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Unabhängige Expertenkommission

Schweiz – Zweiter Weltkrieg


 

 

Roma, Sinti und Jenische

 

Beiheft zum Bericht

Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus

 

 


Die Unabhängige Expertenkommission: Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) erhielt im Dezember 1996 vom Parlament den Auftrag, den Umfang und das Schicksal der infolge der national­sozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte historisch und rechtlich zu untersuchen. In seiner Ernennungsverfügung hat der Bundesrat das Mandat dahingehend präzisiert, dass auch die Bedeutung der Flüchtlingspolitik im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der Schweiz mit den Achsenmächten und den Alliierten geklärt werden müsse.

Die Forschung hatte Roma, Sinti und Jenische als Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik lange Zeit ausser Acht gelassen. In den letzten Jahren wurde jedoch vieles nachgeholt. Auf die Forschung zur Haltung der Schweiz im betreffenden Zeitraum trifft dies nicht zu, denn es liegen nur wenige Untersuchungen vor. Da jedoch die Vermutung nahe liegt, dass sowohl Roma und Sinti als auch Jenische in die Schweiz geflohen sind, oder dies zumindest versucht haben, hat die Kommission sich entschieden, verschiedene Aspekte dieser Forschungslücke zu klären und die Ergebnisse als Beiheft zum Bericht «Die Schweiz und die Flücht­linge zur Zeit des Nationalsozialismus» zu publizieren.

Nach Abschluss dieses Berichts ist Sybil Milton, Vizepräsidentin der UEK, am 16. Oktober 2000 in Washington D.C. gestorben; ihr Engagement für diesen Bericht stand in der Kontinuität ihrer Forschungen über das Schicksal und die Situation der Roma und Sinti während und nach der Zeit des Nationalsozialismus.

 

 

 

Mitglieder der Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz – Zweiter Weltkrieg

Jean-François Bergier (Präsident), Sybil Milton (Vizepräsidentin), Wladyslaw Bartoszewski, Saul Friedländer, Georg Kreis, Harold James, Jacques Picard, Jakob Tanner, Daniel Thürer

 

 

Herausgeber

Unabhängige Expertenkommission

Schweiz – Zweiter Weltkrieg

Postfach 259

3000 Bern 6

www.uek.ch

 

Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.): Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beiheft zum Bericht: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Verfasst von Thomas Huonker und Regula Ludi, unter Mitarbeit von Bernhard Schär, Bern 2000.

ISBN 3-908661-12-9

 

Sekretariat/Produktion

Estelle Blanc, Regina Mathis

Lektorat: Bettina Zeugin

Korrektorat: Silvio Scholer

 

Vertrieb

BBL/EDMZ, 3003 Bern

www.admin.ch/edmz

Art.-Nr. 201.282.5

12.00   1000   H-UEK 03-11-00

Unabhängige Expertenkommission

Schweiz – Zweiter Weltkrieg

 

 

 

 

Roma, Sinti und Jenische

Schweizerische Zigeunerpolitik
zur Zeit des Nationalsozialismus

 

Beiheft zum Bericht

Die Schweiz und die Flüchtlinge
zur Zeit des Nationalsozialismus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

AutorInnen

Thomas Huonker

Regula Ludi

 

 

Wissenschaftliche Mitarbeit

Bernhard Schär

 

 

Berichtsleitung

Sybil Milton

Jacques Picard

Jakob Tanner



Vorwort und Dank

Unter den Opfern, die unter der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu leiden hatten, ist neben Juden, Slawen, Behinderten, Homosexuellen sowie den politisch und religiös Verfolgten die Bevölkerungsgruppe der Roma, Sinti und Jenischen zu nennen.

Die hier präsentierte Darstellung berücksichtigt mit der Schweiz auch die grenzübergreifenden Vorgänge auf dem europäischen Kontinent. Die Studie stellt nur einen weiteren Schritt in den Bemühungen dar, die mit den Roma, Sinti und Jenischen verbundenen Fragen der Vergangenheit zu klären. Unerforschte, auf zahlreiche Archive und Registraturen verteilte Dokumente zu den hier angesprochenen Themen aufzufinden, zu sichten und zu verarbeiten, wird weiterhin Aufgabe der historischen Forschung bleiben. Insbesondere werden in Kantonen und Gemeinden liegende Akten, aber auch jene in ausländischen Archiven und Gedenkstätten das Bild ergänzen müssen.

Die Befunde der Kommission sind bei aller zum vornherein für dieses Teilprojekt gebotenen Ressourcenknappheit ergiebig genug, um einen Einblick in die Geschichte der Roma, Sinti und Jenischen zu geben. Die Kommission erteilte dafür Thomas Huonker ein Mandat, dessen Ergebnisse von Regula Ludi unter der Berichtsleitung von Jacques Picard weiter bearbeitet worden sind. Zum Gelingen dieser Arbeit haben in nicht geringem Masse eine Reihe von Institutionen und Personen im In- und Ausland beigetragen.

Die Kommission dankt insbesondere dem Kultur- und Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Sie weiss die Hilfe zu schätzen, welche das Personal der Bundesarchive in Bern und Berlin, der kantonalen Staatsarchive von Zürich, Bern, Aargau, St. Gallen und Freiburg, des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, des Generallandesarchivs Karlsruhe und des Staatsarchivs Freiburg im Breisgau sowie der National Archives in Washington ihrer Arbeit entgegenbrachte. Ebenfalls bedanken wir uns bei den Leitern der Archive, Museen und Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz, Dachau und Mauthausen. In unseren Dank schliessen wir ein die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, des Bundesamtes für Polizeiwesen und der Kantonspolizei Zürich, die uns Einblick in ihre Archive und Bibliotheken gaben. Eine Reihe von Einzelpersonen haben wertvolle Auskünfte erteilt und Verständnis für unsere Arbeit gezeigt: Eggert Blum, Hans Caprez, Grégoire Favet, Michele Galicia, Sergius Golowin, Heiko Haumann, Renata Huonker, Thomas D. Meier, Samuel Plattner, Bernhard Schaer, Henry Spira, Patrick Vogt, Rolf Wolfensberger.

Eindrücklich und wichtig waren die Gespräche mit Verfolgten des Faschismus, mit Opfern des Holocaust sowie mit ihren Nachkommen. Unter den Angehörigen der Roma, Sinti und Jenischen waren das in erster Linie Mitglieder der Familien Meinhard, Minster, Hartmann und Czory. Ein grosser Dank gilt Dr. Rajko Djuric, Dr. Jan Cibula, Robert Huber, May Bittel, Romed Mungenast, Venanz Nobel, Kemal Sadulov, Walter Wegmüller, Christina Kruck, Stefan Läderich, Stefan Heinichen. Insbesondere schliessen wir die Familien Burri-Mehr, Graff, Mehr und Gerzner in unseren Dank ein.


 


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung... 9

1.1   Kategorien und Terminologie   10

1.2   Forschungsstand 13

1.3   Quellenlage und methodische Fragen   16

2  Strukturen und Rahmenbedingungen: «Zigeunerpolitik» als ein wissenschaftlich-polizeilicher Komplex..... 23

2.1      Die wissenschaftlichen Grundlagen: Kriminalanthropologie, Eugenik
und Rassenhygiene  
25

2.1.1             Zwangssterilisation als eugenische und rassenhygienische Massnahme             29

2.1.2    Die Anfänge der «Zigeunerforschung» 31

2.2      Der schweizerische Bundesstaat und die nicht sesshafte Bevölkerung   33

2.2.1    Das Leupold-Verfahren: Internierung und Ausschaffung von ausländischen «Zigeunern»             35

2.2.2             Familienauflösung und Kindswegnahme: «Zigeunerpolitik» im Innern    37

2.3   Internationale Koordination der «Zigeunerpolitik»...... 39

2.4      FAZIT: Verschlossene Türen 43

3          Roma und Sinti unter dem Nationalsozialismus: Verfolgung und Vernichtung            45

3.1   Deutsche «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit   46

3.2   Diskriminierung und Ausgrenzung seit der nationalsozialistischen Machtübernahme..... 47

3.3   Zigeunerforschung im Nationalsozialismus: Genealogie als Vorstufe
zum Genozid  
49

3.4   Deportation und Genozid   52

3.5      Das Vermögen der Ermordeten. 55

4          Roma, Sinti und Jenische als Flüchtlinge 57

4.1      Wissen und Wahrnehmung   57

4.2   Vertreibung und Duldung         58

4.2.1             Grenzkonflikte als Folge der Vertreibung von Roma und Sinti 59

4.2.2    Die Wege der Familie M. in die Schweiz: Eine Fallgeschichte           61

4.3   Wegweisung von Roma- und Sinti-Flüchtlingen 67

4.3.1    Flucht, Wegweisung und Tod des Anton Reinhardt             69

4.4      Entzug und Verlust des Bürgerrechts   71

4.5      Fazit: Abwehr statt Asyl. 77

5 Ausblick: Kontinuitäten und Zäsuren........ 81

5.1   Einreiseverbot und Polizeikontrollen: Die Praxis in der Nachkriegszeit   82

5.2      Die Wende von 1972: Aufhebung der Grenzsperre 84

5.3      Auf dem Weg zum kulturellen Selbstbewusstsein: Fahrende, Forschung
und Öffentlichkeit in der Schweiz seit 1945  
85

6  Schlussbemerkungen            89

Quellen- und Literaturverzeichnis            91



1      Einleitung

Die Roma[1] haben, seit sie Ende des 14. Jahrhunderts erstmals in mitteleuropäischen Dokumenten aufgetaucht waren, eine wechselvolle Geschichte der Verfolgung und zeitweiligen Duldung, der Ausgrenzung und Zwangsassimilation erlebt. Doch von allem zuvor gegenüber dieser Minderheit begangenen Unrecht hebt sich der nationalsozialistische Genozid – in der Sprache der Roma Porrajmos bezeichnet – als singuläres Verbrechen ab, das wie die Ermordung der Juden darauf abzielte, die als «Zigeuner» klassifizierten Menschen auszurotten und ihnen jede weitere Existenzberechtigung abzusprechen.[2] Dieser Tatsache und der Fragen, die sich auch für Staaten stellen, die wie die Schweiz weder von NS-Deutschland besetzt waren noch mit den Nationalsozialisten kollaborierten, ist man sich freilich erst in den letzten Jahren bewusst geworden. In mancher Hinsicht betritt die UEK mit der vorliegenden Studie historiographisches Neuland, da die Politik der Schweiz gegenüber Roma, Sinti und Jenischen sowie gegenüber nicht sesshaft lebenden Bevölkerungsgruppen erst in Ansätzen, für die Untersuchungszeit 1933–1945 überhaupt nicht, erforscht ist.

Die Lage der Roma wird auch heute in der Öffentlichkeit nur marginal zur Kenntnis genommen. Roma, Sinti und Jenische haben sich seit den 1970er Jahren politisch organisiert und die Forderung erhoben, als ethnische Gruppen mit eigener Identität, Kultur, Sprache und Tradition anerkannt zu werden und rechtlichen Minderheitenschutz zu geniessen.[3] Doch vielerorts ist die politische Realität noch weit davon entfernt, diesen Anliegen gerecht zu werden. Staatliche Behörden tun sich schwer damit, Minderheitenrechte zu garantieren, die verheerenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung anzuerkennen oder Roma, Sinti und Jenische vor rassistischen Ausschreitungen zu schützen.[4] Statt dessen sorgen antiziganistische Stereotype, ausgrenzende und kriminalisierende Massnahmen für eine fast ungebrochene Kontinuität der direkten und indirekten Diskriminierung dieser Minderheit.[5] Infolge von ethnisch aufgeladenen Nationalitätenkonflikten hat sich die Lage der Roma in verschiedenen ost- und südosteuropäischen Staaten seit 1989 drastisch verschlechtert.[6]

Die vorliegende Untersuchung stellt die schweizerische «Zigeunerpolitik» und die Frage nach dem Schicksal der vor der Rassenverfolgung im NS-Machtbereich fliehenden «Zigeuner» ins Zentrum. Zunächst werden die Strukturen, Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der in den 1930er und 1940er Jahren praktizierten Politik kurz dargestellt. «Zigeunerpolitik» ist an der Schnittstelle von Fürsorge-, Kriminal- und Fremdenpolitik zu verorten. Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in diesen Politikbereichen dominierenden Denkstrukturen und Wahrnehmungsraster sind sehr wesentlich von den modernen Humanwissenschaften geprägt, die Deutungsangebote für soziale Probleme lieferten und zugleich die Beseitigung von Missständen mittels sozialpolitischer Interventionen in Aussicht stellten.

Gemäss Mandat der UEK bildeten Fragen zur Flüchtlingspolitik und zum Verbleib von Vermögenswerten von NS-Opfern den Kern der Untersuchung. Im Verlauf der Forschungsarbeit stellte sich heraus, dass es aufgrund des Forschungsstandes, der disparaten Quellenlage sowie methodischer Probleme nicht möglich sein würde, eine Überblicksdarstellung zur Asylgeschichte sowie zum Verbleib der Vermögenswerte von Roma, Sinti und Jenischen zu präsentieren.[7] Im Folgenden sollen aus diesem Grund methodische Überlegungen ausführlicher zur Sprache kommen. Aufgrund der verfügbaren Dokumente und der Forschungsprioritäten, wie sie durch das Mandat der Kommission vorgegeben sind, werden viele Fragen nicht abschliessend beantwortet. Dies bedeutet, dass weitere Forschungen zusätzliche Einsichten bringen könnten. So ist es auch Absicht dieser Studie, auf Forschungsdefizite und -desiderata aufmerksam zu machen.

1.1        Kategorien und Terminologie

Angehörige der kulturellen Minderheiten, die von der Mehrheitsgesellschaft – oft abschätzig – «Zigeuner» genannt werden, rechnen sich verschiedenen ethnischen Gruppen zu. Von den meisten wird Roma als gruppenübergreifende Bezeichnung verwendet. Roma[8] bedeutet «Menschen» und stammt aus der Sprache Romanes.[9] Die seit Jahrhunderten hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und Italien lebenden Roma bezeichnen sich als Sinti.[10] Weitere Gruppen der Roma, so Kalderari und Lowari, leben in verschiedenen Staaten und sprechen Romanes in verschiedenen Nuancen.[11]

Jenische nennen sich die in der Schweiz, Deutschland und Österreich lebenden Angehörigen fahrender oder sesshafter Lebensweise, die nicht Romanes sprechen.[12] Der Begriff «Jenisch» als Bezeichnung einer Mundart taucht in den Quellen selten auf, nicht zuletzt, weil Jenische lange eine mündliche Tradition gepflegt haben. Aus den spärlichen Quellen geht jedoch hervor, dass die Bezeichnung von einer sozial sehr heterogen zusammengesetzten Bevölkerungsgruppe mit fahrender und sesshafter Lebensweise sowie mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen benutzt worden ist.[13]

Zwischen der kulturellen Identität der Roma und der Aussensicht der Mehrheitsgesellschaft, die durch pejorative – oder auch romantisierende – Stereotype vom «Zigeuner» geprägt ist, besteht eine Diskrepanz, welche die historische Forschung vor methodische Schwierigkeiten stellt.[14] Der Quellenbegriff «Zigeuner» hat je nach Verwendungskontext und Epoche ganz unterschiedliche Bedeutungen. Als ethnographische bzw. anthropologische Kategorie basiert er seit dem späten 18. Jahrhundert auf der Vorstellung, dass die aus Indien stammenden Roma und Sinti einer eigenen «Rasse» angehörten, die sich nicht nur in ihrer Kultur markant von der Mehrheitsgesellschaft unterscheide, sondern auch in ihren Erbanlagen bestimmte Eigenschaften aufweise, die sie von der europäischen Bevölkerung abhebe.[15] Im 19. Jahrhundert war diese biologische Komponente von untergeordneter Bedeutung. Erst unter dem Einfluss der Humanwissenschaften wurde der Begriff zu einer rassischen Kategorie, welche die den «Zigeunern» zugeschriebenen Eigenschaften und die Charakteristika der fahrenden Kultur zu vererbbaren Rassenmerkmalen deklarierte. Die nationalsozialistische Rassenlehre ordnete «Zigeuner» den «artfremden Rassen» zu, die als «minderwertig», im Fall der Roma als «primitive», in ihrer evolutionären Entwicklung zurückgebliebene Menschen galten. Die Rassenforschung unterschied zudem zwischen den «rassenechten Zigeunern» und den «Zigeunermischlingen», wobei letzteren eine «asoziale» oder «kriminelle» Veranlagung zugeschrieben wurde.[16]

In der administrativen Praxis des frühen 20. Jahrhunderts dagegen dominierte ein soziographischer Zigeunerbegriff, dessen Kern kriminalpolitisch definiert war und der sich semantisch mit Bezeichnungen wie «Gauner», «Vaganten», «Vagabunden», «umherziehende Arbeitsscheue» überschnitt.[17] Diesen Bezeichnungen gemeinsam ist ihre abschätzige Bedeutung, die eine Gruppe von Menschen und deren Lebensweise als deviant stigmatisiert und mit Kriminalität assoziiert.[18] Die als ordnungswidrig unterdrückte, fahrende Lebensweise war denn auch ausschlaggebend für die Etikettierung einer Person als «zigeunerisch». Diese Zuschreibung deckte sich deshalb nicht zwangsläufig mit der kulturellen Zugehörigkeit der betreffenden Personen, da sie auch Anwendung auf mobile Bevölkerungsgruppen fand, die keinerlei Beziehungen zu Roma, Sinti oder Jenischen hatten.[19]

Der Begriff «Zigeuner» reflektiert folglich nicht nur einseitig die Behördensicht, sondern ist zudem Teil einer Verfolgungsgeschichte, die mit der bürokratischen Erfassung von Menschen aufgrund zugeschriebener Eigenschaften begann. Diese Zuordnung bildete die Voraussetzung für die Diskriminierung, sie lieferte die Grundlagen für die polizeiliche Verfolgung und Kriminalisierung von Roma und nicht sesshaften Menschen, und schliesslich stellte sie das Material zur Verfügung, mit welchem nationalsozialistische Rassenforscher seit Mitte der 1930er Jahre Menschen rassenbiologisch klassifizierten.[20] Diese Stigmatisierung der Roma wird in der neueren Literatur als Antiziganismus (frz. Antitsiganisme; engl. Antigypsism) bezeichnet. Der Begriff ist eine Neuschöpfung, die in den 1980er Jahren in Anlehnung an den Begriff Antisemitismus geprägt worden ist. Er hat als analytische Kategorie variable Bedeutungen und umfasst von den unreflektierten, im kulturellen Code der Mehrheitsgesellschaft verankerten Vorurteilen über «Zigeuner» bis hin zum eliminatorischen Rassismus die verschiedensten Formen der Ablehnung, des Hasses und der Diffamierung der Roma.[21]

Für die historische Forschung besteht ein wesentliches Problem schliesslich darin, dass die in behördlichen Dokumenten als «Zigeuner» bezeichneten Menschen selbst kaum Quellen hinterlassen haben, die ein Korrektiv zu den antiziganistischen Kategorien darstellen und eine Untersuchung zum Spannungsfeld zwischen der Selbstwahrnehmung der Roma und der Etikettierung von aussen erlauben würden. Ausserdem ist umstritten, ob die in den Quellen als «Zigeuner» oder «tsiganes» bezeichneten Menschen generell mit den Roma und Sinti identifiziert werden können, zumal der soziographische Zigeunerbegriff keine ethnische Kategorie darstellte.[22] Somit wirft auch die Verwendung der ethnischen Begriffe Roma, Sinti und Jenische in der historischen Forschung analytische Probleme auf. Wiewohl diese Terminologie der Selbstdefinition einer Mehrheit der betroffenen Menschen entstammt, können die in den Quellen erwähnten «Zigeuner» wegen der Kontingenz des Begriffs nicht vorbehaltlos mit dem Volk der Roma gleichgesetzt werden.[23] Um der Selbstwahrnehmung der Gruppe einerseits, den methodischen Problemen andererseits Rechnung zu tragen, werden im Folgenden beide Begriffe verwendet, wobei «Zigeuner» in Anführungszeichen gesetzt wird, um den Begriff als Zuschreibung von aussen, als behördlich definierte Kategorie, kenntlich zu machen.

