Von Michael Marti
Seit Jahren schon schmerzt ihn der Kopf, wenn
er nach Erinnerungen sucht. Und mit einer
Vergangenheit wie seiner, sagt er, bleibe ohnehin
nur noch die Zukunft.
Paolo Schlumpf ist 77 Jahre alt.
«Alles
Halunken, Gauner!» Er ballt die Hände zu Fäusten.
Seine Hände sind Pranken, riesig. Mit diesen
Händen hat er sich durchs Leben geschlagen. Jetzt
besitzt er ein Bett, einen Tisch, einen
Kühlschrank. Einen Elektroherd, eine Fritteuse,
eine Occasions-Kaffeemaschine. Einen Fernseher,
ein Faxgerät und ein 30 Jahre altes
Philips-Spulentonbandgerät. Der Lautsprecher
spielt «Die schönsten Tessiner Lieder».
In dem Zimmer in Solduno, nahe Locarno, lebt
ein Mann, den die Schweizer Obrigkeit in
Irrenhäuser und Gefängniszellen gesperrt hat,
jahrzehntelang. Ein Mann, der später in Wäldern,
unter Brücken, auf Müllhalden hausen musste, mehr
wie ein Tier als wie ein Mensch.
Und ein Mann, dem der Staat das Schrecklichste
angetan hat. Die Halunken, Gauner, sie haben ihn
kastriert. Entmannt.
Paolo Schlumpf hält eine Plastiksichtmappe mit
vergilbten A4-Blättern hoch. Hier hat er
niedergeschrieben, was er eigentlich nur vergessen
will: Lebensgeschichte Von Paul Schlumpf. Der
schmale Stapel Papier ist ein Zeitdokument, ein
erschütterndes Zeugnis aus dem düstersten Kapitel
der Schweizer Psychiatriegeschichte. Die
Geschichte eines Kampfes um die Würde im
erbarmungslosen Räderwerk der Psychiatrie. Es ist
die Geschichte eines Skandals. Zwischen 1892 und
1970 sind allein im Kanton Zürich Tausende Frauen
und Männer zwangssterilisiert und zwangskastriert
worden. Paolo Schlumpf ist einer von vielen. Aber
der Erste, der mit seinem Schicksal an die
Öffentlichkeit geht. Jede Seite seiner
Lebensgeschichte ist mit Maschinenschrift dicht
beschrieben, die letzten Buchstaben der Zeilen
berühren den Blattrand.
Ich wurde Geboren. Paolos Leben beginnt als
Paul. An der Rötelstrasse in Zürich, am 7.
november 1924. Der Vater unbekannt. Was Paul als
Erstes erfährt von der Frau, die ihn in die Welt
setzte: dass sie ihn nicht gewollt hat. Paul hat
keine Familie, Paul hat kein Zuhause, Paul hat
keine Chance. Erste Jahre im Kinderheim Rötel,
dann, weil er mit dem Studieren Mühe hat, steckt
ihn die Vormundschaft in die Hilfsschule, wo er
nur Dummheiten lernt.
Grosse Dampfkessel mit Karbied gesprengt. Das
Kg. für 5 Rp. gekauft. Dem Tram Käpsli vor die
Schienen gelegt.
1927 erfasste das Fichenregister der Zürcher
Fürsorge 14 Prozent der Stadtbevölkerung. Unter
den Sozialfunktionären und Politikern ging die
Angst um: Die Zahl dieser «minderwertigen
Menschen» nehme nicht ab. Sie nehme zu. Der
Direktor der Zürcher Psychiatrieklinik Burghölzli,
Professor Hans Wolfgang Maier, schrieb 1925: 4,5
Prozent der Schweizer Bürgerinnen und Bürger «sind
geistig nicht vollwertig». Bei einer Bevölkerung
von vier Millionen waren dies 180 000 Menschen.
Diese Männer, Frauen, Kinder seien eine «kolossale
Last». Und eine Gefahr. Die Gefahr der
«Verseuchung der erbgesunden Bevölkerung mit
krankhaften Erbanlagen».
