin: Die Stellung des schweizerischen Protestantismus zum Aufbruch des Sozialismus und Kommunismus in der Regenerationszeit, in: Zwingliana, hg. vom Zwingliverein, Bd. VI, Heft 1, Zürich 1934, S. 33 – 50 ; Robert Barth: Protestantismus, soziale Frage und Sozialismus im Kanton Zürich 1830 – 1914, Zürich 1981

4 Bluntschli, Johann Caspar. Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren, Wörtlicher Abdruck des Kommisionsberichtes an die Hohe Regierung des Standes Zürich, Zürich 1843

5 So in den Verhandlungen des Grossen Rathes des Cantons Zürich vom 25. Juni 1846.

6 Verhandlungen des Grossen Rathes des Cantons Zürich vom 24. März 1846

7 Verhandlungen des Grossen Rathes des Cantons Zürich vom 14. Oktober 1846

8 Vgl. http://www.sternenberg.ch/gemeinde/geschichte.htm (Stand 4. September 2007)

9 Zitiert nach Otto Peter, Die Anstalt Kappel a. A., Zürich 1936, S.106

10 Lore Bollag-Winizki: Die sichernden Massnahmen für Jugendliche, Verwahrloste und Gewohnheitstrinker im Kanton Zürich, Diss. iur., Zürich 1940, S. 9. Einen konkreten solchen Fall schon aus dem Jahr 1860 dokumentiert Sabine Lippuner: Bessern und Verwahren, Die Praxis der administrativen Versorgung von „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain (19. und frühes 20. Jahrhundert), Frauenfeld 2005, S. 91

11 Aloys von Orelli: Über Errichtung von Zwangsarbeitsanstalten, Zürich 1865

12 l.c. S. 30

13 l.c. S. 27

14 l.c., S.10f. Zu den Bündner Zwangsarbeitsanstalten Fürstenau, später Realta, vgl. auch Thomas Huonker, Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Jenische Lebensläufe, Zürich 1990, S. 50 ff.

15 Vgl. Lippuner: Bessern

16 Orelli, Zwangsarbeitsanstalten, S.12

17 l.c. S.13

18 l.c. S.14

19 ebda.

20 l.c. S.15

21 l.c. S.19

22 l.c. S. 17f.

23 Bollag, Massnahmen, S. 10

24 Amtsblatt des Kantons Zürich vom Jahre 1878, S. 1226

25 l.c. S. 2604f.