1.2        Forschungsstand

Neben den Juden als zahlenmässig grösster Opferkategorie fielen dem systematischen Ausrottungsprogramm der Nationalsozialisten auch «Zigeuner» aus Deutschland und den besetzten Gebieten sowie Behinderte zum Opfer.[24] Die NS-Forschung hat den letzten beiden Opfergruppen allerdings lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.[25] Die gegen «Zigeuner» gerichteten Verfolgungsmassnahmen wurden auch in der Nachkriegszeit oft als legitime Formen der Verbrechensprävention eingestuft.[26] Roma und Sinti gehörten bis in die 1970er Jahre zu den vergessenen Opfern des Nationalsozialismus, die vergeblich einer öffentlichen Anerkennung des erlittenen Unrechts und der von vielen ökonomisch dringend benötigten Entschädigungszahlungen harrten.[27] In mancher Hinsicht hat die historische Forschung gar dazu beigetragen, dass die nationalsozialistische Stigmatisierung von Roma und Sinti als biologisch «minderwertige» «Asoziale» und «Kriminelle» in der Nachkriegszeit fortwirkte.[28] Denn sie schenkte der Tatsache, dass der nationalsozialistische Ausrottungswille sich gegen all jene richtete, welche ihres «artfremden Blutes» oder ihrer «erbbiologischen Minderwertigkeit» wegen als «lebensunwert» eingestuft wurden, lange wenig Beachtung.[29] Viele frühe Beiträge zum nationalsozialistischen Genozid an Roma und Sinti stammen deshalb von Autorinnen und Autoren, die ausserhalb der traditionellen akademischen Institutionen forschten, die sich oft selbst im Kampf gegen den Rassismus und für Minderheitenschutz engagierten, und die mit ihren historischen Arbeiten zur politischen Aufklärung beitrugen.[30] Diese Pionierleistungen sind erst im Verlauf der 1980er Jahre breiter rezipiert worden und haben seither zu einem erweiterten Verständnis des biologischen Ausrottungsprogramms der Nazis beigetragen.[31]

Wesentliche Impulse erhielt die akademische Forschung inner- und ausserhalb der Bundesrepublik von der Bürgerrechtsbewegung der Roma und Sinti.[32] Proteste des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma und Archivbesetzungen lösten einen Skandal um die nationalsozialistischen «Zigeunerakten» aus, die zuvor weiterhin von deutschen Kriminalpolizeistellen und anthropologischen Forschungsinstituten benutzt worden waren, und bewirkten, dass ein Teil der Bestände in öffentliche Archive überführt wurde. Das wachsende öffentliche Problembewusstsein hatte auch zur Folge, dass relevante Quellen in Deutschland der historischen Forschung zugänglich gemacht wurden.[33] So ist die nationalsozialistische «Zigeunerpolitik» in ihren verschiedenen Etappen bis zum Völkermord mittlerweile durch zahlreiche Einzeluntersuchungen und Überblicksdarstellungen gut aufgearbeitet.[34] In den letzten Jahren haben namentlich Gedenkstätten und Kulturbeauftragte in Deutschland zudem regionale Forschungsarbeiten initiiert, welche die länderspezifischen und kommunalen Verfolgungsmassnahmen untersuchen und deren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Roma und Sinti dokumentieren.[35] Auch zur Kontinuität von Verfolgung und Ausgrenzung der fahrenden Minderheit nach 1945 liegen inzwischen verschiedene neuere Untersuchungen vor.[36]

Die jüngere Forschung konzentriert sich zur Hauptsache auf die Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung von Roma und Sinti sowie auf die Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Zwangsläufig geraten dadurch vor allem die Täter ins Blickfeld, während die Opfer selbst Teil einer anonymen Masse von Objekten staatlicher Massnahmen bleiben.[37] Erst in den letzten Jahren haben Roma und Sinti Memoiren verfasst, die zur unerlässlichen Erweiterung der Forschungsperspektiven beitragen.[38] Grosse Kenntnislücken bestehen nach wie vor im Bereich der Sozialgeschichte. Neben vereinzelten Hinweisen in Lokalstudien und in Erinnerungen von Überlebenden existieren keine Darstellungen der Lebensverhältnisse, Bildungswege, Berufs- und Einkommensstruktur sowie der Lebensweise von Roma und Sinti vor und während der nationalsozialistischen Verfolgung. Diese Forschungslücken sind gerade im Hinblick auf die öffentliche Perzeption von Roma, Sinti und Jenischen besonders schmerzlich, da sie zur Aufrechterhaltung von Stereotypen beitragen und das Bild einer geschlossenen, homogenen Minderheit, die sich in ihrer Lebensweise von der Mehrheitsgesellschaft grundlegend unterscheide, zementieren.[39] Im Hinblick auf die vorliegende Studie wirken sich die Forschungsdefizite zu den Fragen von Flucht, Exil und Asyl als besonders gravierend aus. In Überblicksdarstellungen zu Flüchtlingsproblemen werden Roma und Sinti allenfalls am Rande erwähnt, wenn nicht völlig ausgeklammert.[40] Spezialuntersuchungen zur Situation von Roma und Sinti im NS-Machtbereich dagegen enthalten nur sehr spärliche Hinweise auf Fluchtversuche, wobei Fluchtrouten und Asylchancen überhaupt nicht behandelt werden.[41]

Mit einiger zeitlicher Verzögerung hat auch die schweizerische Geschichtswissenschaft ein Interesse an den nicht sesshaften Minderheiten entwickelt. Die Schwerpunkte der Forschung liegen jedoch zur Hauptsache auf der Frühen Neuzeit, auf der Politik von Bund und Kantonen gegenüber den heimatlosen Bevölkerungsgruppen und den ausländischen «Zigeunern» im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.[42] Einige jüngere Forschungsbeiträge befassen sich zudem mit den Kindswegnahmen durch das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute und mit der Geschichte der Jenischen.[43] Für den von dieser Studie zu behandelnden Zeitraum dagegen liegen keine Vorarbeiten vor. Die Historiographie zur schweizerischen Flüchtlingspolitik zeugt von mangelndem Problembewusstsein gegenüber einer Gruppe von Flüchtlingen, die kaum je als Opfer der Rassenverfolgung wahrgenommen worden sind.[44] Erst in jüngster Zeit weisen journalistische Recherchen auf diese blinden Flecken hin.[45]

1.3        Quellenlage und methodische Fragen

Die Quellenlage zur Geschichte von asylsuchenden Roma und Sinti und zur schweizerischen Flüchtlingspolitik gegenüber dieser Gruppe von NS-Opfern ist schlecht. Da vorwiegend Polizeibehörden mit der Praxis der «Zigeunerpolitik» befasst waren, sind die relevanten Akten – entsprechend der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen – in Kantonsarchiven zu suchen, wobei die Grundsätze der Archivierung und der Aufarbeitungs- und Inventarisierungsstand von Kanton zu Kanton stark variieren.[46] Weitere Gründe für die disparate Quellenlage liegen bei der Aufbewahrungspraxis der Verwaltung und bei den Prinzipien der Quellenproduktion. Wichtige Quellenbestände des Bundes sind nicht mehr auffindbar und wurden wahrscheinlich zu einem nicht mehr rekonstruierbaren Zeitpunkt und aus unbekannten Gründen zumindest teilweise vernichtet.[47] Exemplarisch dafür ist die 1911 eröffnete schweizerische Zigeunerregistratur, die erkennungsdienstliche Akten zu den von der Polizei erfassten «Zigeunern» enthielt und in enger Zusammenarbeit mit Kantonspolizei­behörden und Polizeistellen des Auslandes fortlaufend ergänzt wurde. Auf die Existenz und Verwendung dieser Registratur verweisen die Akten der Bundesbehörden sowie die Korrespondenz zwischen Bund und Kantonen.[48] Zudem enthalten Personendossiers von «Zigeunern» zuweilen die Doppel von Personalbögen der Registratur. Die Zigeunerregistratur selbst dagegen konnte nicht aufgefunden werden.

Asylpolitisch relevante Dossiers liegen zudem weder zu Roma, Sinti noch Jenischen vor. Für die Praxis an der Grenze war die Kategorie «Zigeuner» offensichtlich evident und bedurfte keiner weiteren Erklärung, wurden doch «Zigeuner» in Grenzschutzakten der 1930er Jahre oft in einem Atemzug mit Bettlern und «Vagabunden» als «unerwünschte» Ausländer bezeichnet, existierten aber nicht als amtliche Flüchtlingskategorie.[49] Entsprechende Hinweise sind in den Quellen jedoch selten zu finden. Dokumente – wie eine Notiz vom Herbst 1944, welche die Ausschaffung von fünf als «Tziganes réfugiés» Bezeichneten vermerkt – sind sehr rar.[50] Für die Forschung stellt sich somit die Frage, ob der angesprochene Quellenmangel ein Indiz dafür ist, dass Roma und Sinti nur vereinzelt in der Schweiz Asyl gesucht haben, oder ob viele nicht der Kategorie «Zigeuner» zugeordnet wurden und deshalb in der Masse der nicht näher identifizierbaren Ausländerinnen und Ausländer untergingen.

Die Suche nach flüchtlingspolitisch relevanten Quellen zu Roma, Sinti und Jenischen stösst folglich auf erhebliche methodische Probleme, zumal auch ein Teil der Flüchtlingsakten nicht mehr vorhanden ist.[51] Dies zeigt auch der Versuch, in der rund 45 000 Namen umfassenden Flüchtlingsdatenbank Roma, Sinti und Jenische ausfindig zu machen. Da eine Flüchtlingskategorie «Zigeuner» nicht existierte, fehlen auch entsprechende Vermerke, die Aufschluss über die Identität oder den Verfolgungsgrund geben könnten. Überdies unterscheiden sich Roma, Sinti und Jenische weder durch ihre Religion noch aufgrund ihrer Familiennamen von anderen, nicht jüdischen Flüchtlingen.[52] Roma- und Sinti-Flüchtlinge sind in den schweizerischen Quellen folglich fast ausschliesslich über die deutschen «Zigeunerakten» zu identifizieren. Beispielsweise lassen sich die Einträge der Flüchtlingsdatenbank des schweizerischen Bundesarchivs mit den Listen des «Hauptbuches Zigeunerlager» von Auschwitz-Birkenau vergleichen. Tatsächlich taucht eine ganze Reihe von Familiennamen deportierter Roma und Sinti auch in den Listen der in der Schweiz aufgenommenen Flüchtlinge auf.[53] Dieser Befund lässt auf den ersten Blick die Schlussfolgerung zu, zahlreichen «Zigeunern» sei die Flucht in die Schweiz gelungen. Dieses Ergebnis wird allerdings durch die weiteren Quellen nicht bestätigt. Lediglich in zwei von dreissig als Stichprobe ausgewerteten Dossiers zu Flüchtlingen, deren Familiennamen im «Hauptbuch Zigeunerlager» von Auschwitz erscheinen, sind Hinweise auf eine allfällige Zugehörigkeit des betreffenden Flüchtlings zu den Sinti oder Roma enthalten. In einem Fall decken sich solche Indizien allerdings lediglich mit gängigen Stereotypen über die Lebensweise der «Zigeuner»: Die deutsche Katholikin Hildegard H. wurde als uneheliches Kind geboren und war selbst Mutter eines unehelichen Kindes. Sie hatte mit dem Vater ihres Kindes in einem Zirkuswagen gelebt, bevor sie im Herbst 1941 in die Schweiz floh, weil sie die Einweisung in ein Arbeitslager befürchtete.[54] Zivilstand und Lebensweise von Hildegard H. könnten dafür sprechen, dass sie als «Zigeunerin» verfolgt war: Viele Roma und Sinti lebten mit ihren Lebenspartnern im Konkubinat, und ihre Kinder waren deshalb in den Zivilstandsregistern als unehelich registriert. Die Wohnung in einem Zirkuswagen könnte ferner ein Indiz dafür sein, dass Hildegard H. zu einer Gruppe ursprünglich Fahrender gehörte, die durch den Festsetzungserlass 1939 zur Sesshaftigkeit gezwungen worden waren.[55] Sie allein aufgrund solcher Kriterien als «Zigeunerin» zu betrachten, hiesse jedoch, soziale Stereotype zu reproduzieren, von einigen Hinweisen auf eine Lebensform zu schliessen und von dieser eine Gruppenzugehörigkeit abzuleiten.

Ähnliche methodische Probleme, die zudem auch ein Licht auf mögliche Friktionen zwischen Selbstwahrnehmung und Aussensicht werfen, sind am folgenden Fallbeispiel erkennbar: Am 10. Juli 1943 überschritt eine junge Familie mit einem neun Monate alten Kind die Schweizer Grenze. Die Eltern, Erna H. und Karl W., waren aus Deutschland geflohen, weil ihnen die Einweisung in ein Konzentrationslager drohte, falls sie sich weigern sollten, ihre Verbindung aufzulösen. Denn wegen der «nicht 100% deutschen Abstammung» von Karl W. war ihr Heiratsgesuch abgelehnt worden, und somit fiel ihre Beziehung unter den Tatbestand der «Rassenschande».[56]

Was bedeutete im Fall von Karl W. das Verdikt, nicht «100% deutscher Abstammung» zu sein? Aus den Akten geht dies nicht klar hervor. Zwar trug Karl W. einen für deutsche Sinti typischen Familiennamen. Er wurde als Staatenloser geboren und war Katholik. In einem selbst verfassten Lebenslauf von 1947 schrieb er jedoch, er sei in NS-Deutschland seiner «jüdischen Abstammung» wegen verfolgt worden.[57] Bis zu diesem Zeitpunkt liegen keine Hinweise darauf vor, dass W. sich jemals auf die Judenverfolgung als Fluchtgrund berufen hätte. Im Fragebogen der Polizeiabteilung, den er kurz nach seiner Einreise in die Schweiz ausgefüllt hatte, blieb die Frage nach der jüdischen Abstammung unbeantwortet. Später begründete er seine Weigerung, ins ehemalige Deutschland zurückzukehren, mit dem Unrecht, das er erlitten habe: als «Nichtarier» sei ihm 1939 ein Zwangsaufenthalt zugewiesen worden und 1943 sei er zur Zwangssterilisation aufgeboten worden.[58] Die beiden von ihm genannten Tatbestände koinzidieren mit Eckdaten der nationalsozialistischen Zigeunerverfolgung: Am 17. Oktober 1939 ordnete das Reichssicherheitshauptamt an, dass «Zigeuner und Zigeunermischlinge» ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen dürften, ab 1943 wurden die Zwangssterilisationen an «Zigeunermischlingen», die von der Deportation nach Auschwitz ausgenommen worden waren, forciert fortgesetzt.[59]

Anhand der widersprüchlichen Aussagen von Karl W. ist nicht klar zu bestimmen, ob dieser als jüdischer «Mischling» oder als «Zigeunermischling» verfolgt war. Weitere Quellen bestärken die Zweifel an seiner jüdischen Herkunft: Für die Heirat in der Schweiz legte Karl W. verschiedene Tauf- und Geburtsurkunden vor. Aus diesen geht hervor, dass sein Vater Katholik war, seine Mutter dagegen Protestantin. Beide Grosseltern väterlicherseits waren ebenfalls katholisch getauft, die Grossmutter mütterlicherseits Protestantin. Ungewiss ist lediglich die Religionszugehörigkeit des Grossvaters mütterlicherseits, dessen Vater – der Urgrossvater von Karl W. – jedoch ebenfalls Katholik war. Somit hätte allenfalls die Mutter des Grossvaters mütterlicherseits Jüdin sein können – und somit auch sein Grossvater, dessen Konfession nicht bekannt ist. Karl W. hätte unter diesen Umständen im Dritten Reich als ein privilegierter «Mischling 2. Grades» gegolten und die Ehe mit seiner «arischen» Verlobten eingehen können.[60] Plausibler erscheint unter diesen Voraussetzungen jedoch die Erklärung, dass W. als «Zigeunermischling» verfolgt war, zumal den Tauf- und Geburtsurkunden weiter zu entnehmen ist, dass einige seiner Verwandten Familiennamen hatten, die bei Sinti-Geschlechtern sehr verbreitet sind. Aus weiteren Angaben geht schliesslich hervor, dass Vorfahren von Karl W. vermutlich ein nicht sesshaftes Leben geführt und die unter Fahrenden verbreiteten Berufe Musiker und Schauspieler ausgeübt hatten.[61]

Hatte Karl W. tatsächlich Sinti unter seinen Vorfahren, so versuchte er dies vor den Schweizer Behörden mit allen Mitteln geheim zu halten – mit gutem Grund vermutlich, denn eine Identifikation als «Zigeuner» hätte seine Asylchancen geschmälert, und mit Erfolg, denn als Sesshafter mit einer soliden Berufsausbildung erfüllte er alle Kriterien einer bürgerlichen Biographie und entsprach nicht dem Stereotyp des «Zigeuners». Gleichwohl wirft die Interpretation der Fallgeschichte von Karl W. eine ganze Reihe von Fragen auf, die aufgrund der vorhandenen Quellen nicht schlüssig beantwortet werden können: Warum verwies Karl W. erst 1947 auf seine (angeblich) jüdische Abstammung und somit auf den Tatbestand der Rassenverfolgung? Wollte er – falls er tatsächlich jüdische Vorfahren hatte – durch die Verheimlichung der Fluchtgründe die Ausschaffung verhindern? Oder versuchte er vielmehr – weil er als «Zigeunermischling» verfolgt war –, der Tatsache Rassenverfolgung mehr Plausibilität zu verleihen, indem er die «jüdische Abstammung» als Chiffre benutzte, zumal «zigeunerische Abstammung» auch nach 1945 Anlass zu Diskriminierungen blieb?

Der einzige Weg, Karl W. als «Zigeunermischling» identifizieren zu können, wäre ein Rückgriff auf die erbbiologischen Gutachten der nationalsozialistischen Rassenforschung.[62] Durch dieses Vorgehen würde Karl W. jedoch wiederum die Identität zugeschrieben, der er womöglich entflohen war und derentwegen er eine Rückkehr ins ehemalige Deutschland verhindern wollte. Dieser Aspekt verweist schliesslich auf ein weiteres zentrales Problem der historischen Forschung: auf die einseitige Überlieferung, die durch die Quellenproduktion bedingt ist. In Quellen von Verwaltungsstellen, die sich mit «Zigeunern» befassten, überwiegt eine Perspektive, die von den – seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch zusehends wissenschaftlich untermauerten – negativen Stereotypen dominiert ist.[63] Dagegen stösst der Versuch, die Geschichte aus der Perspektive der Betroffenen zu analysieren, rasch an Grenzen, da Roma, deren Kultur auf der mündlichen Tradition beruht, kaum schriftliche Quellen hinterlassen haben. Ausserdem bringen viele Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung Befragungen und wissenschaftlichen Datenerhebungen ein begründetes Misstrauen entgegen, welches von der Erfahrung mit der Rassenforschung und mit Polizeistellen herrührt. Sie befürchten, dass ihre Aussagen erneut für Diskriminierungen missbraucht werden könnten. Schliesslich hindern kulturelle Tabus viele Roma und Sinti daran, über ihre Leiden in Konzentrationslagern und über die Ermordung von Angehörigen zu berichten.[64] Quellen, die als Korrektiv der einseitigen Überlieferung beigezogen werden könnten, fehlen für den hier relevanten Untersuchungszeitraum fast gänzlich.[65]

Die skizzierten methodischen Probleme, die disparate Quellenlage und die Forschungslücken stecken die Bedingungen ab, innerhalb welcher die im Folgenden präsentierten Forschungsergebnisse zustande gekommen sind: Die Grundzüge der offiziellen «Zigeunerpolitik» lassen sich aus amtlichen Dokumenten rekonstruieren, wobei allerdings gerade für die 1930er und 1940er Jahre die Quellenlage sehr dürftig ist. Die Analyse der behördlichen Praxis im Umgang mit Roma, Sinti und Jenischen dagegen setzt die Auswertung von Einzelfalldossiers der kantonalen und kommunalen Fürsorgestellen, Polizei- und Justizbehörden voraus. Dieses aufwendige Unterfangen konnte für diese Studie nur in beschränktem Rahmen geleistet werden. Zeitzeugengespräche schliesslich erweisen sich als sehr zeitaufwendig, da sie den Aufbau von Vertrauensbeziehungen zu einzelnen Interviewpartnern erfordern, die es traumatisierten Verfolgungsopfern erlauben, ohne Furcht vor Repressionen über ihre Leiden und ihre Erfahrungen zu sprechen. Zur Ergänzung und zur Korrektur der einseitigen Perspektive amtlicher Dokumente konnten jedoch hier auch Berichte von einzelnen Betroffenen beigezogen werden.


 

 


2      Strukturen und Rahmenbedingungen: «Zigeunerpolitik» als ein wissenschaftlich-polizeilicher Komplex

Michael Zimmermann charakterisiert mit dem Begriff «wissenschaftlich-polizeilicher Komplex» treffend die Kooperation zwischen der wissenschaftlichen Rassenforschung und den Polizeistellen bei der Vorbereitung einzelner Verfolgungsmassnahmen und bei der Selektion der Opfer des Völkermordes im Dritten Reich.[66] Die Ansätze dazu reichen ins späte 19. Jahrhundert zurück. Überdies ist diese Zusammenarbeit und deren Auswirkung für die Roma als Objekte von Forschung und Polizeitätigkeit in den Anfängen kein spezifisch deutsches Phänomen – erst der in industrielle Massentötungen umgesetzte Wille, eine ganze Bevölkerungsgruppe auszurotten und ihr jegliche biologische Existenzberechtigung abzusprechen, hebt die nationalsozialistische «Zigeunerverfolgung» von allen früheren Repressalien gegen die Roma ab. Im Hinblick auf den staatlichen Umgang mit den Fahrenden und hinsichtlich der Prämissen der wissenschaftlichen Forschung sowie des Einflusses der Wissenschaft auf die Entwicklung politischer Massnahmen bestanden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch vielerorts Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten. Die einzelnen Aspekte der Entwicklung wissenschaftlich-polizeilicher Komplexe sollen hier deshalb nicht isoliert und auf einzelne Staaten beschränkt, sondern in einem grösseren Kontext betrachtet werden.

Die Neugestaltung Europas am Ende des Ersten Weltkrieges hatte eine Reihe von einschneidenden demografischen, sozialen und politischen Entwicklungen zur Folge, die zu massiven Bevölkerungsverschiebungen führten. Auf den Zerfall der k.u.k. Monarchie und des osmanischen Reiches folgte ein forcierter Nationalstaatenbildungsprozess in Osteuropa und auf dem Balkan. Folgewirkung der Bildung neuer Nationalstaaten war die Entstehung grosser nationaler Minderheiten sowie deren gezielte Vertreibung. Die dadurch verursachten Konflikte, beispielsweise der Völkermord an den Armeniern, lösten Massenfluchtbewegungen in zuvor unbekanntem Ausmass aus. Zur gleichen Zeit verschärften die traditionellen Einwanderungsländer ihre Immigrationsgesetze und gingen über zu einer Politik der Zulassungsbeschränkungen, die von ökonomischen und zum Teil von rassistischen Kriterien bestimmt war. Ausserdem wurden die während des Ersten Weltkrieges eingeführten Einschränkungen des freien Personenverkehrs – der Pass- und Visumszwang, die Grenz- und Inlandkontrollen – von den meisten Staaten auch nach Kriegsende beibehalten.[67]

Von diesen Entwicklungen besonders hart betroffen waren jene Minderheiten, die nie eine staatliche Vertretung besessen oder ihre Staatszugehörigkeit verloren hatten. Die Staatenlosen, deren Zahl in der Zwischenkriegszeit rasch anwuchs, waren in jeder Hinsicht rechtlos, da sie weder den Schutz durch internationale Vereinbarungen genossen, noch einen Heimatstaat hatten, der ihre Rechte geschützt und sie als Vertriebene oder Flüchtlinge aufgenommen hätte.[68] Wie Juden oder Armenier hatten zu diesem Zeitpunkt auch Roma keine übernational anerkannte Vertretung, die sich für ihre Rechte wirksam hätte einsetzen können.[69] Die wenigen Versuche von Roma, eine internationale Interessenvertretung zu gründen, zeitigten keine Früchte.[70] Roma fielen auch aus dem Rahmen der flüchtlingspolitischen Tätigkeit des Völkerbundes.[71] Es existierten, von einer Ausnahme abgesehen, keine internationalen Organisationen oder Vereinigungen, die sich der Probleme der Roma angenommen hätten. Diese Ausnahme war die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK), die sich mit «Zigeunern» jedoch ausschliesslich in einer kriminalpolitischen Perspektive befasste und deren Tätigkeit im Hinblick auf die Flüchtlingsproblematik der Roma deshalb fatale Folgen hatte.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Roma jenen Minderheiten angehörten, die der Politik der ethnischen Homogenisierung in den neuen Nationalstaaten besonders schutzlos ausgeliefert waren und deshalb schon in der Zwischenkriegszeit zu den Opfern der Vertreibungen gehörten.[72] Restriktive Einreisebestimmungen schränkten jedoch die Migration von Fahrenden ein und erschwerten ihnen die Existenzsicherung. Die nach aussen gerichtete Abwehrpolitik vieler Staaten fand im innenpolitischen Bereich ihr Korrelat in einer an der Schnittstelle von Fürsorge und Kriminalpolitik angesiedelten «Zigeunerpolitik».