Paul ist zwölf und ein Bettnässer. Verwahrt in
der Erziehungsanstalt Burghof, Regensberg ZH.
Jeden Morgen um sieben muss er sein beschmutztes
Laken waschen. Die Schritte zum Brunnen hat er
barfuss zu gehen, selbst im Winter. Nach dieser
Handlung, durften die anderen Zöglinge mich mit
Steinen und Rossboppeln bombardieren.
Wenn der Himmel klar ist, sucht Paul den «Graf
Zeppelin». Der, vom deutschen Küssaburg her, über
die Zürcher Landschaft schwebt.
Paul wird geprügelt, gedemütigt,
herumgestossen. Armenanstalt Bärau BE. wenig
essen, prügel. nachts wurden wir eingesperrt wie
die tiere. Paul wird therapiert. auch
elektroschocks durfte ich über mich ergehen
lassen. mann wirt abgetötet, im gehirn.
Paul ist kaum 15 Jahre alt, ein Kind, das keine
Kindheit hat.
Er schuftet bei Bauern. Sie halten ihn, den
Verdingbuben, schlechter als das Vieh. bekam zu
Essen, zu Schlafen, auf den Ranzen.
Nicht nur in Zürich, in weiten Teilen der
Schweiz waren die Sozialpolitiker entschlossen,
«die Erzeugung geistig und moralisch
minderwertiger Menschen zu verhüten». Die Waffen
in diesem Kampf:
Eheverbot, Sterilisation und
Kastration. Behinderte, Anstaltsinsassen,
Geisteskranke waren die Opfer, aber auch Verarmte,
Jenische oder Homosexuelle. Man nannte sie
Ballastexistenzen, Untermenschen.
Paul, Ballastexistenz, Untermensch, ist das
eigene Leben wertlos geworden. In einer Zelle der
Haftanstalt Andelfingen ZH zerschneidet er sich
mit einer Klinge die Arme. Er schmiert sein Blut
an die Wände. Ihm wird kalt. Er verliert das
Bewusstsein.
Als ich nach langer zeit wieder erwachte, da
dachte ich bei mir: «Entlich im Himmel.»
Die Schweiz war bis in die Dreissigerjahre in
Europa das führende Experimentierfeld für
Kastrationen von Menschen. Der Enthusiasmus der
hiesigen Ärzte und Psychiater sollte nur von
Hitlers KZ-Ärzten übertroffen werden. Vor allem
die Psychiatrie-Klinik Burghölzli machte sich
daran, die Verminderung von Geburten
«Minderwertiger» durchzusetzen. Zentrale Figuren
dieses Programms waren die Burghölzli-Direktoren
Auguste Forel (1878 bis 1898), Eugen Bleuler (1898
bis 1926), Hans Wolfgang Maier (1927 bis 1941) und
Manfred Bleuler (1942 bis 1970).
Englischen und amerikanischen Rassenhygienikern
nacheifernd, machten sie Zürich zu einem
Knotenpunkt der europäischen Eugenik.
Paul wollte sterben. Aber er kommt nicht in den
Himmel, sondern in die Irrenanstalt Alt Rheinau
ZH. Arbeit auf den Feldern. Paul hebt Weizensäcke,
100 Kilogramm schwer. Er ist stark wie kein
Zweiter, arbeitet härter als jeder andere. Der
Lohn: einige Stunden Freiheit. Es gibt in der
Anstalt auch Patientinnen, auch eine Schöne. Auch
sie darf sonntags hinaus.
Sie sagte, dein Messer Paul, dint dafür, dass
du es in den Baum stichst, wo ich meine Kleider
aufhängen kann. Sie hat mich angefangen
Auszuzihen, und ich liess es Gefallen. Als ich
Nackt war Sagte Sie jetzt musst du mich Auszihen,
ich machte es mit höchster Sorgfalt. Als wir beide
nackt wahren, zeigte sie mir wie man
Geschlechtlich verkehrt. Als ich das Begriffen
hatte, blieben wir bis am Abend im Wald drinnen,
Sie unten ich oben.
Ausstiege aus der Irrenanstalt,
halsbrecherische, in der Nacht, über die Dächer.
