Ein Bericht des Zürcher Sozialdepartements beleuchtet auf bedrückende Weise die rassenhygienisch begründeten Zwangsmassnahmen in Psychiatrie und Sozialwesen zwischen 1890 und 1970. Beschrieben wird auch der Fall des Schriftstellers Friedrich Glauser.
Der Psychiater Auguste Forel. Unter seiner Führung entwickelte sich die Anstalt Burghölzli in Zürich zu einer europäischen Hochburg der Eugenik.
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Zürich. Die 1905 im Kanton Glarus geborene Margarete G. arbeitete ab 14 Jahren in einer Textilfabrik und im Gastgewerbe. 21-jährig wurde sie von einem Unbekannten schwanger. Die Psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich stellte im Rahmen einer Beurteilung fest, sie sei nicht ehefähig. Das 1926 geborene Kind wurde zur Adoption freigegeben. Fünf Jahre später lieferte die Sanität Margarete, die nun hausierte, mit ihrem Freund in verzweifeltem Zustand beim Psychiater Charlot Strasser ab. Er wies die beiden in das Burghölzli ein, wo die Ärzte festhielten, die Frau mache einen «recht debilen, aber gutmütigen Eindruck», sei jedoch nicht psychotisch. Einen Monat nach ihrer Einweisung wurde sie ohne ihre Einwilligung sterilisiert. In einem späteren Aktenstück heisst es, sie sei 1931 «ohne ihr Wissen» sterilisiert worden. Die Geschichte ist nur ein Beispiel von zahlreichen, erschütternden Schicksalen in einer umfangreichen Studie über Zwangsmassnahmen im Zürcher Sozialwesen und in der Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Im Auftrag des Sozialdepartements durchforstete der Autor Thomas Huonker Aktenstösse und sichtete eintausend Fälle. Seine umfangreiche, eindrückliche Darstellung liest man mit wachsendem Entsetzen. Es geht um fast ein Jahrhundert, unter echter oder vorgegebener Hilfe, praktizierte «Versorgung» in Anstalten, um Kindswegnahmen, Eheverbote, um Zwangssterilisationen und Kastrationen. Das Burghölzli entwickelte sich ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter den Direktoren August Forel und Eugen Bleuler zur Vorreiterin in der Frage der Eugenik, der Rassenhygiene. «Es ist sehr wichtig, diese Kranken an der Fortpflanzung zu hindern», begründete der spätere Leiter Hans W. Maier die zwangsweise Sterilisation. Die Erkenntnis ist nicht neu, und doch erschreckend. Die Eugenik, die unter den Nazis in letzter Konsequenz zur Ermordung von Hunderttausenden führte, lebte als Lehre in den Kliniken bis in die siebziger Jahre weiter. Auch sozialdemokratischen Stadträten galt die professorale Autorität der Burghölzli-Psychiater als Leitlinie, wie Huonker schreibt. Der Bericht deckt ebenso eine dunkle Seite im «roten Zürich» der 30er und 40er Jahre auf.
Ohne gesetzliche Grundlage
Mit Ausnahme der Waadt kannte kein Kanton eine gesetzliche Grundlage für Zwangssterilisationen. Den Ärzten war bewusst, dass sie mit ihren Eingriffen den Straftatbestand der Körperverletzung übertraten. «Sie sicherten sich deshalb durch Absprachen mit Juristen der Exekutive wie der Judikative gegen Klagen ab», so Huonker. Mit der Drohung von langjähriger Einschliessung oder einem Eheverbot brachte man die Menschen dazu, sich sterilisieren zu lassen. Ergänzt mit Auszügen aus Akten und Selbstzeugnissen der Opfer beschreibt der Autor zahlreiche Einzelschicksale, die das ganze Grauen anschaulich machen. Aufgrund bisher unbekanntem Material beschreibt er ausführlich den Fall des Schriftstellers Friedrich Glauser, der während seiner 20-jährigen Odyssee durch Anstalten immer ein «Mündel» der Zürcher Amtsvormundschaft war, und das Schicksal von Albert Einsteins Sohn Eduard, den die Ärzte im Burghölzli mit Elektroschocks traktierten. Bisher unerfoscht war der so genannte Erkundigungsdienst des Stadtzürcher Fürsorgeamts. Eigens dafür angestellte «Informatoren» stellten ab 1910 über hunderttausend erhaltene Berichte zusammen, indem sie den Behörden auffälliges Verhalten meist von Angehörigen der Unterschicht rapportierten. Die Erkundigungsberichte wurden bis 1990, bis zum Auffliegen der Fichenaffäre, fortgeführt. Thomas Huonker vermutet, ähnliche Dienste habe es auch in anderen Städten gegeben.
Bundesgericht half mit
Ein Opfer war wiederum Margarete G., deren Leidensgeschichte mit der Zwangssterilisation nicht zu Ende war. 1942 liess sie sich scheiden und heiratete erneut. Erst jetzt erfuhren die Behörden von ihrer Eheschliesssung, worauf der Zürcher Stadtrat Klage auf Ehenichtigkeit erhob. Die Amtsvormundschaft forderte die Frau unter Drohungen auf, persönlich zu erscheinen und liess sie bespitzeln, wogegen sich Margarete G. brieflich mit klaren Worten zur Wehr setzte. Bezirks- und Obergericht erklärten die Ehe für nichtig und auferlegten dem Paar, das handgeschriebene Rekurse eingereicht hatte, die Verfahrenskosten. 1946 gelangten die beiden ans Bundesgericht, nun mit einem Anwalt. Der wies darauf hin, es sei nicht Gerichtspraxis, Sterilisierten die Ehe zu verweigern. Das Bundesgericht wies die Beschwerde mit zehn Zeilen ab, ohne auf die vom Anwalt klar als rechtswidrig bezeichnete Sterilisation einzugehen. Margaretes zweite Ehe blieb nichtig, was Folgen hatte, galt doch damals das Konkubinatsverbot.
Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, «Eugenik» und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. 208 S. Fr. 30.-
Erhältlich über das Sozialdepartement der Stadt Zürich (info@sd.stzh.ch).