Charakteristisch für die Fürsorge des bürgerlichen Staates war die Ambivalenz von Hilfe und Repression, die Dialektik von Disziplinierung und Emanzipation. Orientiert am Ideal des bürgerlichen Mannes erhob die Sozialpolitik Sesshaftigkeit, geregelte Erwerbsarbeit und eine spezifisch bürgerliche Triebkontrolle zur gesellschaftlichen Norm. Die Unterschichtskultur und insbesondere nicht sesshafte Lebensformen waren einem erheblichen Assimilationsdruck ausgesetzt. Dabei verband die Sozialpolitik ihre Ziele und Instrumente mit der Programmatik der modernen, auf die Verbrechensprävention ausgerichteten und eine kriminalitätsfreie Gesellschaft anstrebenden Kriminalpolitik. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zeichnete sich jedoch das Scheitern dieses sozialpolitischen Unternehmens ab – weder Elend und Armut noch Verbrechen und Devianz konnten beseitigt werden. Eine Reaktion auf das Versagen der liberalen Sozial- und Kriminalpolitik war das Konstrukt des «geborenen Verbrechers», mit andern Worten: eine Absage an das Individuum der Aufklärung, das durch Bildung und Selbstkontrolle den Weg in die Autonomie und in die Mündigkeit finden könnte.[73] In der Folge wurden nicht sesshafte Bevölkerungsgruppen, deren Zwangsassimilation gescheitert war, immer stärker zum Objekt der Polizeitätigkeit. In den Wahrnehmungsschemata der Polizeibehörden dominierten kriminalpolitische Raster, nach welchen Fahrende allein ihrer schwer kontrollierbaren Lebensweise wegen suspekt waren. Infolge der zunehmenden Regelungsdichte und verstärkter Polizeikontrollen zeichneten sich Fahrende durch wachsende Strafregister aus, welche die fortschreitende Kriminalisierung ihrer Lebensform widerspiegelten.[74] Diese Strafregister wiederum schienen die Befunde der Kriminal­anthropologie zu bestätigen. Infolgedessen zogen gerade «Zigeuner» das Interesse jener Forschungsrichtungen auf sich, die am Nachweis der biologisch bedingten Veranlagung zur Devianz laborierten.[75] Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten Fürsorge, Polizei und Strafvollzug schliesslich die bevorzugten Interventionsbereiche für die zunehmend eugenisch und rassenhygienisch orientierten Humanwissenschaften.[76]

Als Rahmenbedingungen, die für das Verständnis der Geschichte der Roma, Sinti und Jenischen in der NS-Zeit unabdingbar sind, sollen einzelne Strukturelemente des wissenschaftlich-polizeilichen Komplexes der «Zigeunerpolitik» im Folgenden kurz charakterisiert werden.

2.1       Die wissenschaftlichen Grundlagen: Kriminalanthropologie, Eugenik und Rassenhygiene

Die medizinischen Humanwissenschaften – insbesondere die Psychiatrie – wurden für die Fürsorge und Kriminalpolitik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu Leitwissenschaften, die Wahrnehmungskategorien und Deutungsmuster für soziale Probleme der Zeit bereitstellten und Expertenwissen als Entscheidungsgrundlage für Justiz und Verwaltung anboten. Diesem Umstand trugen die Vorarbeiten zur Kodifikation des schweizerischen Zivil- und Strafrechts seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Rechnung, indem sie die psychiatrische Gutachtertätigkeit im Vormundschaftswesen, etwa bei der Ehefähigkeit oder zur Abklärung der Zurechnungsfähigkeit von Strafangeklagten, regelten.[77]

Die Entwicklung der Psychiatrie und ihres Wissensgegenstandes war seit den 1880er Jahren geprägt von Theorien, die sich auf biologische Paradigmen des Evolutionsprinzips und der Vererbungslehre stützten. Auch wenn diese Deutungsmuster durchaus ambivalent waren und ganz unterschiedliche sozialpolitische Handlungsweisen implizierten, basierten sie auf gemeinsamen Voraussetzungen: Der Mensch wurde als Teil der organischen Welt, als Produkt der biologischen Evolution betrachtet und deshalb als biologisch determiniertes Wesen begriffen. Die Evolution wurde dabei gemeinhin teleologisch, als positiv konnotierter Fortschritt verstanden, der in Richtung einer steten Perfektionierung aller Lebensformen tendiere. Gemäss sozialdarwinistischer Lehren geriet die biologische Entwicklung indessen in Konflikt mit sozialen Einrichtungen, welche die evolutionären Prinzipien der Auslese ausser Kraft setzten, was zu einer als unnatürlich verstandenen Vermehrung «minderwertig» veranlagter Individuen führe und damit den Fortschritt hemme. Schliesslich stützten sich die meisten Evolutionstheorien auf Erblehren, die postulierten, dass essentialistisch definierte Eigenschaften durch biologische Reproduktion von einer Generation an die nächste weitergegeben würden und die dem Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Individuen eine geringe Bedeutung beimassen.[78]

Die Übernahme dieser biologischen Paradigmen in der Anthropologie führte zur Klassifikation von Menschentypen entlang von Kategorien der sozialen Ordnung und Stratifikation: entlang von Geschlecht, Rasse, Klasse, entlang der Dichotomie Normal/ Abnorm (kriminell, pathologisch).[79] Diese Klassifikationen schufen Werthierarchien zwischen «biologisch höherwertigen» und «biologisch minderwertigen» Menschen. Damit lieferten sie – absichtlich oder nicht – naturwissenschaftlich verbürgte Legitimationsgrundlagen für politische Ausgrenzung und Diskriminierung, für Internierung und Massnahmenvollzug, für die Bekämpfung von abweichenden Lebensformen. Der Essentialismus biologisch begründeter Klassifikationen hatte zudem einen potentiell eliminatorischen Zug, insbesondere in Verbindung mit Degenerationstheorien, wie sie in der um 1900 aufkommenden Rassenhygiene verbreitet waren.

Soziale Relevanz erhielten biologisch begründete Gesellschaftstheorien im Rahmen des Sozialdarwinismus. Als Anwendungswissen konzipiert wurden sie unter anderem in der Kriminalanthropologie der italienischen positiven Schule. Deren Begründer Cesare Lombroso entwickelte das Konstrukt des «geborenen Verbrechers», der den Typus des «atavistischen Menschen» verkörpere, dessen persönliche Entwicklung in einem frühen Evolutionsstadium stehen geblieben sei.[80] Analog unterschieden Rassentheorien zwischen «wertvollen» und «minderwertigen» Rassen, wobei sich letztere laut verschiedenen Theorien ebenfalls durch atavistische Merkmale auszeichneten – etwa die «Zigeuner» durch einen «angeborenen Wandertrieb». Im Konstrukt des Atavismus verschmolzen Rassenlehre und Kriminalanthropologie zu einem Dispositiv der «gemeingefährlichen Minderwertigkeit» und des «unnützen» Menschen, das schon um die Jahrhundertwende für viele einen hohen Grad an Plausibilität aufwies und sukzessive zu einem zentralen Element der dominierenden Weltanschauung wurde.[81]

Strömungen innerhalb der Medizin und insbesondere der Psychiatrie gingen um 1900 enge Verbindungen mit der Eugenik bzw. der Rassenhygiene ein, welche die genannten biologischen Prinzipien aufgegriffen und in konkrete sozialpolitische Konzepte umgemünzt hatten. Die sozialpolitischen Massnahmenkataloge reichten von unbefristeter administrativer Internierung von Personen, die als «abnorm» oder «gemeingefährlich» qualifiziert wurden, bis zur eugenisch indizierten Sterilisation. Solche Rezepte stiessen international und im gesamten parteipolitischen Spektrum in der Zwischenkriegszeit auf breite Zustimmung.[82] Die Dichotomien Normal/Abnorm und Höherwertig/Minderwertig waren Grundstrukturen der vorherrschenden Weltanschauung.[83] Ein Mélange von naturwissenschaftlichen Hypothesen, bevölkerungspolitischen Visionen und Kostenargumenten fördert das folgende Zitat des Arztes und späteren Direktors der Psychiatrischen Klinik Burghölzli, Hans W. Maier, zu Tage:

«Durch vorsorgliche rassenhygienische Massnahmen [...] könnte man der durch das Überwuchern Minderwertiger drohenden Degeneration unserer Bevölkerung entgegenarbeiten. [...] Schon heute sind die Anforderungen an den Staat für Bau und Unterhalt aller möglicher Versorgungs- und Strafanstalten sehr drückend und immer noch wachsend. Wenn wir nicht lernen, diesen Lasten wenigstens für eine spätere Zukunft einen Damm zu setzen, so werden bei unsern Nachkommen die gesunden und lebenskräftigen, kulturtragenden Elemente notleiden unter den Lasten der Fürsorge für die Kranken und Elenden, Unbrauchbaren und Schädlichen.»[84]

Die eugenische Forschung, die auf der Grundannahme beruhte, dass menschliches Verhalten durch vererbbare biologische Faktoren determiniert sei, propagierte seit ihren Anfängen Massnahmenkataloge, die suggerierten, sozialpolitische Probleme liessen sich durch Eingriffe ins menschliche Erbgut lösen.[85] Einem medizinischen Forschungsinteresse an Erbkrankheiten standen bevölkerungswissenschaftliche Theorien gegenüber, die selektionistisch argumentierten. Als sozialtechnologisches Interventionswissen legitimierte die Wissenschaft somit Verwahrungsmassnahmen und gewaltsame medizinische Eingriffe gegenüber Menschen, die als biologisch «minderwertig» eingestuft wurden. Neben der Angst vor der «Degeneration», die von eugenisch orientierten Humanwissenschaftlern oft eindringlich und wortreich geschürt wurde, waren es denn auch häufig die Argumente der Kosteneinsparung, die bei Politikern und Fürsorgebehörden auf offene Ohren stiessen und deren Bereitschaft erhöhten, eugenische Massnahmen zu implementieren.

In der Schweiz wurde auf Bundesebene seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf eine zivil- und strafrechtliche Vereinheitlichung hingearbeitet. Im Bereich der Eugenik kam eine solche aber nur teilweise, nämlich mit der Inkraftsetzung des Zivilgesetzbuches (ZGB) im Jahre 1912 und den darin enthaltenen Eheverbotsartikeln (Art. 97) zustande. Um diesen staatlichen Zugriff auf die Ehe zu legitimieren, wurde in parlamentarischen Debatten und juristischen Gutachten öfters das Argument einer «Verbesserung der Rasse» oder einer «Ausmerze» von «sozial und geistig Minderwertigen [...] aus Rasse und Gesellschaft» vorgebracht. Insgesamt blieb die Argumentation jedoch disparat; neben jenen Verfechtern eugenischer Massnahmen, die sich stark an die deutsche Rassenhygiene anlehnten, standen andere, welche berufsständische Interessen vertraten und denen es insbesondere darum ging, die Position der Psychiater auf Kosten jener der Juristen zu stärken. In diesen Diskursen dominierten insgesamt eher jene Vorstellungen, die bereits für die ältere Armenfürsorge handlungsleitend gewesen waren. Eine neue Untersuchung zur Entstehung des ZGB gelangt bezüglich der Eheverbotsartikel zum Resultat, «dass eugenische Argumente im Zusammenhang mit dem Eheverbot ‹missbraucht› wurden, um sozialpolitische und ökonomische Interessen durchzusetzen».[86]

Zum selben Zeitpunkt, in dem das ZGB eingeführt wurde, lässt sich in der Schweiz generell eine Integration psychiatrischer Modelle in die Fürsorge feststellen, wobei auch hier die Psychiatrie neue Begründungsmuster lieferte, mit denen die auf kommunaler und kantonaler Ebene gut etablierten Fürsorgeeinrichtungen ihre Existenz und Zielsetzung begründen konnten. Was die Wahrnehmung von «Fahrenden» betrifft, so ergab sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg allerdings ein markanter Wandel: wurden diese Gruppen noch in den 1880er Jahren als «Vaganten», d. h. als abnorme Nicht-Sesshafte in Absetzung zu einer normalen, sesshaften Lebensweise definiert, so wurden seit der Jahrhundertwende zunehmend Vererbungstheorien und erbbiologische Argumentationsmuster aktuell, die in den 10er Jahren mit Psychiatrisierungsstrategien kombiniert wurden. Der Zugriff auf die «Gefahrenherde» konnte damit von einem moralischen Diskurs auf eine wissenschaftliche Begründung umgeformt werden. Damit wurde die Gruppendefinition rigider und auch in der Schweiz, die damals in der physischen Anthropologie eine international beachtete Stellung einnahm, setzten sich rassistische Definitionen der Roma, Sinti und der Jenischen durch. Fortan spielte sich zwischen der Ausgrenzung des Fremden, Abweichenden und Bedrohlichen auf der einen Seite und den Homogenisierungsbestrebungen des Nationalstaates auf der anderen ein enger Zusammenhang ein. Die Grenzschliessung für «Nomaden» ist ein signifikanter Ausdruck dieser Haltung. Hingegen gelang es innerhalb der Schweiz nicht, die Jenischen mit eugenischen Massnahmen «auszumerzen» – wie dies genannt wurde. Auch in der Schweiz wurden Zwangsmassnahmen wie Sterilisationen, Heiratsverhinderung und dauernde Versorgung gegenüber Roma, Sinti und Jenischen praktiziert. Für die Durchsetzung solcher Massnahmen gab es jedoch keine Gesetze, die sich spezifisch gegen diese kulturellen Minderheiten richteten. 1926 wurde mit dem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» deshalb versucht, mit systematischen Kindswegnahmen gegen die Jenischen vorzugehen.[87]

2.1.1        Zwangssterilisation als eugenische und rassenhygienische Massnahme

Die radikalste Umsetzung fand die Eugenik in der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Zwecks «Aufartung» des «Volkskörpers» liessen deutsche Erbgesundheitsämter seit 1933, gestützt auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, Zehntausende von Behinderten, psychisch Kranken und als «asozial» Stigmatisierten unter Zwang sterilisieren.[88] Trotz ihres scheinlegalen Verfahrens waren die Sterilisationen eine brutale rassenhygienische Zwangsmassnahme, die ihre Radikalisierung ab 1939 im «Euthanasieprogramm», der Ermordung von Heimpatienten, Behinderten und unheilbar Kranken und in den grausamen Menschenexperimenten fanden, die in verschiedenen Konzentrationslagern mit dem Ziel durchgeführt wurden, ein billiges Verfahren zur Massensterilisation zu entwickeln.[89]

Sinti und Roma wurden sehr häufig Opfer der deutschen Sterilisationspolitik. In einem pseudolegalen Verfahren wurden viele als «Zigeuner» oder «Zigeunermischlinge» eingestufte Männer und Frauen in den 30er Jahren aufgrund der Diagnose «Schwachsinn» zwangssterilisiert.[90] Die Diagnose der Gutachten stigmatisierte die betroffenen Personen zusätzlich als «asozial» und designierte sie damit zu potentiellen Opfern von Razzien auf angeblich «Gemeinschädliche».[91] Es gab für die Betroffenen kaum Möglichkeiten, sich einem Eingriff zu entziehen. Einzig jüngeren Roma und Sinti, die mit der fahrenden Lebensweise noch vertraut waren, gelang bisweilen die Flucht.[92] Ab 1943 wurden die Sterilisationen vor allem gegenüber den «angepassten Mischlingen», die vor der Deportation nach Auschwitz verschont geblieben waren, forciert durchgeführt.[93] Ausserdem fielen Roma, insbesondere Frauen, in Konzentrationslagern den zahllosen Sterilisationsexperimenten zum Opfer.[94]

Sterilisationsgesetze existierten freilich auch in anderen Staaten, wobei sie häufig eher eine Einschränkung der Praxis bewirkten, als dieser neue Wirkungsfelder zu eröffnen. Zur Anwendung gelangten eugenische Massnahmen indessen vielerorts ohne gesetzliche Grundlage.[95] Die nationalsozialistische Sterilisationspolitik der Vorkriegszeit dagegen stiess weit über die Kreise der eugenischen Forschung hinaus auf Zustimmung und Lob.[96] Hinweise auf solche mentalen Affinitäten zur Praxis nationalsozialistischer Rassenhygiene geben beispielsweise Reaktionen von einzelnen Schweizer Beamten, die sich mit Rechtshilfebegehren von Auslandschweizern befassten, denen im Dritten Reich eine Sterilisation drohte. Da Kantone und Gemeinden wenig Neigung zeigten, die betroffenen Personen aufzunehmen und zu unterstützen, rieten die diplomatischen Vertretungen den Schutzsuchenden, sich einem Eingriff nicht zu widersetzen. Die Ansicht, «die Sterilisation Anormaler [sei] nicht das dümmste, was im dritten Reich gemacht werde», war offenbar keine isolierte Meinung.[97] Im Fall eines Flüchtlings aus Deutschland, der unter anderem wegen der ihm drohenden Zwangssterilisation geflohen war, entschieden die Bundesbehörden, einer Ausschaffung stehe nichts entgegen, «weil die Sterilisation an sich unserem ordre public nicht widerspricht» und folglich auch kein Asylgrund sein könne.[98]

Was die rechtliche Regelung von Sterilisation und Kastration betrifft, so fand in der Schweiz keine Rechtsvereinheitlichung statt.[99] In vielen psychiatrischen Anstalten der Schweiz wurden – ausgehend von ersten Versuchen in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli schon in den 1880er Jahren – Sterilisationen vor allem an Frauen durchgeführt, die deutlich Zwangscharakter hatten. Eine Untersuchung, die sich vor allem auf die Zwischenkriegszeit konzentriert, zeigt, dass jene sozialpolitischen und ökonomischen Motive, die in skandinavischen Ländern im Vordergrund der Zwangssterilisationspolitik standen[100], auch für die Schweiz massgeblich waren. Sterilisation war primär eine «sozialdisziplinarische Massnahme» – und als solche traf sie in besonderem Masse jene Gruppen, die von der «normalen» Gesellschaft als problematisch betrachtet wurden; dazu gehörten in der Schweiz vor allem die Jenischen. Auch hier blieb die Eugenik stark bezogen auf ältere Zielsetzungen, die durch den vererbungstheoretischen Diskurs gleichsam «modernisiert» wurden.[101] Wie stark die Jenischen zum Opfer von Sterilisationsoperationen wurden, kann auf Grund des heutigen Forschungsstandes nicht gesagt werden.