Ihn treibt es immer von neuem zur Frau. Offen
gesagt, Wir bürsteten wie Geschossen.
Paul wird erwischt. Der Freiheitsdrang und
Geschlechtstrieb des Jünglings wird therapiert:
Zwangsjacke, Schlaftherapie, Insulinschock,
Elektroschock. So wollten sie mich langsam aber
sicher töten.
So effizient die brutalen psychiatrischen
Schocktherapien als Disziplinarstrafen waren, so
ergebnislos bleiben sie als Heilungsmethoden. Die
so genannten harten Kuren sind mit Ausnahme
einzelner Weiteranwendungen von Elektroschocks
nicht mehr in Gebrauch. Heute ist die
Sinnlosigkeit dieser Behandlungen erwiesen:
1. Die Schlafkur versetzt den Patienten in eine
tiefe Narkose, Dauer: sechs bis zehn Tage. Sie
birgt grosse Risiken, etwa Kreislaufkollapse,
Lungenentzündungen.
2. Insulinschocktherapie meint die Erzeugung
eines hypoglykämischen Komas. Durch die künstliche
Senkung des Blutzuckerspiegels mit Insulin
entsteht eine Ohnmacht. Nach 30 Minuten wird der
Patient durch die Zufuhr von Traubenzucker
geweckt. Die Behandlung kann zu Herz- und
Hirnschäden, zum Tod führen.
3. Die Elektroschocktherapie ist eine Erfindung
der Psychiater Mussolinis. Wird der Patient nicht
narkotisiert, kommt es wegen der konvulsivischen
Zuckungen zu Knochenbrüchen.
Paul überlebt, er stemmt sich mit der Kraft
seiner gewaltigen Physis gegen das
Schreckensarsenal der Psychiater. Paul demoliert
die Zelle, immer wieder. Die Wucht seiner Hände
verwüstet selbst den Bungalow von Chefarzt
Plattner. Paul ist bald 23. Ein Geschöpf der
Fürsorge und der Psychiatrie. Ein Geschöpf von
Überwachen und Strafen. Was er gelernt hat: Gewalt
als Widerstand. Dreinhauen. Kaputtschlagen. Wenn
Paul auf der Kurve ist, nach Zürich ausbricht,
durchs Niederdorf geht, dann reicht es, dass ihm
einer zu lange in die Augen schaut. Und er schlägt
ihm die hufeisengrossen Fäuste ins Gesicht. Immer
unter totaler Kontrolle, hat er nie gelernt, sich
zu kontrollieren. Das ist aus Paul Schlumpf
geworden.
Sommer 1947. Nach Monaten guter Führung, Arbeit
in der Anstaltsgärtnerei, bekommt er am Sonntag
Ausgang.
Der erste gedanke war, die erst beste,
die mir über den weg läuft, die werde ich
vergewaltigenn. Und so kam es.
Im wald von ellikon an der thur, war eine frau,
die etwas suchte, ich glaube beehren. ich ging
hinter sie her, und schwang ihr den rock über den
kopf, oben band ich ihr mit einem taschentuch die
hochgezogenen zipfel zu, und vergewaltigte sie.
sie hatte sich nicht gewehrt.
Ob er die Vergewaltigung bereut? Heute? Nach 44
Jahren? Der Lautsprecher des Tonbandgeräts
scheppert gegen den Verkehrslärm an, der von der
Strasse heraufschlägt. Die Spulen drehen sich, auf
dem Band jetzt «An den Ufern des Mexico Rivers»,
Paolo Schlumpfs Lieblingslied. Nach einer Weile
sagt er: Es habe sich ja nachher herausgestellt,
dass die Frau ein Alter von 72 Jahren gehabt habe.
Einer, der nie Mitleid erfahren durfte, hat nie
Mitleid gelernt.
Der Vergewaltiger Paul kommt nie vor einen
Richter, er sieht nie ein Urteil. Er wird per
Verfügung interniert.
es hies, schlumpf ist ein
gemeingefährlicher bursche. er ist assotial,
debil, geisteskrank.