Waren Zwangssterilisationen in NS-Deutschland nicht nur ein Mittel der rassischen «Aufartung des arischen Volkskörpers», sondern zunehmend auch Teil des rassistischen Vernichtungsprogramms gegen Juden, Roma und Sinti, so ist für andere Staaten erst ansatzweise erforscht, inwieweit eugenische Kriterien auch von rassistischen Kategorien durchdrungen waren.[102] Es bleibt weiterhin ein Desiderat der Forschung, anhand der Akten aus der Fürsorgepraxis zu überprüfen, ob Roma, Sinti, Jenische und andere als «zigeunerartig» definierte Personen in einem besonderen Ausmass von eugenisch indizierten Zwangsmassnahmen betroffen waren.[103]

2.1.2    Die Anfänge der «Zigeunerforschung»

Die Zigeunerforschung entwickelte sich als eigene ethnographische Disziplin im späten 18. Jahrhundert. Das 1783 erschienene Werk des Historikers Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, der erstmals die Ethnizität der Zigeuner postulierte, sowie Publikationen des 19. Jahrhunderts verliehen zahlreichen antiziganistischen Stereotypen die wissenschaftliche Weihe.[104] Im späten 19. Jahrhundert geriet die Tsiganologie zunehmend in den Bann anthropologischer und medizinischer Forschung, die auf der Basis eines biologistischen Determinismus’ Verhaltensweisen als erblich vorgegeben betrachtete und ihren Erkenntnis­zielen «Rasse» sowie «Rasseneigenschaften» als wissenschaftliche Kategorien zugrunde legte. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Zigeunerforschung hatte zudem die Kriminalanthropologie der Lombroso-Schule. Deren Kernaussagen über die angeborene Neigung zum Verbrechen schien sich im Hinblick auf die Roma und Sinti gleichsam tautologisch zu bestätigen: Durch diskriminierende Verbote mit sonderrechtlicher Wirkung in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt und in der Polizeipraxis als potentielle Verbrecher stigmatisiert, war für Fahrende das Risiko, einer Gesetzwidrigkeit überführt zu werden, besonders hoch. Das schlug sich in der Kriminalstatistik zu Buche. Wenn auch diese Daten letztlich bloss die Tätigkeit der Polizeibehörden widerspiegeln, untermauerten sie für die Kriminologen die Theorie der rassenspezifischen Neigung zur Kriminalität.[105] Solche Forschungstrends setzten sich in einem internationalen Kontext durch, zumal die Humanwissenschaftler einen regen Austausch pflegten und insbesondere die eugenisch orientierten Interventionswissenschaften sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts als einflussreiche, staatenübergreifende Bewegung formiert hatten.[106]

Kriminalanthropologie, Eugenik und Rassenhygiene zogen neue Grenzen zwischen Normal und Abnorm. Die Tendenz zur Pathologisierung von als «abnorm» stigmatisierten Verhaltenweisen erfasste nicht sesshaft lebende Personen in besonderem Ausmass. Auf «Fallgeschichten» von Roma, Sinti und Jenischen stützten sich Zigeunerforscher, die in Schweizer Kliniken ein Betätigungsfeld fanden und mit bereitwilligen Entgegenkommen der Fürsorge- und Polizeibehörden beim Aktenzugang rechnen konnten.[107] Der Bündner Psychiater Josef Jörger (1860–1933), einer der Begründer der psychiatrischen Erbtheorie, befasste sich als Direktor der Irrenanstalt Waldhaus intensiv mit den Jenischen und der Frage der Heredität der fahrenden Lebensweise. Er publizierte seit 1905 verschiedene Arbeiten zu jenischen Bündner Familien und begründete damit einen Strang der erbtheoretisch argumentierenden Zigeunerforschung, der die nationalsozialistische Zigeunerforschung massgeblich prägte.[108] Methodisch stützte sich Jörger auf Stammbäume und biographische Angaben zu Mitgliedern der von ihm untersuchten Familien, um «ein vom Urahn begründetes, vom Ahnen gehäuftes, unheilvolles Erbe von moralisch-ethischem Schwachsinn» nachzuweisen, das er für die Verhaltensweisen «Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche und Geistesstörung, Pauperismus» verantwortlich erklärte.[109] Jörger war in seiner Deutung der Familiengeschichten allerdings vorsichtiger als andere Ärztekollegen, die – wie der Schweizer Hans W. Maier – die von Jörger untersuchten Familien pauschal einer «Klasse von Verbrechern» zurechneten, oder gar die Sterilisierung der Familienmitglieder forderten.[110] Für den Zürcher Juristen Rudolf Waltisbühl schliesslich bestanden kaum mehr Zweifel, dass bei «den Landfahrern [...] die Vermutung der Vererbung von psychischer Minderwertigkeit und die Produktion entarteter Persönlichkeiten infolge von Keimverderbnis grössere Berechtigung haben als die Annahme, dass die latente Verwahrlosung durch schlechte Milieueinflüsse zustande gekommen sei». Er plädierte deshalb 1944 aus «eugenischer und kriminalpolitischer Hinsicht» für die Sterilisation «erbkranker Landfahrertypen».[111]

2.2       Der schweizerische Bundesstaat und die nicht sesshafte Bevölkerung

Die Verfolgung von Roma, Sinti, Jenischen und anderen nicht sesshaft lebenden Bevölkerungsgruppen reicht in den Beginn der Frühen Neuzeit zurück. Staatliche Obrigkeiten stellten in Verordnungen und Mandaten die Verfolgung von «Zigeunern» stets in einen Kontext mit der Verbrechensbekämpfung.[112] In vielen Territorien, so auch auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft, galten für Fahrende strafrechtliche und prozessuale Sonderbestimmungen, die allein der nicht sesshaften Lebensweise strafverschärfende Wirkung zusprachen.[113] Die verstärkte Kommunalisierung von Fürsorge und Armenpolizei im 19. Jahrhundert förderte die Entwicklung neuer Techniken der Kontrolle und Ausgrenzung der nicht sesshaften Population. Anstelle der Vertreibung trat zunehmend das Bestreben, Fahrende mittels Zwangsassimilation in die Gesellschaft der Sesshaften zu integrieren. Beispiel dafür ist die Heimatlosenpolitik der Schweiz: Auf der Grundlage des Heimatlosengesetzes von 1850 versuchte der Bund, heimatlosen Fahrenden, soweit sie schweizerische Abstammung nachweisen konnten, kommunale und kantonale Bürgerrechte zuzuweisen. Ausländische Fahrende dagegen wurden in ihre Herkunftsländer ausgeschafft. Die Einbürgerung sollte die verordnete Ansiedlung und die Zwangsassimilation der Fahrenden erleichtern. Diese wurden nun nicht länger von einem Kanton in den nächsten abgeschoben, sondern konnten zwangsweise an ihren Heimatort transportiert werden, der zur Aufnahme und Unterstützung seiner Bürger verpflichtet war.[114]

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts drängten einzelne Kantone auf die Einführung von Einreisebeschränkungen für fahrende Ausländer und liessen solche Bestimmungen auf ihrem Gebiete zum Teil auch vollziehen. Der Bund indessen hielt bis nach 1900 am Prinzip der Freizügigkeit fest. Ein grundlegender Wandel in der Politik gegenüber ausländischen Roma, Sinti und Jenischen setzte 1906 ein, als der Bundesrat – auf Initiative von Eduard Leupold, Adjunkt der Polizeiabteilung – eine Grenzsperre gegenüber Zigeunern erliess und deren Beförderung mit der Bahn und mit Dampfschiffen verbot.[115] Weitere Anregungen, die in dieser Zeit vom EJPD ausgingen, tendierten auf eine stärkere grenzübergreifende Koordination der «Zigeunerpolitik», die allerdings noch primär an der Sesshaftmachung orientiert war. Die von der Schweiz angeregten internationalen Absprachen scheiterten 1907 und 1910 jedoch an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der meisten Nachbars­territorien, die mit Ausnahme von Bayern an der Personenfreizügigkeit festhielten.[116]

Für die beschlossenen sowie weiter zu entwickelnden Massnahmen vor dem Ersten Weltkrieg war ein soziographischer Zigeunerbegriff massgeblich:

«Unter der Bezeichnung ‹Zigeuner› werden diejenigen nomadisierenden Personen verstanden, welche ohne festen Wohnsitz einzeln oder in Familien oder Banden gewohnheitsgemäss umherziehen und sich ihren Lebensunterhalt durch die Ausübung von Wandergewerben und Handel oder durch Bettel und auf andere ordnungswidrige Weise verschaffen, sofern nicht ihre Staatsangehörigkeit durch amtliche Ausweisschriften unzweifelhaft festgestellt ist.»[117]

Entscheidendes Kriterium für die Behandlung einer Person als «Zigeuner» war folglich deren Lebensweise. Die schweizerische Bundesanwaltschaft hielt im verwaltungsinternen Vernehmlassungsverfahren ausdrücklich fest, dass sich die geplanten Massnahmen nicht gegen «Abkömmlinge einer bestimmten Rasse oder sonst in ethnographischer oder kultureller Beziehung zusammengehörenden Personen», sondern gegen Menschen richteten, deren Lebensweise «mit den Normen des neuzeitigen geordneten Staatslebens» nicht im Einklang stünden.[118] Mit der Ablehnung eines ethnischen Begriffs markierten die Bundesbehörden allerdings weniger ihre Distanz zu den damals aufkommenden Rassenlehren, als dass sie sich an den Bedürfnissen der Polizeipraxis orientierten, für die in der Tat die ethnische Zugehörigkeit irrelevant war. Viel entscheidender war die Wahrnehmung der Fahrenden als «Gefahr für die innere Sicherheit», als Menschen, die durch ihre Lebensform «das Staatsgesetz gewohnheitsmässig brechen und sich ausserhalb die Gesellschaftsordnung stellen».[119] Die von ihnen laut Eduard Leupold für Staat und Gesellschaft ausgehende Bedrohung bestehe darin, dass sie «refraktär gegen jede bürgerliche Ordnung und staatliche Autorität» seien, «und zwar nicht nur theoretisch, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich mit der Tat».[120] Für die Polizeipraxis erhielten die Lebensweise und Kultur der Fahrenden somit gleichsam den Status eines kriminellen Straftatbestandes, der allerdings nirgends gesetzlich definiert war, sondern dessen Feststellung im Ermessen der für die Ausweisung zuständigen Behörden lag. Dieser Wandel in der offiziellen Haltung des Bundes gegenüber «Zigeunern» fand seinen Niederschlag in der 1911 eingeführten «Zigeunerregistratur» des EJPD, das erkennungsdienstliche Daten zu allen in der Schweiz aufgegriffenen Fahrenden erfassen sollte und so Roma, Sinti und Jenische mit nicht sesshafter Lebensweise zu (potentiellen) Kriminellen stempelte.[121] Ausdrückliches Ziel der Daten­erhebung war der grenzübergreifende Austausch mit analogen Institutionen, wie beispielsweise der «Zigeunerzentrale» in München.[122]

In der Schweiz war die nicht sesshafte Lebensweise ausschlaggebendes Kriterium für die Klassifikation von Menschen als «Zigeuner». Die Behörden ergriffen jedoch unterschiedliche Massnahmen gegen ausländische Fahrende, vorwiegend Roma und Sinti, die sie vom Schweizer Territorium fernzuhalten beabsichtigten, und gegen einheimische Fahrende, mehrheitlich Jenische, die zur Sesshaftigkeit umerzogen werden sollten.

2.2.1    Das Leupold-Verfahren: Internierung und Ausschaffung von ausländischen «Zigeunern»

In den folgenden Jahren legten Bund und Kantone gemeinsam die Leitlinien einer künftig zu befolgenden «Zigeunerpolitik» fest. Nach eingehenden verwaltungsinternen Abklärungen und gestützt auf wissenschaftliche Gutachten gelangte das EJPD zum Schluss, dass ausländische «Zigeuner» ihrer nicht sesshaften Lebensweise wegen eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellten und deshalb nach Art. 70 BV aus der Schweiz auszuweisen seien.[123] Eduard Leupold entwickelte in enger Zusammenarbeit mit kantonalen Polizeidirektoren ein Verfahren zur Registration und Internierung der nicht sesshaft lebenden Personengruppen.[124] Statt sie wie bisher von einem Kanton in den andern abzuschieben, wurden alle von der Polizei aufgegriffenen ausländischen «Zigeuner» ab 1913 interniert. Die Männer wurden, bis ein Entscheid über den weiteren Aufenthalt vorlag, in der bernischen Arbeitsanstalt Witzwil interniert, die Frauen und Kinder in kantonalen, oftmals von privaten karitativen Vereinigungen geführten Obdachlosenheimen untergebracht.[125] Im Anschluss an das «Identifikationsverfahren», bei dem die Polizeibehörden anthropometrische und daktyloskopische Daten für die «Zigeunerregistratur» erhoben, wurden die Familien zusammengeführt und über die Grenze gestellt. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden auf diese Weise insgesamt 144 Personen ausgeschafft.[126] Auch die ab 1914 vor Krieg und Vertreibung in die Schweiz fliehenden «Zigeuner» wurden interniert und abgeschoben.[127]

Mit dem Verfahren Leupolds zur Internierung, erkennungsdienstlichen Erfassung und Ausschaffung der ausländischen «Zigeuner» hatten Bund und Kantone ein Abwehrdispositiv entwickelt, das auch in den folgenden Jahren zur Anwendung kam. Der während des Ersten Weltkrieges eingeführte Visumszwang sowie eine verstärkte Grenzkontrolle erschwerten fahrenden Roma und Sinti, unbemerkt in die Schweiz einzureisen. Das polizeiliche Kontrollsystem funktionierte rasch und reibungslos, so dass selbst jene, welche die Grenze schwarz zu überqueren vermochten, bald verhaftet und wieder ausgeschafft wurden.[128] So organisierten die Polizeibehörden der Kantone Fribourg und Vaud im Sommer 1919 eine gemeinsame Fahndung nach «bandes de vanniers et romanichels qui pouvaient [sic] se trouver dans les cantons de Vaud et Fribourg» und tauschten mit der bayrischen «Zigeunerzentrale» in München erkennungsdienstliche Informationen über die bei der Razzia aufgegriffenen Fahrenden aus.[129]

Das vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz entwickelte und praktizierte Verfahren hatte in verschiedener Hinsicht Modellcharakter: Die Bundesbehörden stützten ihre Massnahmen auf wissenschaftliche Gutachten von internen und externen Experten. Sie konzedierten damit, dass der Begriff «Zigeuner» nicht selbstverständlich war, und attestierten der Wissenschaft einen massgeblichen Einfluss auf die Entwicklung von Polizeimassnahmen zur «Zigeunerbekämpfung».[130] Das schweizerische Verfahren übte sodann auch eine Ausstrahlung auf andere Staaten aus, die ebenfalls Einreiseverbote erliessen.[131] Die gegen «Zigeuner» gerichteten Sonderbestimmungen von 1913 erlangten schliesslich Vorbildcharakter für die spätere Praxis gegenüber «unerwünschten» Ausländern und reihten sich seit dem Ersten Weltkrieg in den Katalog der allgemeinen fremdenpolizeilichen Massnahmen des Bundes ein, wie sie insbesondere gegen staaten- und schriftenlose Ausländer sowie gegen «unerwünschte» Flüchtlinge zur Anwendung kamen.

Trotz der Überlieferungslücken gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass am Einreiseverbot für «Zigeuner» auch in den 1920er Jahren konsequent festgehalten wurde. Im Oktober 1932 stellte der Schweizer Delegierte an der Jahreskonferenz der Internationalen Kriminal­polizeilichen Kommission mit Befriedigung fest:

«Für die Schweiz ist die Frage anscheinend nicht sehr aktuell, da sie seit dem Krieg die Niederlassung von Zigeunern nicht mehr erlaubt, und bei Kriegsbeginn alle in der Schweiz damals anwesenden Zigeuner interniert wurden, resp. die Schweiz verlassen mussten.»[132]

1951 bestätigte ein Schreiben der Polizeiabteilung diesen Befund und hielt fest, «dass in der Schweiz keine Zigeuner im eigentlichen Sinne mehr leben».[133]

2.2.2        Familienauflösung und Kindswegnahme: «Zigeunerpolitik» im Innern

Die Abwehr der ausländischen «Zigeuner» – meist Roma und Sinti – fand ihre innenpolitischen Entsprechungen in der von Bund, Kantonen und Gemeinden gebilligten und geförderten Zwangsassimilation der schweizerischen Jenischen durch die Stiftung Pro Juventute. Diese gründete 1926 das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse».[134] Initiator und späterer Leiter des «Hilfswerkes» war Alfred Siegfried, ein promovierter Romanist.[135] Ziel der Organisation war die Abschaffung der nicht sesshaften Lebensweise auf dem Weg der Auflösung der

«grossen Vagantenfamilien, deren Glieder zu einem grossen Teil unstät und zuchtlos dem Wandertrieb frönen und als Kessler, Korber, Bettler oder Schlimmeres einen dunklen Fleck in unserm auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerlande bilden».[136]

Das «Hilfswerk» erblickte seine Aufgabe darin, sowohl fahrende als auch sesshafte jenische Familien auseinanderzureissen und die Kinder in Heimen, Anstalten und Pflegefamilien unterzubringen. Dabei stand nicht das Wohl des Kindes im Zentrum – wie die neueste Forschungsarbeit resümiert – vielmehr zielte die Tätigkeit des «Hilfswerkes» auf die «Unschädlichmachung» und Zerstörung der nicht sesshaften Lebensweise.[137] Mit seiner prominenten Trägerschaft fand das «Hilfswerk» in der Öffentlichkeit breite Unterstützung.[138] Es konnte sich auf die Kooperationsbereitschaft von Fürsorgestellen, Lehrern, Pfarrern und gemeinnützigen Organisationen stützen, zumal die Praxis der Kindswegnahme keineswegs neuartig war, sondern Teil der Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts bildete.[139] Ausserdem war der rechtliche Spielraum beträchtlich, wenn auch die gesetzlichen Bestimmungen des Vormundschaftsrechtes vom «Hilfswerk» und von Fürsorgestellen öfters sehr extensiv ausgelegt wurden und einzelne Massnahmen eindeutig als rechtswidrig zu beurteilen sind.[140]

Die genaue Zahl der Kinder, die seit 1926 von ihren Familien weggerissen wurden, ist nicht bekannt. Eine Aufstellung, die auf Angaben der Pro Juventute beruht, listet 619 Fälle auf.[141] Seine aktivste Phase hatte das «Hilfswerk» in den 30er und 40er Jahren, als sich phasenweise über 200 Kinder in seiner Obhut befanden. Siegfried sah sich auch bald mit einem Mangel an Pflegeeltern konfrontiert, und so gelangten immer mehr Kinder in Heime, psychiatrische Kliniken und Erziehungsanstalten. Die Aktivität des «Hilfswerkes» führte in vielen Fällen zur Stigmatisierung und Kriminalisierung der betroffenen Kinder. «Ein Grossteil der Opfer des ‹Hilfswerks› hat die Folgen nie überwunden, leidet an psychischen und physischen Schäden der zerstörten Kindheit und Jugend», lautet die traurige Bilanz einer kürzlich vom Bund in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Untersuchung.[142]

Das «Hilfswerk» musste erst 1973, nach einer 1972 erschienenen Artikelserie von Hans Caprez im «Schweizerischen Beobachter», unter dem Druck des öffentlichen Protestes seine Tätigkeit einstellen. In der Folge schlossen sich die Betroffenen in verschiedenen Organisationen zusammen, um Wiedergutmachung zu verlangen und die politischen Interessen der Jenischen zu vertreten.[143] In den letzten Jahren haben Bund und Kantone Verantwortung für das an Jenischen begangene Unrecht übernommen und auch ihre Bereitschaft zur Aufarbeitung der Geschichte signalisiert.[144]

Das Schweizer Parlament beschloss 1999 die Ratifizierung der UNO-Genozidkonvention vom 9. Dezember 1948, deren Artikel II e die «Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe», zu einem Tatbestand des Völkermords erklärt.

2.3        Internationale Koordination der «Zigeunerpolitik»

Nachdem die ersten – von der Schweiz ausgehenden – Anläufe zu einer internationalen Koordination der «Zigeunerpolitik» gescheitert waren, erwiesen sich die nach dem Ersten Weltkrieg angeregten Bestrebungen als weit erfolgreicher. Zum einen waren mittlerweile die meisten Staaten zu einer restriktiven Immigrationspolitik übergegangen und hielten das während des Krieges eingeführte Instrumentarium zur Kontrolle der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern aufrecht.[145] Die grossen Fluchtbewegungen und die wirtschaftliche Instabilität der Zwischenkriegszeit erhöhten die räumliche Mobilität grosser Bevölkerungsgruppen. Die Migration von mittellosen Menschen stiess auf ein erhöhtes behördliches Kontrollbedürfnis, auf Überfremdungsängste und auf Protektionismus in der Arbeitsmarktpolitik.[146] Die soziale Unsicherheit erhöhte die Bereitschaft der Staaten zur Kooperation in der Polizeiarbeit. Ein Forum des Informationsaustausches und der zwischenstaatlichen Koordination entstand in der 1923 auf Initiative von österreichischen und deutschen Polizeistellen in Wien gegründeten Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK). Der seit 1923 als Generalsekretär amtierende Österreicher Oskar Dressler stellte sich nach dem «Anschluss» Österreichs vorbehaltlos in den Dienst der neuen Machthaber, das Präsidium übernahm der von Heydrich zum Polizeichef von Wien ernannte österreichische Nationalsozialist Otto Steinhäusl.[147] Nach dessen Tod wurden der Hauptsitz und das Archiv der IKPK nach Berlin verlegt, und die Mitgliedstaaten wählten Reinhard Heydrich zum Nachfolger von Otto Steinhäusl.[148] Die Organisation nahm 1947 unter der Bezeichnung Interpol ihre Tätigkeit am neuen Hauptsitz Paris – heute Lyon – wieder auf.[149] Die Schweiz pflegte von Anbeginn enge Beziehungen zur IKPK, und Schweizer Delegierte nahmen seit Mitte der 1920er Jahre regelmässig an den Tagungen teil.[150]

Eine wesentliche Zielsetzung der IKPK war die Bekämpfung des «Internationalen Verbrechertums». Zu diesem Zweck wurde in Wien ein internationaler Fahndungsdienst aufgebaut zudem wurden grosse Registraturen angelegt. Die Erhebung von Datenmaterial und die Aktensammlung erfolgte seit der Gründung der Organisation nach rassistischen Kriterien.[151] So gelangte die «Bekämpfung der Zigeunerplage» schon früh auf die Traktandenliste. 1931 wurde eine Bestandesaufnahme der «Zigeunerpolitik» einzelner Staaten vorgenommen. Der Bundesrat vertrat in seinen Instruktionen an die Schweizer Delegation den Standpunkt, dass eine internationale Erfassung und Registration des «Zigeunerbestandes» zu begrüssen sei. Zudem erhoffte sich die Polizeiabteilung von der Koordination der Polizeitätigkeit eine intensivierte Assimilierung der fahrend lebenden Roma und Sinti:

«Jeder Staat sollte versuchen, die auf seinem Gebiet befindlichen Zigeuner nach und nach sesshaft zu machen und seinem Volkskörper einzugliedern.»[152]

Das schweizerische Anliegen fand an der Konferenz von 1931 jedoch keine Zustimmung. 1932 beschloss die in Rom tagende IKPK hingegen, zwecks Informationsaustauschs eine internationale «Zigeunerzentrale» in Wien zu gründen.[153] Dieser Entscheid wurde 1934 flankiert durch die Errichtung eines ständigen Ausschusses, der die Zentralstelle unterstützen und die «Frage der Bekämpfung des Zigeunerwesens» vertieft studieren sollte.[154] Somit waren zu Beginn der 1930er Jahre entscheidende Instrumente für die internationale Koordination der «Zigeunerpolitik» geschaffen. Diese Aktivität der IKPK hatte zur Folge, dass einzelne Staaten ihre Politik gegenüber Roma, Sinti und Fahrenden verschärften und eigene «Zigeunerregistraturen» einrichteten. Zudem wurden auch bilaterale Absprachen über die Behandlung ausländischer Roma und Sinti getroffen.[155]

Unter den Mitgliedstaaten der IKPK bestand in den 1930er Jahren Konsens über die Ziele der «Zigeunerpolitik». Alle Staaten bezweckten, ausländische Roma und Sinti von ihrem Territorium fernzuhalten bzw. zu vertreiben. Der durch die internationale Initiative verschärften Unterdrückung der nicht sesshaften Lebensweise sowie der fortschreitenden Stigmatisierung von Roma und Sinti als potentiell kriminelle Bevölkerungsgruppe widersetzte sich kein einziger Delegierter. So stiess auch das Referat des Karlsruher Ministerialrats Kurt Bader 1935 auf positives Echo. Bader berichtete über die seit der nationalsozialistischen Machtübernahme stattfindende Intensivierung der Polizeikontrollen gegenüber fahrenden Personengruppen. Bader unterlegte seinen Ausführungen vor dem internationalen Publikum rassische Kategorien und identifizierte Roma und Sinti schlechthin mit «Kriminellen»:

«Die Zigeuner sind, soweit sie reinblütig sind, eine Rasse besonderer Art, der der Wandertrieb blutsmässig innewohnt. Wird dieser Wandertrieb gewaltsam unterdrückt, dann muss mit dem Auftreten von Entartungserscheinungen gerechnet werden, die den Zigeuner erst recht zum kriminellen Menschen werden lassen. Es lässt sich beobachten, dass halbsesshaft gewordene oder sesshafte Zigeuner weit krimineller sind, als wandernde».[156]

Damit vollzog Bader den Bruch mit einer auf Assimilation und Sesshaftmachung ausgerichteten Zigeunerpolitik, gegen die seiner Ansicht nach gerade «rassenpolitische Gesichtspunkte» sprächen.[157]

Nach dem Anschluss Österreichs kam es zur für die Schweiz heiklen Angelegenheit einer möglichen IKPK-Sitzverlegung nach Lausanne oder Bern. Die polizeilichen Vertreter einiger demokratischer Staaten erwogen diesen Vorschlag, um die IKPK dem Einfluss der deutschen Behörden zu entziehen. Werner Müller hintertrieb dies jedoch rechtzeitig mit Unterstützung des EJPD. Denn dieses Anliegen stiess aus organisatorischen und finanziellen Gründen beim Departement auf Ablehnung. Die schweizerische Haltung kam so letztlich den deutschen Interessen, die IKPK unter Kontrolle zu halten, entgegen.[158]

Die IKPK billigte und würdigte 1935 die rassistischen und gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstossenden Repressionsmethoden des Nationalsozialismus.[159] Im gleichen Jahr beschlossen die Delegierten, eine internationale Zigeunerregistratur in Wien aufzubauen, die neben Fahndungsbildern und Fingerabdrücken auch genealogische Daten und Angaben zu den Beziehungsnetzen der erfassten Personen enthalten sollte.[160] Die Internationalisierung der erkennungsdienstlichen Datensammlung erlaubte nicht nur eine effizientere grenzüber­greifende Fahndung, sondern erleichterte auch die Abwehr von einreisenden Roma und Sinti an der Grenze. Die IKPK-Konferenz von 1935 in Kopenhagen bekräftigte die schon zuvor von allen Mitgliedstaaten ausländischen Roma und Sinti gegenüber befolgte Politik, die zu diesem Zeitpunkt eine neue, fatale Bedeutung erhielt, indem sie faktisch zu einer Politik der Flüchtlingsabwehr gegenüber den im NS-Machtbereich an Leib und Leben bedrohten Roma und Sinti wurde.

Die weitere Tätigkeit der IKPK im Bereich der Verfolgung von Roma und Sinti geht aus den greifbaren Quellen nicht hervor. Die Nationalsozialisten erhielten nach der Übernahme der IKPK-Leitung 1938 allerdings unbeschränkten Zugriff auf die internationale Zigeunerkartei. Ab 1940 befand sich die IKPK im Griff der SS, und auf der technischen, organisatorischen sowie personellen Ebene existierten enge Verbindungen zum Reichssicherheitshauptamt. Sämtliche Materialien der IKPK standen somit auch all jenen deutschen Stellen zur Verfügung, welche den Völkermord an Juden, Roma und Sinti planten, organisierten und koordinierten. Das RSHA benutzte die IKPK-Materialien zudem für die Fälschung von Pässen und Fremdwährungen für seine eigenen Zwecke.[161]

Den Beziehungen der Schweizer Polizeibehörden zur IKPK tat die nationalsozialistische Dominanz der IKPK, die spätestens 1940 augenfällig war, offensichtlich keinen Abbruch.[162] Werner Müller, der auch der zweite Mann des Schweizer Geheimdienstes unter Roger Masson war, blieb neben dem Reichskriminalamts-Direktor und Kommandant der SS-Einsatzgruppen B, Arthur Nebe, sowie Mussolinis Polizeichef Pizzuto Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift der IKPK, ebenso Mitglied des Verwaltungssausschusses und gemäss den Satzungen der IKPK zählte er als «ordentlicher Berichterstatter» zu den «Gehilfen des Präsidenten», SS-Gruppenführer Heydrich.[163] Infolge des Krieges wurde jedoch die für 1939 in Berlin geplante und von den nationalsozialistischen Machthabern als Propagandaanlass projektierte IKPK-Tagung abgesagt, so dass die Kontakte vor allem auf dem Korrespondenzweg gepflegt wurden.[164] Ausserdem besuchte Heinrich Rothmund, Chef der Polizeiabteilung des EJPD, anlässlich seiner Dienstreise im Herbst 1942 nach NS-Deutschland auch den IKPK-Sitz in Berlin, wurde dort vom Interimspräsidenten Arthur Nebe, Direktor des Reichskriminalamtes, empfangen und führte Gespräche mit diversen SS-Männern, die in der Vernichtungspolitik des Dritten Reiches eine aktive Rolle spielten.[165] Offensichtlich stellten die führenden Polizeibehörden der Schweiz keine Verbindung zwischen der nationalsozialistischen Aneignung der IKPK-Materialien und der Rassen­verfolgung her. Das kriminalpolitische Wahrnehmungsschema, das die Perzeption der «Zigeunerfrage» bestimmte, verstellte den Blick auf die rassistisch motivierten Verfolgungsmassnahmen.

2.4        Fazit: Verschlossene Türen

Die Entstehung eines wissenschaftlich-polizeilichen Komplexes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts determinierte die Situation von Roma, Sinti und Jenischen, die ab 1933 dem Zugriff der nationalsozialistischen Zigeunerverfolgung zu entkommen versuchten. Die restriktiven Einreisebestimmungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die international als Reaktion auf die Fluchtbewegung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wiederum verschärft wurden, schränkten die Mobilität von Fahrenden massiv ein und verbauten Flüchtlingen den Weg ins Asyl. Eugenische, kriminalanthropologische und rassenhygienische Beiträge der Humanwissenschaften gaben existierenden antiziganistischen Stereotypen den Anstrich, naturwissenschaftlich fundiert zu sein, und bekräftigten vor allem auch Polizeibehörden in ihrer Wahrnehmung, wonach die «zigeunerische» Lebensweise nicht nur einen Angriff auf die Rechtsordnung darstellte, sondern auch biologisch im Wesen der betreffenden Fahrenden verankert sei. Diese kriminalpolitische Perzeption rechtfertigte eine diskriminierende Behandlung der «Zigeuner», wie sie in der Schweiz und in andern Staaten bereits vor dem Ersten Weltkrieg implementiert worden war. Ihre mentale Affinität zur Rassenhygiene und Kriminalbiologie in NS-Deutschland verstellte den Blick auf den rassistischen Charakter der deutschen Zigeunerverfolgung ab 1933, weil die entsprechenden Massnahmen stets als legitime Form der Verbrechensprävention erschienen. Die IKPK schliesslich hatte mit ihren Anstrengungen zur internationalen Koordination der Datenerhebung und des Nachrichtendienstes im Bereich der «Zigeunerbekämpfung» die dominierenden polizeilichen Wahrnehmungsraster nochmals bekräftigt und den Nationalsozialisten ein Forum zur Verfügung gestellt, auf welchem sie internationale Anerkennung für die Radikalisierung der Verfolgung von Roma und Sinti fanden. Spätestens die Beschlüsse der IKPK-Konferenz in Kopenhagen hatten für Roma eine ähnlich fatale Bedeutung wie das Scheitern der Konferenz von Evian 1938 für die jüdischen Flüchtlinge: Sie verschlossen NS-Opfern die letzten Fluchtchancen.[166]


3      Roma und Sinti unter dem Nationalsozialismus: Verfolgung und Vernichtung

«Die nationalsozialistische Machtergreifung bedeutete für Sinti und Roma vorerst keine Zäsur im Sinne einer vom nationalsozialistischen Staat gezielt gegen sie gerichteten rassistischen Verfolgung.»[167] Bereits die in der späten Weimarer Zeit erlassenen Gesetzesbestimmungen trugen den Charakter diskriminierenden Sonderrechts, das im Widerspruch zu den Grundrechtsgarantien der Weimarer Verfassung stand.[168] Die Nationalsozialisten setzten zunächst die «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit fort. Diese Tatsache verstellte in der Nachkriegszeit lange den Blick auf den eliminatorischen Charakter der Verfolgung – eine Tendenz, die durch die Bereitschaft vieler deutscher Amtsstellen, in den späten 1940er Jahren an die «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit anzuschliessen und nicht zuletzt auch durch die ungebrochene personelle Kontinuität bei den zuständigen Behörden verstärkt wurde.[169] Eine künstliche Trennlinie zwischen den – lange als legitim erachteten – nationalsozialistischen Massnahmen unter dem Vorzeichen der «Verbrechensprävention» und der ausschliesslich rassistisch motivierten Vernichtungspolitik würde indes den wahren Charakter der Verfolgung verkennen, denn die kriminalbiologisch begründeten Massnahmen standen unter dem Einfluss von Rassenlehren und bereits der Zigeunerbegriff der Weimarerzeit weist eindeutig rassistische Komponenten auf.[170]

Die Radikalisierung der Verfolgung von Roma und Sinti erfolgte in NS-Deutschland 1935/36 mit der zivilrechtlichen Diskriminierung der «Zigeuner» als Folge der «Nürnberger Rassegesetze», mit der Errichtung von kommunalen «Zigeunerlagern» und mit dem Entzug der politischen Rechte 1936. Eine weitere Phase der Eskalation setzte 1938 ein, als Roma und Sinti in grosser Zahl, als «asozial» stigmatisiert, in Konzentrationslager gesperrt wurden. Der kurz nach Kriegsbeginn erlassene «Festsetzungserlass» unterband die Mobilität der seit 1938 als «Zigeuner» oder «Zigeunermischlinge» erfassten fahrenden und sesshaften Personen und bildete die Voraussetzung für die ab 1940 erfolgenden Deportationen. In den besetzten Ostgebieten waren Roma und Sinti seit 1941 Opfer des von den Einsatzgruppen durch­geführten Genozids. Roma und Sinti aus Deutschland und aus den besetzten Westgebieten wurden 1943/44 nach Auschwitz-Birkenau in das eigens dort errichtete «Zigeunerlager» deportiert, wo jene, die nicht an Misshandlungen, Hunger und Krankheiten starben, 1944 in den Gaskammern ermordet wurden.

3.1        Deutsche «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit

Eine Vorreiterrolle in der deutschen Zigeunerpolitik übernahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bayern. Seit 1899 existierte bei der Königlichen Polizeidirektion in München ein spezieller Nachrichtendienst, die «Zigeunerzentrale».[171] Auf Anregung Bayerns fand 1911 eine erste Konferenz deutscher Ländervertreter statt. Ergebnis der Absprachen war eine engere Koordination der «Zigeunerpolitik» einzelner Länder und eine Zentralisierung von Informationen in München.[172] Effekt dieser Entwicklung war die fortschreitende Kriminalisierung der Fahrenden.

Mobilitätsbeschränkungen, verfeinerte und effizientere Kontrollen sowie Vertreibung charakterisierten die deutsche «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit. Eine Fülle von Bestimmungen und Bewilligungspflichten reglementierte den Alltag und zerstörte schrittweise die fahrende Lebensform: die Schulpflicht der Kinder und der für den Erwerb von Wandergewerbescheinen verlangte Niederlassungsnachweis zwangen Roma und Sinti zur Sesshaftigkeit; Kindswegnahmen und das Verbot, in «Horden» zu reisen, rissen bestehende Gruppen auseinander; die Pflicht, für angestammte Berufe Bewilligungen einzuholen, lieferte «Zigeuner» der Willkür der Bürokratie aus und erschwerte ihr ökonomisches Auskommen. Diese Politik verstärkte die soziale und politische Marginalisierung der Fahrenden, die infolge der wirtschaftlichen Entwicklung einer sukzessiven Pauperisierung ausgesetzt waren.[173]

Neben den kriminalpolitischen Kriterien bestimmten rassenbiologische Kategorien die von einzelnen Bundesländern in den 1920er Jahren eingeführte Sondergesetzgebung, die zwischen «Zigeunern» und «nach Zigeunerart umherfahrenden Personen» bzw. Landfahrern differenzierte. Als Vorbild diente das bayrische «Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen» von 1926, das die Ergebnisse der Rassenforschung zum rechtlich relevanten Expertenwissen erhob und in den einzelnen Bestimmungen gegen die Grundrechtsgarantien der Weimarer Verfassung verstiess.[174] Das bayrische Gesetz und analoge in andern Ländern erlassene Bestimmungen kodifizierten Sonderrecht und erweiterten die polizeilichen Befugnisse gegenüber «Zigeunern» immens.[175]

Trotz des allgemeinen Trends zur Verschärfung von Bestimmungen in den 1920er Jahren blieb die «Zigeunerpolitik» der Weimarer Zeit widersprüchlich, scheiterte doch die vordergründig angestrebte Integration und Assimilation der Roma und Sinti am Widerstand der Gemeinden, die «Zigeuner» von ihrem Gebiet fernhalten wollten. Die eigenständige Politik von Ländern und Kommunen erlaubte Fahrenden, Lücken zu nutzen, einzelne Behörden gegeneinander auszuspielen und so ihre Lebensform teilweise zu bewahren.[176]

3.2        Diskriminierung und Ausgrenzung seit der nationalsozialistischen Machtübernahme

Nach der Machtübernahme Hitlers blieb die «Zigeunerpolitik» vorderhand noch im Kompetenzbereich von Ländern und Kommunen. Die «Ländervereinbarung zur Bekämpfung der Zigeunerplage» vom 18. März 1933 bewirkte jedoch eine verschärfte Anwendung der bestehenden Bestimmungen, zugleich eröffnete sie den Ländern und Regierungsbezirken die Möglichkeit, aus eigener Initiative neue, über die bisherigen Gesetze hinausgehende Bestimmungen zu erlassen. Daraus ging vorerst ein «kunterbuntes Nebeneinander» lokaler und regionaler Bestimmungen hervor, das zunehmend eine kumulative Wirkung entfaltete und ab 1935 Grundlage zur fortschreitenden Radikalisierung der zigeunerfeindlichen Massnahmen bildete, zumal die moralischen und rechtlichen Schranken gegen eine rücksichtslose Verfolgung von Minderheiten mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft rasch gefallen waren.[177] Roma und Sinti waren rigideren Polizeikontrollen, Beamtenwillkür und wachsenden Schwierigkeiten der ökonomischen Existenzsicherung ausgesetzt.[178] Hinzu kam, dass eine Reihe von Massnahmen und neu erlassenen Gesetzen, die nicht explizit gegen «Zigeuner» gerichtet war, vor allem Fahrende betrafen. Häufig als «Asoziale» stigmatisiert, fielen Roma und Sinti der repressiven Sozialpolitik zum Opfer und wurden zusammen mit Obdachlosen und Bettlern während Razzien im Herbst 1933 – die von einer Hetzkampagne gegen «unwürdige», «minderwertige» und «betrügerische» Fürsorge­empfänger begleitet waren – verhaftet und eingesperrt.[179] Im Rahmen dieser Massnahmen und aufgrund des «Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher» wurden Roma und Sinti in Konzentrationslager eingewiesen.[180] Schliesslich gehörten sie zu den Hauptbetroffenen der rassenhygienischen Eingriffe im Zusammenhang mit dem «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses», sie fielen aber auch unter die «Nürnberger Rassegesetze», die «Zigeuner» wie Juden den «artfremden Rassen» zurechneten.[181]

Waren es bis um die Mitte der 1930er Jahre eine Vielzahl von lokalen Vorschriften und Bestimmungen, die den Handlungsspielraum von Roma und Sinti einengten und sie der Willkür der Bürokratie auslieferten, so erreichte die Verfolgung 1935/36 einen ersten Höhepunkt mit dem Ausschluss der «Zigeuner» aus dem Verband der Stimmberechtigten und mit dem forcierten Ausbau kommunaler «Zigeunerlager» in zahlreichen grösseren deutschen Städten.[182] Die Errichtung solcher Lager erfolgte überall ohne rechtliche Grundlage. Sowohl fahrende als auch sesshaft lebende Sinti und Roma wurden gezwungen, in die oft an Stadträndern, unmittelbar neben Abfalldeponien oder bei Friedhöfen angelegten «Zigeunerlager» umzusiedeln. Die Lager waren umzäunt, von Polizeibeamten oder SS-Männern bewacht und von der Aussenwelt abgeschlossen. Die Eingesperrten lebten auf engstem Raum und unter miserablen hygienischen Verhältnissen.[183]

Die meisten der in den 1930er Jahren gegen Roma und Sinti gerichteten Verfolgungsmassnahmen fielen in den Bereich der nationalsozialistischen «Verbrechens­prävention», die eine verbrechensfreie «Volksgemeinschaft» anstrebte und sich auf die kriminalbiologischen Theorien abstützte, die «Gemeinschädlichkeit» als genetisch vererbbaren Wesenszug definierten.[184] Fahrende als soziale Gruppe und Roma und Sinti als «Rasse» wurden unter den Stigmata «asozial» und «minderwertig» erfasst, selbst wenn sie nie eines Delikts überführt worden waren. Die Koordination der nationalsozialistischen Kriminalpolitik lag in der Kompetenz des 1937 gegründeten Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA), unter dessen Führung auch die Zigeunerverfolgung auf Reichsebene koordiniert wurde. Das RKPA hatte einen eigenen kriminalbiologischen Dienst eingerichtet, der eng mit der «Rassenhygienischen Forschungsstelle» beim Reichgesundheitsamt zusammenarbeitete. Im Herbst 1938 wurde die Münchner Zigeunerpolizeistelle, welche bisher reichsweit als Zentrale für die Erfassung und Registration von «Zigeunern» fungiert hatte, nach Berlin verlegt und dem RKPA einverleibt. In den folgenden Monaten zur «Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens» ausgebaut, die in der Vernichtungspolitik gegen Roma und Sinti eine analoge Bedeutung erhielt wie das Reichssicherheitshauptamt bei der Judenvernichtung, pflegte diese Amtsstelle auch den Kontakt zu ausländischen Stellen und konnte auf die gesamte Datensammlung der früheren Münchner Zentralstelle zurückgreifen.[185]

Im Juni 1938 kündete das RKPA unter der Bezeichnung «Aktion Arbeitsscheu Reich» eine Grossrazzia auf «Asoziale» an und legte fest, dass jede Kriminalpolizeistelle eine Quote von 200 arbeitsfähigen «asozialen» Männern in Konzentrationslager einzuweisen habe.[186] In allen Gebieten des Deutschen Reichs, und insbesondere im ehemals österreichischen Burgenland, wo rund 8000 sesshafte Roma wohnten, war der Anteil der verhafteten «Zigeuner» sehr gross, denn offensichtlich reichte eine selbständige, nicht lohnabhängige Erwerbstätigkeit als Nachweis für «Asozialität» und «Arbeitsscheu», und die Kommunen konnten sich mittels dieser «Aktion» jener «Zigeuner» entledigen, die sie zuvor vergeblich zu vertreiben versucht hatten. 2000 männliche Sinti und Roma aus Deutschland, die älter als 16 Jahre waren, kamen ins Konzentrationslager Dachau und später nach Buchenwald; 1000 Frauen, die älter als 15 waren, wurden in das neu geschaffene Frauenlager Ravensbrück gesperrt; die im ehemaligen Österreich verhafteten Sinti und Roma kamen ins Konzentrationslager Mauthausen.[187] Eine neuerliche solche «Aktion» fand Mitte 1939 – wiederum unter dem Vorwand der Verbrechensprävention – gegen die Roma im Burgenland statt.[188] Die Überlebenschancen der in die Konzentrationslager eingesperrten Roma und Sinti waren sehr gering, da sie als «Asoziale» stigmatisiert waren, am unteren Ende der Häftlingshierarchie standen und zu Schwerstarbeiten gezwungen wurden.[189]

3.3        Zigeunerforschung im Nationalsozialismus: Genealogie als Vorstufe zum Genozid

Mit der Radikalisierung der Verfolgung von «Zigeunern» und «Asozialen» gewann die rassenhygienische Forschung zu diesen Bevölkerungsgruppen an Bedeutung und an Einfluss auf die politischen Entscheidungen. Die «Zigeunerforschung» fand unter dem Nationalsozialismus grosszügige staatliche Förderung und ging eine enge Allianz mit den Polizeibehörden ein, welche das Programm der Entrechtung und Verfolgung von Roma und Sinti bis hin zum Völkermord planten, entwickelten und vollzogen. Mit Hilfe von polizeilichen Zwangsmassnahmen missbrauchten Forscherinnen und Forscher die in «Zigeunerlagern» eingesperrten Roma und Sinti als «Untersuchungsmaterial», vermassen Menschen nach anthropometrischen Kriterien und stellten erbbiologische Gutachten und «Ehetauglichkeitszeugnisse» bereit.[190] Die systematische Erfassung der Betroffenen nach den Kategorien «Zigeuner» und «Zigeunermischling» lieferte die im Verständnis der Rassenforschung wissenschaftlich fundierten Grundlagen für die «Selektion» von Menschen zur biologischen Vernichtung oder zur Zwangssterilisation.[191] Die Rassenanthropologie wurde im Nationalsozialismus zur eliminatorischen Wissenschaft.[192]

Protagonist der nationalsozialistischen Zigeunerforschung war der promovierte Mediziner und Sexualpädagoge Robert Ritter, der sich in den 1930er Jahren auf die kriminalbiologische Forschung an Jenischen, Sinti und Roma spezialisiert hatte.[193] In seiner 1937 publizierten Habilitationsschrift «Ein Menschenschlag» qualifizierte er die von ihm untersuchten Jenischen in Deutschland als «Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft» und als «Bastarde», die «durch ständige Kreuzung [...] untereinander sich noch fortlaufend» erhalten würden.[194] Leitende Funktionäre im Dritten Reich übernahmen Ritters Theorien über die Jenischen als Kerngruppe der «Asozialen».[195] Seit 1936 arbeitete Ritter im Auftrag des Reichsgesundheits­amtes an der erbbiologischen Erfassung der «kriminellen», «asozialen» und nicht sesshaften Bevölkerung Deutschlands, wobei er sich vor allem auf die Erbbestandesaufnahme der in Deutschland lebenden Sinti, Roma und Jenischen konzentrierte, diese jedoch stets als Teil eines geplanten «Verbrechenssippenarchivs» betrachtete, das dereinst Grundlage für eine «biologisch begründete Verbrechensbekämpfung» sein sollte.[196] Er wurde bald am Reichsgesundheitsamt zum Leiter der «Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle» ernannt und übernahm 1941 auch die Leitung des «Kriminalbiologischen Instituts», das bei Nebes Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) angesiedelt war. Ritter hatte damit in Personalunion die Schlüsselstellen der wissenschaftlichen Zigeunerverfolgung inne.[197]

Methodisch griff die nationalsozialistische Zigeunerforschung auf das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Instrumentarium zurück: Mittels Stammbäumen und biographischen Informationen erhob sie Daten zu «Sippen», nun allerdings vor allem mit dem Ziel, die «Rasse» ihrer Forschungsobjekte festzumachen.[198] Während sich die Definition der Juden gemäss nationalsozialistischer Rassengesetze weitgehend auf die Religions­zugehörigkeit von Vorfahren abstützte, erfolgte die Klassifikation der «Zigeuner» und «Zigeunermischlinge» nach anderen Kriterien. Da Sinti und Roma die Religion ihrer Aufenthaltsländer annahmen – in Nord- und Westeuropa hauptsächlich christliche Konfessionen, in Südosteuropa auch islamische Glaubensrichtungen –, lag somit auch kein eindeutiges und einfach zu eruierendes Kriterium für die Bestimmung der «Rasse» vor.[199] Vielfach wurden die Roma und Sinti deshalb gezwungen, ausführlich über ihre Vorfahren, deren Biographie und Lebensführung Auskunft zu geben. Die Rassenforschung hatte zudem Zugang zu Zivilstandsregistern, Justiz- und Fürsorgeakten.