Ein Nachttopf, ein Kasten mit drei Gamellen,
ein Tisch, ein Bett, aufklappbar, eine elektrische
Lampe, zentral gesteuert, ein Kasten für Kleider,
ein Blechmesser, eine Gabel, ein Löffel, ein
Heizkörper, defekt.
13-mal in zwölf Monaten demoliert Paul die
Zelle in der Strafanstalt Regensdorf ZH. 14-mal
spritzen ihn die Wärter mit einem eiskalten
Wasserstrahl ab, acht atü Druck. 16-mal
Dunkelarrest plus Kostverschmälerung, jeweils für
21 Tage. Nach und nach erlahmt selbst die Renitenz
des Stärksten. Er darf mit dem
Strafanstaltsdirektor nach Zürich, er kauft sich
zwei Goldhamster. zuerst hatte ich 2. später 50
stück. die jungen konnte ich an die zoohandlung
weinmann an der uraniastrasse verkaufen.
In seiner Zelle türmen sich Käfige, von denen
Holzstege auf den Boden führen. Auf dem Bett
sitzend, spielt Paul auf der Mundharmonika, bis
die Tiere die Stege hinabbalancieren. Der Boden
ist bedeckt mit Stroh. Paul schläft inmitten von
Tieren.
ich vergass die freiheit. ich war jetzt
daheim.
Er, der Bevormundete, Gebändelte, Gekettete,
Eingesperrte, schafft sich seine Welt im Kerker.
Er beginnt, seine Hände neu zu gebrauchen – sie
zeichnen, was er nicht sehen darf: Rehe, Hirsche,
Bären entstehen an den Zellenwänden. Flüsse,
Gebirge, Wiesen. Paul sehnt sich nach Musik, er
malt ein Grammofon auf den Verputz.
Schlümpfli!
Schlümpfli!
Der Direktor von Regensdorf spricht Paul
neuerdings mit Kosenamen an. Und bittet ihn in
sein Büro. «Wenn Sie sich kastrieren lassen, sind
Sie entlassen. Wenn Sie sich kastrieren lassen,
sind Sie morgen frei.» Schlumpf erhält Zigaretten,
Marke Memphis, für eine ganze Woche.
Wer sich gegen eine Kastration oder
Sterilisation zu weigern versuchte, bedrohten die
Behörden oft mit lebenslanger Internierung. Den
Psychiatern und Medizinern war diese Form der
Erpressung durchaus klar. Der Direktor der
Psychiatrischen Klinik Cery bei Lausanne, Hans
Steck, hielt 1925 zu zwei Kastrationsfällen fest:
«Die Männer gaben die Zustimmung in einer
Zwangslage, indem sie zwischen dauernder
Internierung oder Operation zu wählen hatten.»
Frauen wurde oft mit dem Entzug von
Fürsorgegeldern gedroht.
Schlümpfli!
Schlümpfli!
da nahm er mir die hand und half mir beim recht
unterschreiben, ich sah es an meiner handschrift
an, das es nicht die welche ist, wenn ich selbst
unterschrieben hätte. er hat mich also
hereingelegt. tatsächlich habe ich gesehen, wie er
unter dem lehren papier nachträglich eine
beantragung hervorgezogen hatte.
Zwei Wächter schleppen Paul, den Übertölpelten,
in den Gefangenenwagen, sie überführen ihn in die
Dermatologische Poliklinik Zürich.
Für die Mediziner ist die Kastration eines
Mannes ein simpler Eingriff: Lokalanästhesie
oberhalb des Hodensacks. Schnitt in der Mitte des
Hodensacks, drei bis fünf Zentimeter lang.
Freilegung des rechten Hodens und des linken
Hodens. Aufsuchen der Samenstränge. Doppelte
Abbindung derselben. Durchtrennen der Samenstränge
mit dem Skalpell. Herauslösen der Hoden. Zunähen
des Hodensacks mit vier bis fünf Stichen.
Die Hoden werden, wie die restlichen
Operationsabfälle, verbrannt. Zwei Sätze sind in
Paolo Schlumpfs Notizen über seine Kastration
nachzulesen. in mir kochte es hernach wie heisses
wasser. aber ich beruhigte mich, weil ich wusste,
dass ich frei werde. Paolo Schlumpf, der sein
Leben so kraftvoll niederschrieb, verstummt beim
Furchtbarsten, das ihm zustiess.
1948 ist Paul nicht nur kastriert, sondern auch
betrogen. Der Staat gibt ihn nicht frei. Es wird
Jahre dauern. Und so nimmt sich Paul die Freiheit,
die man ihm versprach.
ich bin in 10 Jahren 72
mal ausgebrochen.
Auf seinen Fluchten wildert er im Wald, er
nächtigt in Alphütten, schleicht sich in Ställe,
melkt die Kühe. Manchmal reisst Paul ohne Schuhe
an den Füssen aus, manchmal im Nachthemd. In den
Jahren seiner Internierung in Rheinau und
Regensdorf flieht er auch über die deutsche
Grenze. Er erreicht das 350 Kilometer entfernte
Biedershausen, Südpfalz, wo er Monate auf einem
Hof arbeitet. 72-mal wird Paul aufgegriffen,
rückgeführt.
Er ist der Ausbrecherkönig. Die Mitinsassen
nennen ihn auch: den Indianer. Die Entfernung der
Hoden, die das männliche Sexualhormon Testosteron
produzieren, führt beim Kastrierten zwar zum
Verlust der Erektionsfähigkeit. Es ist aber ein
Irrglaube – dies hat die Forschung mittlerweile
erkannt –, dass die Kastration den Sexualtrieb
stoppt oder die Persönlichkeit günstig verändert.
Die Aggressionsbereitschaft beeinflussen im Gehirn
produzierte Stoffe, vorab die Substanzen Dopamin
und Serotonin, die durch eine Kastration nicht
beeinflusst werden. Sinn machte die Kastration nur
im Weltbild eines Rassenhygienikers: wenn unwerten
Subjekten die Reproduktion verunmöglicht werden
soll.
1958, Jahre nach der Entmannung und dem
Freiheitsversprechen, entlässt die Strafanstalt
Regensdorf den Gefangenen Paul Schlumpf.
Einer, der sein halbes Leben angekettet,
eingesperrt war, will sich nicht selber binden –
Paul vagabundiert. Er verschafft sich wieder mit
den Händen Respekt. Aber nicht mit Dreinschlagen.
Mit Zupacken. Tierwärter beim Circus Knie in
Rapperswil. Magaziner in Zürich. Rinderhirte im
Berner Oberland. Senn in den Glarner Alpen. Mineur
in Sedrun. Dazwischen Verhaftungen – wegen
Landstreicherei, liderlichen
Lebenswandels.
darf der mensch nicht umhergehen
wie er will? wenn er frei ist? muss er das ganze
leben am gleichen ort sein? darf er nicht
verdienen, wenn er gearbeitet hat?
Es ist die Frage seines Lebens – die Antwort
heisst Gefängnis: mal einige Tage, mal einige
Monate. Derweil zerschneidet die Schweiz ihre
Landschaften mit Autobahnen, pflastert sie zu mit
Einfamilienhäuschen, in denen in Kleinhaushalte
eingepferchte Menschen sich Staubsauger und
Fernseher anschaffen und auf eine
300-Liter-Tiefkühltruhe hinsparen.
Paul haust einen Winter lang auf einer
Müllhalde bei Bellinzona. Er, der wie Müll
behandelt worden ist. Er lebt unter Ratten und von
Abfällen.
die menschen hatten küchenresten,
brot, teigwahren, kerzen, schokoladen, eisenbahnen
und alle spielsachen, die man sich denken kann,
weggeworfen. und ich hatte mir vorgenommen am
weihnachtsfest keine ratten zu töten, da sie ja
auch leben wollten.
Paul sucht die Tiere und meidet die Menschen.
Von Ende der Sechzigerjahre an lebt er meistens im
Tessin, als Senn, als Knecht. Paul Schlumpf gibt
sich einen neuen Namen, der letzte
Ausbruchversuch: der aus seiner Vergangenheit.
Pauls zweites Leben beginnt als Paolo.