Gestützt auf einen Runderlass Himmlers von 1938, der die Erfassung aller «Zigeuner, Zigeunermischlinge und nach Zigeunerart umherziehenden Personen» anordnete, waren die erbbiologischen Gutachten Ritters schliesslich ausschlaggebend dafür, ob jemand als «Zigeuner» oder «Zigeunermischling» eingestuft wurde. Die Forschungsstelle entwickelte ein Raster, das für «Zigeunermischlinge» insgesamt 28 Klassifikationsmöglichkeiten vorsah. Diese besondere Beschäftigung mit den Mischlingen ist darauf zurückzuführen, dass Ritter davon ausging, dass die in Deutschland lebenden Zigeuner zu 90% «Mischlinge» seien, die er als besonders «minderwertig» einstufte, weil sich ihr Erbgut im Laufe der Jahrhunderte mit dem «asozialer Nichtzigeuner» vermischt hätte.[200] Die Ergebnisse der Zigeunerforschung flossen schliesslich in die mehr als 23 000 erbbiologischen Gutachten des «Kriminalbiologischen Instituts» des RKPA ein, welche die «Rassenzugehörigkeit» von Roma und Sinti bestimmten und die Grundlage für die weiteren Verfolgungsmassnahmen bildeten – etwa für Zwangssterilisationen oder die Deportation nach Auschwitz.[201] Die «Rassenhygienische Forschungsstelle» Ritters bildete so zusammen mit den SS- und Kriminalpolizeistellen den wissenschaftlich-polizeilichen Komplex, der die einzelnen Verfolgungsmassnahmen bis hin zum Genozid vorbereitete und durchführte.[202] Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in der NS-Zeit Schlüsselpositionen in der Rassen- und Zigeunerforschung innegehabt hatten, konnten ihre Karriere nach 1945 meist ungebrochen fortsetzen, und viele stützten ihre weitere Forschungsarbeit auf das in der NS-Zeit erhobene Datenmaterial.[203]

3.4        Deportation und Genozid

Am 8. Dezember 1938 kündete der von Himmler unterzeichnete Erlass zur «Bekämpfung der Zigeunerplage» die «Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus» an.[204] Er bildete die Grundlage für die Eskalation der Rassenverfolgung und für die rasch fortschreitende Entrechtung der Roma und Sinti nach Kriegsbeginn.[205] Mit dem sogenannten «Festsetzungserlass» vom 17. Oktober 1939 verfügte das Reichssicherheitshauptamt, dass «Zigeuner und Zigeunermischlinge» ihren Wohnort nicht mehr verlassen dürften. Bei Zuwiderhandlung drohte KL-Haft. Dieser Erlass machte den Sinti und Roma die letzten Fluchtchancen zunichte, und er leitete zur Deportationspolitik über.[206] Analog zu den verschiedenen ab 1939 entwickelten Pläne, Deutschland «judenfrei» zu machen, entwarf das RKPA 1939/40 auch Konzepte zur «Aussiedlung» von Roma und Sinti. Im Mai 1940 wurden mehr als 2300 «Zigeuner» aus Deutschland in das Generalgouvernement deportiert und dort – wie die bereits in Lager und Ghettos gesperrten Juden – mehrheitlich zu schweren Bauarbeiten gezwungen.[207] Die Sterberate unter den deportierten Roma und Sinti, die vor allem im Winter sich selbst überlassen waren oder von der SS als «unnütze Esser» ermordet wurden, war extrem hoch.[208] Weitere für 1940 geplante Massendeportationen aus dem ehemaligen Österreich wurden wegen Differenzen unter den Entscheidungsträgern vorerst aufgeschoben: den Plänen Himmlers und des Reichssicherheitshauptamtes, die ursprünglich die Vertreibung und Deportation der Roma und Sinti nach Osten vorgesehen hatten, stand die Opposition der Verwaltung in den besetzten Gebieten sowie Ritters auf Massensterilisationen zielendes Vorhaben gegenüber. Im November 1941 wurden rund 5000 burgenländische Roma, darunter 2000 aus dem berüchtigten, im ehemaligen Österreich gelegenen «Zigeunerlager» Lackenbach, ins Ghetto von Lodz deportiert. Dort starben viele innert kürzester Zeit an Unterernährung und an Seuchen.[209] Die noch Lebenden wurden im Januar 1942 im Vernichtungslager Chelmno ermordet.[210]

Der Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 markierte den Beginn des gezielten Völkermordes an Roma und Sinti. «Zigeuner» gehörten mit Juden, Partisanen und Kommunisten zu den ersten Opfern der SS-Einsatzgruppen, die hinter der vorrückenden deutschen Front systematisch alle «unerwünschten» Menschen in Massenerschiessungen ermordeten.[211] In Polen wurden Roma in den jüdischen Ghettos eingesperrt und später erschossen oder zusammen mit den Juden in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor, Maidanek und Belzec ermordet.[212] In Serbien fielen Roma den Racheakten der deutschen Wehrmacht gegen Partisanenangriffe zum Opfer.[213] Die deutschen Massnahmen gegen Roma und Sinti wurden von den meisten Satellitenstaaten Ost- und Südosteuropas imitiert, wobei die kroatischen Ustascha-Machthaber mit besonderer Grausamkeit gegen Roma vorgingen und im Konzentrationslager Jasenovac Zehntausende von Kindern, Frauen und Männern niedermetzelten. Das Antonescu-Regime in Rumänien liess Roma nach Transnistrien ausschaffen, wo Tausende an Hunger, Kälte und Krankheit starben; Roma aus Ungarn wurden 1944 in die Konzentrationslager Buchenwald und Ravensbrück deportiert.[214]

Im Deutschen Reich kulminierte die Verfolgung im Auschwitz-Erlass Himmlers vom 16. Dezember 1942, der die «Selektion» und nachfolgende Deportation der Opfer anordnete und dem Befehl zur Vernichtung gleichkam.[215] Die «Selektion» erfolgte weitgehend nach den Richtlinien der «Rassenhygienischen Forschungsstelle» Ritters: Zur Deportation bestimmt wurden sowohl die «rassenreinen Zigeuner» als auch die als besonders «asozial» und «minderwertig» eingestuften «Zigeunermischlinge», während die noch im Reich verbliebenen, als angepasst eingestuften «zigeunerischen Personen» zwangssterilisiert werden sollten.[216] Ende Januar 1943 erhielten die Stellen der Kriminalpolizei und der SS den Deportationsbefehl zugestellt, im Verlauf der folgenden Monate wurden rund 22 600 Roma und Sinti aus dem gesamten Reichsgebiet, aus dem ehemaligen Österreich, aus dem Elsass, aus Lothringen und später auch aus Belgien und den Niederlanden nach Auschwitz deportiert.[217] Unter den deutschen Sinti befanden sich auch junge Männer in Wehrmachtsuniform, die zum Teil direkt von der Front weg verhaftet und ins Konzentrationslager transportiert worden waren.[218] In Auschwitz wurden die Roma und Sinti in einen gesonderten Lagerteil, das so genannte «Zigeunerfamilienlager» B II e, gesperrt und dort familienweise in primitivste Baracken eingepfercht. An den miserablen Lebens­bedingungen, grassierenden Seuchen, an Misshandlungen und Erschöpfung durch Zwangsarbeit starben viele der Inhaftierten schon in den ersten Monaten. Andere fielen medizinischen Versuchen zum Opfer, so viele Roma-Kinder der berüchtigten Zwillings­forschung des Lagerarztes Josef Mengele, Frauen und Mädchen gingen an Massensterilisationsversuchen zugrunde. Im Sommer 1944 wurde das «Zigeunerfamilienlager» geräumt: Wenige kräftige, arbeitsfähige Männer und Frauen wurden in andere Konzentrationslager verlegt, die Zurückgebliebenen am 2. August 1944 in den Gaskammern ermordet.[219]

In der Buchführung des Vernichtungslagers Auschwitz sind 20 982 «Zigeuner» als «gestorben» vermerkt.[220] Zimmermann geht davon aus, dass von den 20 000 bis 25 000 Personen, die bei Kriegsbeginn in Deutschland als «Zigeuner und Zigeunermischlinge» galten, 15 000 umgebracht wurden. Unter den österreichischen Roma schätzt er den Anteil der Ermordeten auf 75%.[221] Genaue Daten über die Zahl der bei Massenerschiessungen ermordeten, an Misshandlungen und medizinischen Experimenten in den Konzentrations­lagern umgekommenen, in anderen Konzentrationslagern ermordeten und an der «Vernichtung durch Arbeit» verstorbenen Roma und Sinti sind nicht bekannt.[222] So variieren die in der Literatur angegebenen Schätzungen zur Zahl der Opfer zwischen 250 000 und 1,5 Millionen.[223]

Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik löschte nicht nur ganze Familien aus, sondern zerstörte auch die sozialen Strukturen, die Kultur und Identität von Roma und Sinti. Die meisten älteren Familienmitglieder, die in der Rechtsprechung und für die Weitergabe von Normen und Bräuchen eine zentrale Rolle spielen, überlebten die nationalsozialistische Verfolgung nicht. Mit ihnen sind unersetzbare kulturelle Werte untergegangen.[224] Für die Opfer der Sterilisationen bedeutete die erzwungene Kinderlosigkeit lebenslängliches Unglück und Schande. Überlebende leiden bis auf den heutigen Tag unter den Folgen der traumatischen Erlebnisse, und viele haben vergeblich um eine Anerkennung der an ihnen verübten Verbrechen gekämpft.[225]

3.5       Das Vermögen der Ermordeten

Die Vermögenswerte der verfolgten «Zigeuner» wurden vom Deutschen Reich beschlagnahmt.[226] Obwohl die in Deutschland lebenden Roma und Sinti seit den 1930er Jahren wegen verschiedener Verfolgungsmassnahmen Erwerbsausfälle und Vermögens­einbussen erlitten und einer fortschreitenden Pauperisierung ausgesetzt waren, spielte die Beraubung der Opfer im Kalkül der Verfolger keineswegs eine marginale Rolle, gibt es doch Hinweise darauf, dass deutsche Sinti zu erheblichem Wohlstand gelangt waren.[227] Ausserdem ist davon auszugehen, «dass die im ‹Dritten Reich› festgenommenen, in Lager verschleppten und ermordeten Sinti und Roma ganz zweifelsfrei und in aller Regel über Wertgegenstände vor allem in Form von Schmuck, Edelmetall und Edelmetallmünzen verfügt haben. Es gehört seit altersher zu den kulturellen Traditionen der Sinti und Roma, den materiellen Rückhalt in Form von Gold, Silber und entsprechendem Schmuck anzulegen. Auch im Alltag spielt echter Schmuck damals wie heute eine herausragende Rolle.»[228]

In Baden regelte ein spezieller Erlass des Badischen Innenministers vom 15. Juni 1943 die Einziehung der «Vermögenswerte der aus dem Lande Baden abgeschobenen Zigeuner zu Gunsten des deutschen Reiches». Zuständige Verwaltungsstelle war die «Abteilung Verwaltung des jüdischen und reichsfeindlichen Vermögens» in Karlsruhe.[229] Ähnliche «Vermögensverwertungsstellen» existierten in allen Ländern des Reichs.[230] Welchen Umfang diese Werte erreichten und in welche Finanzströme sie einflossen, ist zur Zeit noch nicht näher erforscht. Listen der Enteigneten wurden zwar im Deutschen Reichsanzeiger publiziert. Aufgrund der Namen allein lässt sich jedoch nicht bestimmen, ob es sich um Juden, Sinti und Roma oder andere Verfolgte handelte.

Vermögenswerte wurden den Roma auch in Konzentrations- und Vernichtungslagern in den besetzten Gebieten oder bei Massenerschiessungen im Osten abgenommen. Das geschah hauptsächlich durch Mitglieder der SS, der Polizeitruppen und der Wehrmacht. Die Verwertung von Edelsteinen, Schmuck und Uhren sowie von Devisen erfolgte über das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA). Laut SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann würden «die Pretiosen und Devisen in der Schweiz verhandelt, ja man beherrsche den ganzen Schweizer Pretiosen-Markt».[231] Die Kommission hat in ihrem Zwischenbericht über die Goldtransaktionen die Wege des Opfergolds rekonstruiert und die Schwierigkeiten, Herkunft und Verbleib dieser Werte herauszufinden, aufgezeigt.[232] Sie geht davon aus, dass sich bei dem aus Lieferungen von SS-Hauptsturmführer Bruno Melmer stammenden oder durch die Preussische Münze umgeschmolzenen Opfergold, das in die Schweiz gelangte, auch Vermögenswerte befanden, welche Roma und Sinti geraubt oder nach ihrer Ermordung abgenommen worden waren, deren Spuren sich aber kaum mehr rekonstruieren lassen.

Angesichts der Tatsache, dass Konten, Depots und Versicherungspolicen weder anhand von Namen noch anhand der Religionszugehörigkeit ihrer Inhaber Roma, Sinti oder Jenischen zugeordnet werden können, kann die Kommission keine Schätzung über den Umfang der Vermögenswerte publizieren, die in der Schweiz oder bei schweizerischen Niederlassungen im Ausland angelegt wurden.


4      Roma, Sinti und Jenische als Flüchtlinge

Wie viele als «Zigeuner» Verfolgte suchten Asyl in der Schweiz? Welche offiziellen Richtlinien galten für die Behandlung von fliehenden Roma, Sinti und Jenischen an der Schweizer Grenze? Wer wurde weggewiesen, wer aufgenommen? Die Forschung zu diesen Fragen ist mit einem eklatanten Quellenmangel konfrontiert. Abgesehen von einzelnen Hinweisen darauf, dass besondere, die «Zigeuner» betreffende Aktenbestände existiert haben müssen, reflektiert der Quellenmangel offensichtlich auch den Umstand, dass sich die Schweizer Behörden – von Einzelfällen abgesehen – mit dem Flüchtlingsproblem von Roma, Sinti und Jenischen nicht befasst haben. Keines der Dokumente, die als rechtliche Grundlage für die Asylpolitik an der Grenze dienten und die Flüchtlingskategorien definierten, enthält unter den zahlreichen Bestimmungen einen Hinweis auf «Zigeuner». Auch die Berichte von Grenzwachtposten, von Zollbehörden und der Heerespolizei schweigen sich zu Roma, Sinti und Jenischen aus. Somit stellen sich zwei Fragen: Haben die Schweizer Behörden Roma, Sinti und Jenische als Gruppe von Verfolgten, als Opfer der Rassendiskriminierung und des Genozids – und somit als mögliche Asylsuchende – wahrgenommen? Diese Frage rückt den Wissensstand der Behörden ins Zentrum. Zudem ist die Überlegung zu prüfen, ob Roma, Sinti und Jenische überhaupt versuchten, in der Schweiz um Asyl nachzusuchen. Hier stellt sich die Frage, inwiefern bekannte Fallbeispiele repräsentativ sind und welche möglichen Interpretationen im Hinblick auch auf die schweizerische Flüchtlingspolitik plausibel erscheinen.

Die Radikalisierung der Vertreibungspolitik im faschistischen Italien seit Mitte der 1920er Jahre oder in anderen Staaten – wie etwa Holland – seit Beginn der 1930er Jahre, machte Roma und Sinti schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zu Flüchtlingen. Die im Folgenden präsentierten Forschungsergebnisse beleuchten die Haltung der Schweizer Behörden sowohl gegenüber ausländischen und staatenlosen Roma und Sinti, die in die Schweiz abgeschoben wurden oder hierhin flohen, als auch gegenüber Fahrenden mit schweizerischer Staatsbürgerschaft, die im Ausland um diplomatischen Schutz der Schweizer Auslandsvertretungen nachsuchten.

4.1        Wissen und Wahrnehmung

Im Allgemeinen war der Informationsstand der Schweizer Behörden über national­sozialistische Verfolgungsmassnahmen sowohl vor als auch während des Krieges ausserordentlich hoch.[233] So blieben insbesondere den Diplomaten des EPD auch die gegen Roma, Sinti und Jenische gerichteten Verfolgungsmassnahmen nicht verborgen. Der Schweizer Konsul Franz Rudolph von Weiss informierte Ende Mai 1940 den Schweizer Gesandten in Berlin über die wenige Tage zuvor in Köln durchgeführte Deportation von Sinti und Roma:

«Streng vertraulich möchte ich Ihnen nach einer Unterhaltung mit einem mir gut bekannten Polizeibeamten mitteilen, dass in letzter Zeit eine ganze Anzahl Zigeuner nach Polen abgeschoben wurde, angeblich weil einige von ihnen versucht hätten, feindlichen Flugzeugen durch Lichtsignale Zeichen zu geben. Die hübschesten Zigeunerinnen wurden aber hier zurückbehalten, um in öffentliche Häuser gesteckt zu werden.»[234]

Weitere Schritte hatte diese Meldung von Weiss, der die fadenscheinige Begründung für die Deportation explizit in Frage stellte und damit auf den Verfolgungscharakter der Massnahme hinwies, keine zur Folge.

Einen Hinweis darauf, dass sich bei den Massenmorden im Osten auch «Zigeuner» unter den Opfern befanden, erhielt das Schweizer Generalkonsulat in Hamburg 1942 von einem Schweizer Privatmann, der Zeuge der Erschiessung von Juden und Roma in Polen geworden war. Aus den Quellen geht jedoch nicht hervor, was mit diesem Bericht weiter geschah.[235]

Bleibt die Frage, in welcher Weise solche Informationen die Perzeption von fliehenden Roma und Sinti durch die Schweizer Behörden prägten. In den flüchtlingspolitisch relevanten Akten zur Praxis an der Grenze sind kaum Hinweise darauf vorhanden, dass «Zigeuner» als Opfer der nationalsozialistischen Rassenverfolgung wahrgenommen und der Kategorie Flüchtlinge zugeordnet worden wären. In den zuständigen Amtsstellen der Bundesverwaltung scheint dies nie Gegenstand von Erörterungen oder Abklärungen gewesen zu sein. Die wenigen Quellenhinweise legen vielmehr nahe, dass die seit 1913 für «Zigeuner» geltende Grenzsperre weder grundsätzlich in Frage gestellt noch im Hinblick auf Roma und Sinti als Flüchtlinge revidiert worden wäre. Um die Mitte der 1930er Jahre jedenfalls wurden «Zigeuner» weiterhin als «unerwünschte» Ausländer bezeichnet, «die an der Grenze ohne weiteres wegzuweisen seien» und denen das Einreisevisum für die Schweiz zu verweigern sei.[236] Das Verdikt, in die Kategorie der «unerwünschten» Ausländer zu fallen, war gemäss Weisungen der Polizeiabteilung des EJPD an die Grenzorgane ein Wegweisungsgrund.[237]

4.2        Vertreibung und Duldung

Die von den meisten europäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit praktizierte Vertreibung von ausländischen und staatenlosen Roma und Sinti hatte zur Folge, dass fahrende Familien permanent zwischen einzelnen Staaten hin- und hergeschoben wurden. Wie die folgenden Fallbeispiele bezeugen, führte die Radikalisierung der Vertreibungspolitik in den 1930er Jahren nicht selten zu gravierenden Grenzzwischenfällen und zu zwischenstaatlichen Differenzen mit diplomatischem Nachspiel, war es doch vor Kriegsbeginn Usus, dass «unerwünschte» Ausländer von Polizeibehörden verschiedener Staaten «schwarz» über die Grenze ins Nachbarland abgeschoben wurden.[238]

4.2.1        Grenzkonflikte als Folge der Vertreibung von Roma und Sinti

Das faschistische Italien verschärfte um die Mitte der 1920er Jahre seine «Zigeunerpolitik» mit dem deklarierten Ziel, das Staatsterritorium von Roma und Sinti zu säubern.[239] Wenige Jahre später – nachdem schon zahlreiche Ausschaffungen stattgefunden hatten – erfuhr ein im Grenzgebiet stationierter Beamter der Kantonspolizei Graubünden von einem italienischen Kollegen, dass sich immer noch viele «Zigeunerfamilien» in Italien aufhalten würden, und dass «der Staat ohne Rücksicht auf die Kosten alles einsetzen [wolle], um diese Banden auszurotten.»[240] So wurden in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren ganze Gruppen von Sinti und Roma zwischen der Schweiz und Italien hin und her gejagt.[241] Es kam dabei wiederholt zu Grenzverletzungen, zur Androhung des Waffeneinsatzes und zu Warnschüssen seitens der faschistischen Miliz gegen die Fahrenden. Die wiederholte Abschiebung der Familie C. – wiewohl ausschliesslich die Behördenperspektive überliefert ist – dokumentiert die Folgen dieser Politik im konkreten Fall:

«Vor ca.1½ Jahren teilte die italienische Polizei dem Landjägerposten in Brusio mit, dass in Tirano eine Zigeunerfamilie aufgetaucht sei, die angebe C. zu heissen und von St. Martin im Kanton Freiburg sei. [...] Daraufhin wurde öfters versucht, die Zigeuner einzeln und in Gruppen nach der Schweiz abzuschieben. Sie konnten aber immer wieder zurückgewiesen werden. Als alle Abschubsversuche misslangen, verschwand die Bande u. tauchte dieses Jahr kurz nach Pfingsten wieder auf.»[242]

Im Juli 1930 von der Schweiz aus nach Italien zurückgetrieben, wurde «die inzwischen auf 17 Personen angewachsene Gesellschaft» von italienischen Grenzwächtern am 7. August 1930 nach Stilfs transportiert und am folgenden Tag von einem Bündner Polizeibeamten im schweizerischen Münstertal entdeckt. Eine direkte Ausschaffung erschien der Kantonspolizei zu diesem Zeitpunkt als undurchführbar, denn das Wetter war schlecht, auf dem Umbrail lag Neuschnee und die Grenze war auf der italienischen Seite scharf bewacht. «Hätte es sich nur um erwachsene Personen gehandelt», ist im Polizeirapport weiter zu lesen, «so wäre ein Abschub nach Italien vielleicht noch möglich gewesen, da aber 8 zum Teil noch ganz kleine Kinder dabei waren, konnte an einen direkten Rückschub nicht gedacht werden.» Deshalb wurde die Gruppe einige Tage später bei Viano nach Italien abgeschoben.

«Die Italiener waren nicht auf ihrem Posten und so konnte man annehmen, dass der Abschub gelungen sei. Gegen 7 Uhr morgens kamen dann aber ca. 40 Fascisten und jagten die Zigeuner mit Schreckschüssen wieder zurück.»[243]

Gleichentags kam es freilich zu weiteren Zwischenfällen, wie dem Bericht des Oberzolldirektors zu entnehmen ist:

«Or, il y a lieu de faire remarquer qu’au moment où nos agents voulurent refouler ces tsiganes pour la seconde fois sur territoire italien, le caporal Lorez constata qu’un milicien fasciste et un douanier italien se tenaient sur un bloc de pierre situé à 16 mètres environ sur notre territoire, d’où ils surveillaient les mouvements de notre personnel. Ces militaires étaient en uniforme, avec fusil et baïonnette, et n’ignoraient certainement pas qu’ils étaient sur territoire suisse.»[244]

Zwei Tag später schliesslich fand sich die nirgends geduldete Sinti-Familie in Frankreich wieder, nachdem sie wiederum heimlich nachts bei Oberwil (BL) aus der Schweiz ausgeschafft worden war.[245]

Das Beispiel der Familie C. ist kein Einzelfall. Vielmehr ist das Vorgehen symptomatisch für die in den 1930er Jahren gegenüber verschiedenen Gruppen von «unerwünschten» Ausländern befolgte Praxis – neben den «Zigeunern» mussten Staaten- und Schriftenlose, mittellose Arbeitssuchende und Flüchtlinge gleichermassen damit rechnen, von einem Staat in den andern abgeschoben und nirgends geduldet zu werden. Zu Beginn der 1930er Jahre hatten verschiedene Entwicklungen zudem eine kumulative Wirkung: die Radikalisierung der «Zigeunerpolitik» im faschistischen Italien, in Bayern ab 1926 und in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme hatte zur Folge, dass ausländische Roma und Sinti selbst dort, wo sie bislang noch geduldet gewesen waren, vertrieben wurden. Zugleich wurden die Probleme der Schriften- und Staatenlosen nach der nationalsozialistischen Macht­übernahme massiv verschärft, als Tausende von Oppositionellen und Juden das Deutsche Reich fluchtartig verlassen mussten und infolgedessen oft ihre Staatsbürgerschaft verloren.[246] Aus naheliegenden Gründen waren der von der Schweiz und ihren Nachbarstaaten praktizierten Vertreibungspolitik längerfristig keine Erfolge beschieden, trug sie doch nur dazu bei, das Heer der nirgends geduldeten Menschen stetig anwachsen zu lassen. Zudem belasteten Grenzkonflikte die zwischenstaatlichen Beziehungen. Im Zusammenhang mit der hier erwähnten und anderen aus Italien vertriebenen Sinti-Familien fanden schliesslich Verhandlungen zwischen der Schweiz und Italien statt. Die italienischen Behörden erklärten sich bereit, auf die weitere Abschiebung von Sinti und Roma in die Schweiz zu verzichten und mehrere bereits ausgeschaffte Familien wieder zurückzunehmen. Im Gegenzug duldete die Schweiz den Aufenthalt von drei Sinti-Gruppen, beharrte aber gegenüber Italien auf dem Standpunkt, dass die Abschiebung von Roma und Sinti nach der Schweiz völkerrechtswidrig sei und als «rechtswidriger Akt nicht Recht schaffe».[247]

4.2.2    Die Wege der Familie M. in die Schweiz: Eine Fallgeschichte

Die Geschichte der Familie M. – eine der drei Sinti-Familien, die in den frühen 1930er Jahren nach den Verhandlungen mit Italien von der Schweiz übernommen und in den folgenden Jahren teilweise geduldet wurde – ist paradigmatisch für den Umgang kommunaler und kantonaler Behörden sowie zuständiger Stellen der Bundesverwaltung mit ausländischen bzw. staatenlosen Fahrenden. Die Rekonstruktion der Wege der Familie M. basiert zur Hauptsache auf amtlichen Quellen.[248] Die Akten dokumentieren folglich vor allem die Sicht der Behörden, während von den betroffenen Sinti keine eigentlichen Selbstzeugnisse vorliegen. Denn das Familienoberhaupt Carlo M. konnte selbst nicht schreiben, fand aber für den Schriftverkehr mit den Ämtern immer wieder Schreibhilfen, die gemäss seinen Anweisungen Briefe verfassten.[249] Zahlreiche Hinweise ergab auch ein Gespräch mit den jüngeren Familienmitgliedern Tschawo und Martha M.[250]

Carlo M. wurde 1892 in Chur geboren, lebte aber schon vor dem Ersten Weltkrieg in Italien und reiste mit seiner Familie im Wohnwagen. Wie ein Bericht der Walliser Kantonspolizei aus dem Jahr 1930 festhält, verdiente er

«den Lebensunterhalt [...], wie es allgemeiner Brauch ist, bei umherziehenden Völker [sic], durch Aufführen von Spielen, Karrusel, Schiessbuden etc. bei Volksfesten etc. Es sind dies Naturvölker, die dahinleben, ohne auf Sitten u. Gebräuche u. Ordnung, Gesetzesbestimmungen Rücksicht zu nehmen».[251]

Um die Mitte der 1920er Jahre wurde die Familie von der italienischen Polizei aufgefordert, ihre Habe zu verkaufen, und in der Folge mehrmals ausgewiesen. Verschiedene Versuche der faschistischen Behörden, die Gruppe loszuwerden, scheiterten jedoch an der Abwehr der Nachbarstaaten. Im September 1929 im Tessin aufgegriffen, gelangte die Familie nach Lugano, wurde dort inhaftiert und erkennungsdienstlich erfasst. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Gruppe aus 9 Personen: dem Vater Carlo und dessen Mutter, sowie sieben Kindern. Der älteste Sohn war knapp 18 Jahre, das Jüngste fünf oder sechs Jahre alt. Die Mutter der Kinder, Margaritha L., war einige Jahre zuvor gestorben.[252]

Den Winter 1929/1930 verbrachte die Familie unter misslichen Bedingungen im Hof des Polizeigebäudes von Locarno, da die Suche nach einer würdigen Unterkunft am Widerstand von Gemeindebehörden gescheitert war. Im November 1929 starb der sechsjährige Knabe Carlo an den Folgen eines Unfalls.[253] Im April 1930 reiste die Familie wieder nach Italien zurück. Bereits in Domodossola wurde sie erneut aufgegriffen, inhaftiert und wiederum über die Grenze in die Schweiz geschoben:

«Sie wurden hierauf in die Berge geführt gegen den Simplon um diese armen Leute so bei Nacht und Nebel über die Grenze zu schieben in die Schweiz. [...] Die Leute wurden also von den italienischen Grenzwächtern bis auf die Passhöhe geschoben oder vielmehr getrieben u. im Schnee mussten diese Heimatlosen ohne dass man ihnen nur etwas zum Essen verabreichte, hungernd verbleiben, wie angegeben wurde volle 4 Tage lang.– Die Schweizer Grenzwächter wollten sich ihrer wie begreiflich anfangs auch nicht annehmen aber die ital. Grenzw. stunden mit erhobenen Waffen da, falls ein Zurückkehren, werde man schiessen. Es wäre dies natürlich bald zu ernsthaften Tätlichkeiten gekommen, hätte das Erbarmen mit diesen armen Leuten, auf der schweizer Seite nicht gesiegt u. so nahm man die Familie auf.– Die vorbezeichnete Zigaunerfamilie, befindet sich nun z.Zeit im Untersuchungsgefängnis in Brig., u. wartet der nähern Bestimmungen.»[254]

Der Bericht zeugt von einer eigentümlichen Mischung von Mitleid – das vor allem durch die Brutalität der italienischen Beamten erregt zu sein scheint – und Verachtung, rekurriert doch die Verballhornung «Zigaunerfamilie» auf tradierte antiziganistische Stereotype, wie sie in der oft kolportierten, falschen etymologischen Herleitung der Bezeichnung Zigeuner von «Zieh Gauner», umherziehenden Gaunern, zum Ausdruck kommen.[255] Auch widerspiegelt der Bericht die widersprüchliche Haltung der Behörden den Opfern der Vertreibungspolitik gegenüber. Beamte, die direkt mit den Betroffenen konfrontiert waren, zeigten oft Mitgefühl und Verständnis. Sie gerieten nicht selten in ein moralisches Dilemma, wenn sie Weisungen der Bundesbehörden vollziehen mussten, die gewöhnlich auf Prinzipien beharrten und die Aufnahme von Menschen, die aus einem Nachbarstaat abgeschoben worden waren, vermeiden wollten, um keine Präjudizien zu schaffen.[256]

So musste die Familie M. gegen Ende April 1930 wiederum den Weg nach Italien antreten. Sie hatte in der Zwischenzeit Unterschlupf in einer Walliser Alphütte gefunden und weigerte sich kategorisch, diese zu verlassen. Es benötigte ein Aufgebot von drei Grenzpolizisten, um die acht Personen in einem dreistündigen Fussmarsch bei Regen über schneebedeckte Gebirgspfade zur Rückkehr nach Italien zu zwingen. An der Grenze entstand eine bedrohliche Situation: Die acht Mitglieder der Familie

«arrivèrent à la frontière qui était gardée par des fascistes au nombre de 25 à 30 [...] ayant tout le matériel de campement nécessaire pour stationner sur les lieux. Ils refusèrent de laisser pénétrer les tziganes sur le sol italien et menacèrent de les abattre s’ils avançaient un pas.»[257]

Die Gruppe war gezwungen, die Nacht auf Grenzhöhe unter freiem Himmel zu verbringen. Dieser erneute Versuch, die Familie M. aus der Schweiz abzuschieben, provozierte Proteste in der linken Presse sowie seitens der Bevölkerung.[258] Vertreterinnen der Opera Cattolica per la protezione della Giovane setzten sich im Frühling 1930 bei Bundesrat Motta für das Verbleiben der Familie M. in der Schweiz ein.[259]

In der Zwischenzeit hatten diplomatische Verhandlungen zwischen der Schweiz und Italien Ergebnisse gezeitigt. Die Bundesbehörden erklärten sich bereit, die Gruppe aufzunehmen, wiewohl Rothmund weiterhin auf der Ausschaffung beharrte.[260] Die Familie M. wurde nun im Wallis toleriert, war allerdings mangels gültiger Ausweispapiere in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Beim Versuch, in Frankreich Verwandte zu besuchen, wurde sie von der französischen Grenzpolizei zurückgewiesen, da sie lediglich im Besitz schweizerischer Ausländerausweise war.[261] Der Versuch des in der Schweiz geborenen Carlo M., mit Berufung auf das Heimatlosengesetz von 1850 die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben, scheiterte 1935 an der Weigerung der Polizeiabteilung, das Gesetz auf diesen Fall für anwendbar zu erklären.[262]

Die Familie hielt sich in den 1930er Jahren in verschiedenen Kantonen auf, unter anderem im Tessin, in Bern, Baselland und Luzern. Sie ernährte sich von der Musik und vom Flickhandwerk. Das Fehlen gültiger Papiere erschwerte Carlo M. den Erwerb des Lebensunterhalts, da verschiedene Kantone gegen den Aufenthalt der Familie opponierten oder die notwendigen Gewerbebewilligungen verweigerten.[263] Dass verbreitete Vorurteile und das «Misstrauen gegenüber dem fahrenden Volk» seitens der Bevölkerung den Aufenthalt der Familie in der Schweiz zusätzlich erschwerten, anerkannten selbst die Bundesbehörden.[264] Die Situation wurde für Carlo M. und seine Kinder besonders prekär, als die Polizeiabteilung und die Luzerner Fremdenpolizei die Auflösung der Familie in Betracht zogen.[265] Die Familie befand sich im Winter 1936/37 in einer Situation, die keine Aussicht auf Bleibe und Auskommen bot, zumal sie auch im Verdacht stand, sie hätte sich «durch Zuzug Dritter zu einer eigentlichen Zigeunerbande entwickelt».[266] Tatsächlich hatte die Familie Zuwachs erhalten, da zwei der Kinder von Carlo M. mittlerweile Beziehungen eingegangen waren – die Tochter Marie mit Jacques L. und der Sohn Johann mit der Französin Loli R.

Während die Polizeiabteilung erneut eine Ausschaffung nach Italien ins Auge fasste, gelangte Carlo M. mehrmals mit Gesuchen um kantonale Aufenthaltsbewilligungen an die Bundesverwaltung.[267] Am 31. März 1937 wurde die Familie aus Luzern ausgewiesen und wenig später im Kanton Aargau zusammen mit weiteren Fahrenden, so der dreiköpfigen Familie W., «wegen Landstreicherei, gänzl. Schriftenlosigkeit und Übertretung des Hausiergesetzes etc.» verhaftet.[268] Jacques L., der Lebenspartner von Marie M. und Vater von deren Sohn Tschawo, und Loli R., die mittlerweile schwangere Gefährtin von Johann M., wurden umgehend nach Frankreich ausgeschafft.[269] Vermutlich wurde auch die bereits vorher des Landes verwiesene Familie W., die sich vergeblich mit einem «Heimatschein von Schwyz» zu legitimieren versucht hatte, umgehend ausgewiesen.[270] Das weitere Schicksal der Ausgeschafften ist unklar. Es gibt Hinweise darauf, dass im südfranzösischen Internierungslager Rivesaltes auch schweizerdeutsch sprechende Roma oder Sinti eingesperrt waren.[271] Ob es sich um Angehörige der 1937 aus der Schweiz ausgewiesenen Gruppe handelte, ist nicht bekannt.

Im Frühling 1938 schob die Polizeiabteilung auch die Familie M. nach Frankreich ab. Carlo M. hatte in die Ausreise eingewilligt, um die Familie mit den bereits nach Frankreich ausgeschafften Angehörigen zu vereinigen. Zudem rangen ihm die Behörden gegen ein Reisegeld das Versprechen ab, nicht mehr in die Schweiz zurückzukehren.[272] Auch Anna R., die betagte Mutter von Carlo M., die Anfang 1937 im Frauenheim der Heilsarmee Basel interniert worden war, wurde umgehend nach Frankreich ausgeschafft.[273] Hingegen scheiterte die Zusammenführung von Marie M. mit ihrem Gefährten Jacques L., der sich offenbar in der Schweiz hatte verstecken können.[274] Die Beziehung der beiden zerbrach in den Wirren von Familientrennung und Ausschaffungen. Marie M. ging mit einem im Wallis lebenden Korber eine neue Verbindung ein. Auch Johann M. und Loli R., die mittlerweile Zwillinge geboren hatte, trennten sich. Über das weitere Schicksal von Loli und ihren Kindern ist nichts bekannt.

Carlo M. dagegen fand mit seiner Familie keine Bleibe in Frankreich und war gezwungen, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Er beantragte eine Aufenthaltsbewilligung im Wallis, die ihm nach einigen Komplikationen von der Gemeinde Conthey im Herbst 1939 gewährt wurde.[275] Die Familie – die wieder Zuwachs erhalten hatte, seit zwei Söhne Beziehungen zu jenischen Schweizerinnen eingegangen waren – lebe von ihrer Arbeit, konkurriere das einheimische Gewerbe nicht und habe die Steuern und die Rechnungen ihrer Lieferanten stets bezahlt, bestätigte die Gemeinde ein halbes Jahr später.[276] Fortan wurde das Bleiberecht der Familie M. von der Gemeinde nicht mehr bestritten. Doch die Akzeptanz, welche die Fahrenden bei den Gemeindebehörden fanden, täuschte, denn als die Familie M. nach einer Reise durchs Goms im Sommer 1940 wieder an ihren Standplatz zurückkehrte, war ihre Baracke abgebrannt.[277]

Wenig später zogen die Bundesbehörden erneut die Auflösung der Familie in Betracht:

«Wir haben bestimmt ein grosses Interesse, die Familie nicht weiterhin als ‹Bande› im Land herumziehen zu lassen – denn sie wird sich bald durch eine (vermutlich zahlreichere) neue Generation vermehren»,

schrieb Jezler 1941, und schlug vor, «die Familie jetzt gewaltsam auseinanderzureissen», um die «künftige Zigeunerei zu verhindern». Die Kinder seien bei Bauern oder in Erziehungsanstalten zu versorgen.[278] Die Intention, die Familie nach dem Vorbild der Pro Juventute aufzulösen oder in der Strafanstalt Bellechasse zu internieren, wurde nicht verwirklicht.[279] Hingegen setzten sich die Bundesbehörden nun dafür ein, Carlo M. und seinen Angehörigen einen gesicherten Aufenthalt zu gewähren, der auch die infolge der Kriegswirtschaft prekär gewordene Versorgungslage der Familie entschärfen würde.[280] Denn wegen ihres illegalen Aufenthalts erhielt die Gruppe nirgends Lebensmittelkarten. Die Polizeiabteilung drängte die Walliser Regierung, Carlo M. und seinen Kindern eine Toleranzbewilligung zu erteilen, zumal die Familie sich «in den 13 Jahren, während deren sie sich in der Schweiz aufgehalten hat, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände, sehr gut geführt» habe. Folglich bestünden keine

«persönlichen Gründe, die gegen eine weitere Duldung geltend gemacht werden können [...] Andererseits dürfte die Aussicht, die Familie M. im Lauf der nächsten Jahre wieder aus der Schweiz entfernen zu können, gleich Null sein.»[281]

Der Walliser Polizeidirektor willigte schliesslich ein, die Familie zu dulden und analog wie internierte Flüchtlinge der Arbeitspflicht zu unterstellen. Mehrere männliche Familien­mitglieder wurden, laut den Erinnerungen von Tschawo M., zum Bau der Sustenstrasse eingezogen.[282] Die Regelung des Aufenthalts bewahrte die Familie in der Folge vor weiteren Ausschaffungen. Die Staatenlosigkeit und der dadurch bewirkte Mangel an anerkannten Ausweisen bescherte ihren Mitgliedern auch in der Nachkriegszeit erhebliche Schwierigkeiten bei Grenzübertritten. Johann M. unternahm zu Beginn der 60er Jahre nochmals Anstrengungen, sich im Wallis einbürgern zu lassen. Seinem Bestreben, Schweizer zu werden, war kein Erfolg beschieden, und er starb 1974 als Staatenloser. Tschawo M., der fast während seines ganzen Lebens Aufenthalt in der Schweiz hatte und mit einer Schweizer Jenischen verheiratet ist, erhielt 1993 das Schweizer Bürgerrecht.