Paolo kauft sich einen Anhänger für sein Mofa,
den Sachs Caravelle. Darauf packt er «Bless» und
«Cicci», seine Appenzeller. Die drei fahren nach
Avignon, nach Arles: Pinienwälder, freier Himmel,
Strände, das Meer. ich fischte im meer, und ass
jeden gefangenen fisch, natürlich gebacken. Zur
spanischen Grenze, nach Alicante, Barcelona,
Malaga. Sechs Monate sind Schlumpf und die Hunde
unterwegs, nächtigen im Freien, unbehelligt von
der Polizei. immer dachte ich, entlich
vogelfrei.
Die Opfer von Zwangssterilisationen und
Zwangskastrationen tragen meist schwerer an den
seelischen als an den körperlichen Folgen der
ihnen zugefügten Gewalt. Jahrzehntelang als
minderwertig, blödsinnig, unwert abgestempelt,
verinnerlichen sie die Sichtweise der Täter. Die
spätere Verdrängung dieses Traumas ist für sie
nichts weniger als eine Überlebensfrage. Nur den
wenigsten gelingt der Schritt, vom Staat eine
Rücknahme der menschenverachtenden Klassifizierung
einzufordern.
In Magliaso, nahe Lugano, tippt Paolo 1975 die
Lebensgeschichte Von Paul Schlumpf in seine
Olympia-Reiseschreibmaschine. Einige Wochen zuvor
hat er sich bei einem Mofa-Unfall die linke Hand
gebrochen. Er kann bloss die rechte gebrauchen,
verzichtet mehrheitlich auf Grossbuchstaben.
Immer noch ein Vagabund, verschafft diese
Niederschrift zumindest Paolo Schlumpfs Seele eine
gewisse Ruhe.
Er beginnt wieder zu malen. Jetzt in Öl und auf
Leinwand: Bäche, Brücken, Fantasielandschaften mit
Vögeln, Tigern. Leuchttürme, die er in Spanien
sah. Von 1984 an lebt Paolo in Verdasio,
Centovalli. Die Steinhütte, in der er wohnt und
die Bilder entstehen, heisst: Casa dei Morti, Haus
der Toten. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich
mit Gartenarbeiten.
In Solduno wohnt Paolo Schlumpf nun seit bald
drei Jahren. Er mag die Tessiner, die Tessiner
mögen ihn. Manchmal sagt einer: «Paolo, bist doch
erst 77. Warum nimmst du nicht doch noch ein
Fraueli?»
Paolo sagt, er könne sich nicht ansehen, wie
Liebespaare sich küssen. Es sei ekelhaft. «Wäre
ich nicht kastriert worden, hätte auch ich ein
Auto, ein Kind, eine Frau.»
Paolo Schlumpf, der alte Mann, der keine
Vergangenheit haben mag, reist täglich mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln in die Zukunft, die
ihm bleibt. Er kauft sich eine Tageskarte, setzt
sich in den Bus. Er fährt ins Maggiatal, etwa nach
Cavergno, oder ins Onsernone-Tal nach Loco. Die
Hände, im Alter ledern, knöchern geworden, auf dem
Schoss gefaltet.
Es hält ihn kaum 24 Stunden in seiner Wohnung.
Er muss fort, in Bewegung sein. Abends bringt ihn
der Bus zurück zur Piazza Grande in Locarno. Paolo
steigt aus, wechselt ein paar Worte mit den
Drögelern, die sich hier festgesetzt haben.
Sie seien seine Freunde, sie grüssten ihn stets
mit einem: «Ciao, Paolo!» Viel freundlicher sei
niemand nie zu ihm gewesen. Ob als Paul oder
Paolo. «Alles Halunken, Gauner!» Dr. Auguste
Forel, 1878 bis 1898 Direktor der Klinik
Burghölzli, Begründer und Vaterfigur der
europäischen Eugenik, ist 1976 mit einem Porträt
auf der damals neuen Banknotenserie geehrt und
verewigt worden. Dem Verfechter von Kastrationen
und Sterilisationen kam der Platz auf dem höchsten
Geldschein zu: der Tausendernote.