Die Fallgeschichte der Familie M. ist durchaus repräsentativ für die Situation der in der Schweiz geduldeten Staaten- und Schriftenlosen.[283] Mit analogen Schwierigkeiten wie die Familie M. kämpften in den 1930er und 1940er Jahren auch die fahrenden Familien H. und Z.[284] Eine grössere, aus Griechenland stammende Gruppe von Roma, die Familie T., liess die Polizeiabteilung 1934 mit erheblichem Aufwand an Kosten aus der Schweiz spedieren.[285] Wie die Fallgeschichte der Familie M. weiter zeigt, kann die Duldung einzelner Sinti-Familien nicht unter asylpolitischen Gesichtspunkten interpretiert werden, obwohl die zunehmend brutalere Verfolgung dieser Bevölkerungsgruppe im faschistischen Italien seit den späten 20er Jahren evident war. Vielmehr ist sie im Kontext der Abschiebung unerwünschter Ausländer, wie sie in den 1930er Jahren von zahlreichen Staaten betrieben wurde, und im Zusammenhang mit den Folgen dieser Politik zu verstehen. Dass die Schweiz drei Sinti-Familien aufnahm, war eine aussenpolitische Konzession an Italien, die zum Zweck hatte, künftige Grenzzwischenfälle mit diplomatischem Nachspiel zu vermeiden und vom Nachbarstaat die Garantie zu erhalten, dass nicht weitere staaten- und schriftenlose Personen nach der Schweiz abgeschoben würden. Folglich rüttelte dieser Entscheid keineswegs an den Prinzipien der schweizerischen «Zigeunerpolitik» – dies verdeutlicht insbesondere der Versuch der Schweizer Behörden, die Familie M. bei sich bietender Gelegenheit nach Frankreich abzuschieben.

4.3        Wegweisung von Roma- und Sinti-Flüchtlingen

Die noch vorhandenen Quellen zu den weggewiesenen Flüchtlingen sind oft derart lückenhaft, dass sie keine Rückschlüsse auf die Zahl der weggewiesenen Roma, Sinti und Jenischen, die Verfolgungstatbestände oder die Fluchtgründe zulassen.[286] Auch eine systematische Auswertung der 3143 Einträge in der Wegweisungs-Datenbank des Bundesarchivs führt zu wenig aufschlussreichen Ergebnissen.[287] Bei der überwältigenden Mehrheit der darin aufgeführten Flüchtlinge handelte es sich um Juden und Jüdinnen. Knapp 60 trugen Familiennamen, die auch im Gedenkbuch der nach Auschwitz deportierten Roma und Sinti erwähnt sind, und waren mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht jüdisch. Da Sinti aber oft sehr verbreitete Familiennamen – wie Friedrich, Lehmann, Fischer oder Hermann – haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei weggewiesenen Flüchtlingen dieser Namen um Sinti oder Jenische gehandelt haben könnte, äusserst gering. Zugleich muss man aber annehmen, dass sesshafte Sinti mit verbreiteten Familiennamen in die Schweiz fliehen konnten, ohne als «unerwünschte» «Zigeuner» erkannt zu werden, und deshalb vermutlich auch alle Hinweise auf die mit der nationalsozialistischen Zigeunerverfolgung in Zusammenhang stehenden Fluchtgründe verheimlicht haben mögen. So stösst selbst die systematische Suche nach den Spuren von Roma und Sinti in Flüchtlingsakten rasch an methodische Grenzen, da es nicht möglich ist, Einzelpersonen aufgrund der sehr spärlichen Informationen als verfolgte «Zigeuner» zu erkennen.[288]

Aufgrund des aktuellen Kenntnisstandes sind folglich nur Einzelfälle rekonstruierbar: Als «étrangers indésirables» wurde im Juni 1939 eine mit Auto und Wohnwagen aus Frankreich einreisende «famille de nomades s’occupant de travaux de vannerie et d’aiguisage» an der Grenze zurückgewiesen, obwohl sie im Besitz gültiger Ausweisschriften war.[289] Dieser Wegweisungsbericht deutet darauf hin, dass die Einreisesperre gegenüber «Zigeunern» in der Praxis auch in den 1930er Jahren befolgt wurde, denn normalerweise hatten Einreisende mit gültigen Papieren kaum Schwierigkeiten beim Grenzübertritt – es sei denn, es handelte sich um Personen, die ihrer Nationalität wegen oder aufgrund von Sonderbestimmungen, wie sie für deutsche Juden galten, der Visumspflicht unterworfen waren.[290] Belegt ist ferner die Wegweisung des Jazzgitarristen Django Reinhardt bei Genf 1943.[291] Am 21. August 1944 wurde ebenfalls bei Genf eine «famille de 12 romanichels» weggewiesen.[292] Weitere fünf als «Tziganes réfugiés» bezeichnete Männer wurden gegen Ende des Jahres 1944 im Berner Jura ausgeschafft, vermutlich ins damals befreite Frankreich, wo ihnen nicht mehr unmittelbare Lebensgefahr drohte.[293] Es muss also angenommen werden, dass auch nach Kriegsbeginn die Grenzsperre befolgt wurde und dass die Behörden Roma und Sinti das Asyl verweigerten. Die Formulierung «Tzigane réfugié» deutet allerdings darauf hin, dass zumindest gegen Kriegsende für einige Beamte kein Zweifel am Flüchtlingsstatus von Roma und Sinti bestand, obwohl die «Zigeuner» in den Weisungen vom 12. Juli 1944 nicht zu den Verfolgten gezählt wurden, die wegen Gefahren für Leib und Leben nicht mehr weggewiesen werden sollten.[294] Das folgende Fallbeispiel dokumentiert ein besonders tragisches Einzelschicksal aus der letzten Kriegsphase, welches bezeugt, dass offensichtlich gefährdete Sinti auch zu einem Zeitpunkt, als die restriktiven asylpolitischen Bestimmungen gelockert worden waren, noch weggewiesen wurden.

4.3.1        Flucht, Wegweisung und Tod des Anton Reinhardt

Am 25. August 1944 schwamm der siebzehnjährige Sinto Anton Reinhardt bei anbrechender Dunkelheit von Waldshut über den Rhein in die Schweiz, wo er wegen illegalen Grenzübertritts aufgegriffen und ins Bezirksgefängnis Zurzach verbracht wurde.[295] Anton Reinhardt, der sich in der ersten Einvernahme Bü. nannte, beantragte Asyl als Militärdienstverweigerer. Ausserdem befürchtete er, bei einer Wegweisung in Deutschland bestraft zu werden, da er wegen defätistischer Äusserungen und Fernbleibens von der Arbeit von der Gestapo bereits verhaftet worden sei und nur durch List aus der Haft habe entkommen können.[296] Der Asylsuchende erhoffte sich, als Militärflüchtling Aufnahme zu finden. Trotz seiner Beteuerung, im Verhör die Wahrheit gesagt zu haben, schenkten ihm die Polizeibeamten keinen Glauben, insbesondere nicht, nachdem sie seine wahre Identität eruiert und von seiner Herkunft aus einer nicht sesshaften Familie erfahren hatten. Vielmehr hielt ein Rapport fest,

«dass der angebliche Bü. Anton in Wirklichkeit Reinhardt Anton heisst und somit einen falschen Namen angegeben hat. Derselbe wird als ein dubioser Mensch geschildert und seine Eltern zählten vor dem Krieg zum ‹Fahrenden Volk›, d.h. zu Schirmflickern. Die eigentlichen Beweggründe die den Genannten zur Flucht nach der Schweiz veranlasst haben, sind unbekannt, d.h. konnten nicht festgestellt werden, dagegen steht fest, dass er vor wenigen Wochen in der Maschinenfabrik Mann in Waldshut, als Gelegenheitsarbeiter (Hilfsarbeiter) tätig war.»[297]

Anton Reinhardt sollte tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden, wie aus deutschen Akten hervorgeht.[298] Zudem drohte ihm als «Zigeunermischling» die Zwangssterilisation. Diese Tatsache hat er den Schweizer Beamten entweder verschwiegen, oder diese erachteten den Umstand nicht als relevant – jedenfalls fehlt im Protokoll ein entsprechender Hinweis. Reinhardt hatte nämlich im Frühsommer 1944 das Aufgebot erhalten, sich zwecks «Unfruchtbarmachung» in ein Krankenhaus zu begeben. Da er diesem Befehl nicht Folge geleistet hatte, wurde er polizeilich gesucht. Schliesslich sollte ihm auch «angedroht werden, dass er in ein KL komme, falls er sich der Unfruchtbarmachung nicht unterwerfe», wie in einer deutschen Verfügung zu lesen ist.[299]

Bei der weiteren Einvernahme in der Schweiz legte Anton Reinhardt schliesslich offen, dass er der Sohn einer in der Schweiz geborenen Sintezza sei[300], die nach dem Tod seines Vaters den deutschen Korbmacher Anton Bü. geheiratet habe. Er nannte nun auch die Rassen­verfolgung als Fluchtgrund:

«Meine Vorfahren stammen aus dem Balkan, ich bin somit Zigeuner. [...] Verschiedene Verwandte meiner Mutter wurden von den Deutschen in das Konzentrationslager Auschwitz bei Kattowitz, Oberschlesien gesteckt. Das gleiche Schicksal sollte mir nun nach Aussagen der Kriminalpolizei und Gestapo in Waldshut anlässlich meiner dortigen Haft blühen. Das war ein weiterer Grund zu meinem Entschluss, in die Schweiz zu flüchten.»[301]

Die Polizeiabteilung indessen verweigerte Anton Reinhardt am 5. September 1944 das Asyl.[302] Dieser Entscheid fiel auf Grundlage der neuen flüchtlingspolitischen Richtlinien vom 12. Juli 1944, die für «alle Ausländer, die aus politischen oder anderen Gründen wirklich an Leib und Leben gefährdet sind», von der Wegweisung abzusehen vorsahen.[303] Vor diesem Hintergrund betrachtet, erfolgte die Wegweisung von Anton Reinhardt weisungswidrig, da die Polizeiabteilung die dem «Zigeunermischling» Anton Reinhardt drohende Deportation in ein Konzentrationslager als Lebensgefahr hätte einstufen müssen.[304]

Am 8. September 1944 wurde Anton Reinhardt beim Benkenspitz (BL) ins Elsass abgeschoben.[305] Die Hoffnung des Jugendlichen, «dass mich niemand erwischt», ging nicht in Erfüllung. Anton Reinhardt wurde gefasst und ins KL (Sicherungslager) Schirmeck-Vorbruck im Elsass verbracht, später musste er Zwangsarbeit für die Firma Daimler-Benz in Gaggenau verrichten, bis er im März 1945 ins Lager Rotenfels verlegt wurde.[306] Dort brach er mit anderen Häftlingen aus. Auf der Flucht vom örtlichen Volkssturm am 30. März 1945 in Schapbach ergriffen, wurde der Sinto auf Anordnung des SS-Hauptsturmführers und Forstbeamten Karl Hauger verhaftet und noch in der gleichen Nacht standgerichtlich zum Tod durch Erschiessen verurteilt. Anton R. musste am nächsten Morgen in einem Wäldchen sein Grab schaufeln und wurde durch Hauger mit einem Genick- oder Bauchschuss ermordet.[307]

Nach Kriegsende veranlassten die Alliierten eine Untersuchung des Tathergangs. Im Sommer 1946 wurde die Leiche von Anton Reinhardt exhumiert, photographiert und auf dem Friedhof Bad-Rippoldsau beigesetzt, nachdem ein Offizier der War Crimes Investigation Unit die Identität des Ermordeten ermittelt hatte.[308] Karl Hauger, der Haupttäter, wurde 1957 verhaftet. Er hatte sich zuvor einige Jahre unter falschem Namen in Norddeutschland aufgehalten, weil in Frankreich wegen der Tötung von französischen Kriegsgefangenen ein Todesurteil gegen ihn verhängt worden war. Da er Ende 1956 damit rechnen konnte, nicht mehr an Frankreich ausgeliefert zu werden, kehrte er nach Süddeutschland zurück. 1961 wurde er wegen des Mordes an Anton R. bzw. wegen Totschlags zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Der am meisten belastete Mittäter Franz Hindenburg Wipfler, gegen den bereits 1947 ein später wieder aufgehobener Haftbefehl vorgelegen hatte, wurde zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.[309]

4.4        Entzug und Verlust des Bürgerrechts

1930 verschärfte Holland die Politik gegenüber Roma und Sinti. Die Regierung beabsichtigte, eine Reihe von ausländischen Fahrenden auszuschaffen.[310] Unter den für die Heimschaffung vorgesehenen Personen befand sich auch die Schweizer Musikerfamilie B., deren 1919 vom schweizerischen Konsulat in Antwerpen ausgestellte Pässe im April 1930 von der Gesandtschaft in Brüssel erneuert worden waren.[311] Das holländische Heimschaffungs­begehren gelangte an die Polizeiabteilung des EJPD. Diese jedoch wollte die Repatriierung der fahrenden Familie mit allen Mitteln verhindern. Sie weigerte sich, die Staatsangehörigkeit von Dominique B. und seinen Angehörigen anzuerkennen und unternahm Schritte, um der Familie die Pässe zu entziehen.[312] Um die Repatriierung der Fahrenden zu hintertreiben, kündigte Heinrich Rothmund den holländischen Behörden an, dass die Bundesbehörden die schweizerische Staatsbürgerschaft der zwei jüngeren Kinder, die im Pass ihrer Eltern noch nicht eingetragen waren, nicht beglaubigen würden. Er gab den zuständigen kantonalen Polizeibehörden, welche die Gruppe an der Grenze in Empfang zu nehmen hatten, folgende Anweisung:

«Käme die Familie mit den zwei nicht im Pass aufgeführten Kindern, dann wären diese Kinder unter allen Umständen zurückzuweisen. – Die Familie ist direkt nach der Strafanstalt Bellechasse, Kanton Freiburg, zu schicken, wo sie angemeldet ist».[313]

Die holländischen Behörden freilich wollten zu einer Familientrennung nicht Hand bieten und suspendierten die Heimschaffung.[314] Doch die Staatszugehörigkeit der Familie B. wurde von Schweizer Seite weiterhin angefochten. In der Folge gerieten weitere Schweizer Fahrende – Mitglieder der Musikerfamilie B. sowie der Akrobat François R. mit seiner Frau – in den Verdacht, dass ihre Pässe nicht rechtmässig ausgestellt worden seien. Die Polizeiabteilung liess mehrere Personen im «Zeller», dem schweizerischen Polizeianzeiger, ausschreiben zwecks «Anhaltung. Feststellung der Identität. Abnahme des Passes.»[315] 1931 bemühte sich Emma B. wiederum um eine Verlängerung des mittlerweile abgelaufenen Passes. Ihr Gesuch wurde von der Polizeiabteilung abgelehnt.[316] Emma B. konnte indessen die schweizerische Herkunft ihrer Familie glaubhaft machen. Die Polizeiabteilung unternahm deshalb eigene Nachforschungen in den Gemeinden, welche die Aussagen von Emma B. bestätigten. Allerdings hatten sich Fahrende oft an kirchlichen statt an zivilen Instanzen orientiert – so bei der Vermählung oder auch bei der Geburt von Kindern, wie sich ein Zivilstandsbeamter erinnerte und in den Kirchenbüchern auch prompt den im Zivilstandsregister vergeblich gesuchten Geburtseintrag von «Joseph B., geb. den 10. Juli 1907 in Mariastein. Eltern: Dominik B. u. Emma geb. Sch. von Lugano. Zigeuner. Wohnort Überall» fand.[317] In einer anderen Gemeinde wurde der Vermerk über die Geburt und den Tod eines Kindes der Familie B. im Zivilstandsregister entdeckt.[318] Gleichwohl verweigerte die Polizeiabteilung der Familie die Ausstellung von neuen Pässen. Die Fahrenden gerieten dadurch in eine prekäre Lage, da sie als Schriftenlose in ihren Fortbewegungsmöglichkeiten eingeschränkt waren und infolgedessen als fahrende Künstler auch in ökonomische Schwierigkeiten gerieten, abgesehen davon, dass sie von keiner staatlichen Vertretung Schutz erwarten konnten.[319]

Unbestritten war hingegen das Schweizer Bürgerrecht des ebenfalls in Holland lebenden Josef F. Nach eigenem Bekunden hatte er seine Kindheit zum Teil in der Schweiz verbracht und das Land im Alter von ungefähr zehn Jahren zusammen mit seiner Mutter als Mitglied des Zirkus Krone verlassen.[320] Dem Schweizer Konsulat in Amsterdam liess er zwecks Erneuerung der Ausweisschriften durch seine Lebensgefährtin Carolina B. sowohl einen Geburtsschein als auch eine Bürgerrechtsbestätigung seiner Heimatgemeinde Mörschwil vorlegen.[321] Die Tatsache, dass er seine Partnerin vorgeschickt hatte und nicht selbst auf dem Konsulat erschienen war, weckte bei den Behörden Zweifel an der Echtheit seiner Unterlagen und war Anlass zu weiteren Nachforschungen.[322] Die Untersuchung der Polizeiabteilung ergab, dass Josef F. 1918 in Chalais (VS) als uneheliches Kind der Katharina F. geboren worden war und gemäss Geburtsschein fälschlicherweise den Familiennamen des Schweizer Jenischen Alfred Joseph N., des früheren Ehemanns seiner Mutter trug.[323] 1936 teilte die Zivilstandsbehörde von Chalais Josef F. mit, dass sein richtiger Familienname auf F. laute. Die durch den falschen Eintrag im Geburtsschein bewirkte Verwirrung hatte allerdings zur Folge, dass die Polizeiabteilung – nachdem sie das Schweizer Bürgerrecht der Familie F. bereits anerkannt hatte – die Identität von Josef F. in Frage stellte und ihm deshalb den Schweizer Pass verweigerte.[324] Offenbar galt Josef F. als suspekt, weil er durch seine Lebenspartnerin Caroline B. mit der «Zigeunerbande B.» in Verbindung stand und seinen Lebensunterhalt als Geigenspieler in Cafés verdiente.[325] Er bemühte sich deshalb in den folgenden Jahren vergeblich, seine Identität zu beweisen. Für die Polizeiabteilung blieb er ein «Zigeuner, der sich zu Unrecht als F. und als Schweizer ausgibt».[326]

Die verweigerte Anerkennung seiner Staatszugehörigkeit hatte für den Schweizer Josef F. verheerende Folgen: Im Frühling 1944 ordnete die niederländische Ordnungspolizei an, dass alle «Zigeuner» in das Sammellager Westerbork zu verbringen seien.[327] Dort trafen insgesamt 578 Kinder, Frauen und Männer ein. Einige von ihnen wurden von der deutschen Polizei wieder auf freien Fuss gesetzt, weil sie über guatemaltekische und italienische Ausweise verfügten und die zuständigen Konsulatsbeamten zu ihren Gunsten interveniert hatten.[328] Auf der Transportliste vom 19. Mai 1944 ist auch eine ganze Reihe von Personen aufgeführt, die in den vorangegangenen Jahren für die Anerkennung ihres Schweizer Bürgerrechts gekämpft hatten, so «Joseph F., 6. Dezember 1912, Chalaix», dessen Frau Caroline B., und deren drei Kinder, Henrikje, Christiaan und Aida. Unter den insgesamt 30 Mitgliedern der Familie B., denen ebenfalls die Deportation drohte, befanden sich der schon erwähnte Dominique B. und seine Frau Emma, deren Pässe sich die Polizeiabteilung zu verlängern geweigert hatte, sowie Carlo B., geboren 1892 in Messina und seine 1889 in Genf geborene Frau Emma B. Alle Mitglieder der Familie B. – so auch Joseph F.s Partnerin Carolina B. und die drei Kinder des Paares – kamen dank der beharrlichen Intervention des italienischen Konsuls frei, weil einige von ihnen über italienische Papiere verfügten. Sie überlebten den Krieg in den Niederlanden.[329] Joseph F. dagegen wurde nach Auschwitz deportiert. Der Lagerkommandant von Westerbork soll auf Joseph F.s Beteuerungen, Schweizer zu sein, erwidert haben: «Schweizer, das sind keine Zigeuner».[330] Interventionen seitens der diplomatischen Vertretung der Schweiz sind aufgrund der bisherigen Recherchen keine bekannt, so dass die Äusserung des deutschen Kommandanten wohl in Übereinstimmung mit der Haltung der Schweizer Behörden stand, zumal die Polizeiabteilung die Anerkennung des Schweizer Bürgerrechts von «Zigeunern» stets abgelehnt hatte.[331]

Josef F. entkam dem Tod in den Gaskammmern von Auschwitz nur knapp. Am 2. August wurde er dem letzten Transport zugeteilt, der überlebende Roma und Sinti von Auschwitz ins Konzentrationslager Buchenwald bringen sollte. Die übrigen im «Zigeunerfamilienlager» Auschwitz-Birkenau verbliebenen 2897 Personen wurden gleichentags ermordet.[332] Josef F. gelang am 6. August 1944 die Flucht aus dem Häftlingstransport.[333] Er wurde sofort zur Fahndung ausgeschrieben, konnte sich aber einen Monat lang verstecken, bevor er am 6. September 1944 gefasst und nach Buchenwald verbracht wurde.[334] In den dortigen Akten ist er als «arbeitsscheuer Schweizer» registriert.[335] Er hat das Konzentrationslager überlebt. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurde auch Josefs Mutter Katharina F. mit fünf weiteren Kindern nach Auschwitz deportiert.[336] Über das weitere Schicksal dieser Familienangehörigen ist nichts bekannt.

Josef F.s Schwierigkeiten beim Versuch, seine Identität nachzuweisen und die Anerkennung seiner Staatszugehörigkeit zu erlangen, fanden nach dem Krieg ihre Fortsetzung. Die Polizeiabteilung verdächtigte Josef F. weiterhin, ein Betrüger zu sein und sich die Schweizer Staatszugehörigkeit mit einer falschen Identität erschleichen zu wollen.[337] Im April 1950 strengte sie nochmals Nachforschungen an, über deren Ausgang allerdings keine Akten vorliegen.

Es wäre für die Schweizer Behörden ein Leichtes gewesen, mit der Anerkennung des von der Heimatgemeinde bestätigten Bürgerrechts von Josef und Katharina F. zwei Opfer nationalsozialistischer Rassenverfolgung vor dem Konzentrationslager zu retten, zumal 1944 kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass den für die Deportation verhafteten Roma und Sinti dasselbe Schicksal drohte, wie den Juden: die Ermordung in Auschwitz oder die «Vernichtung durch Arbeit» in einem Konzentrationslager. Zudem zeigen die erfolgreichen Interventionen der Diplomaten anderer Staaten, dass die Deutschen auf die Anerkennung selbst zweifelhafter Staatszugehörigkeiten mit der Freilassung von Verhafteten reagierten. Die Zurückhaltung der Schweizer Behörden ist wesentlich durch die seit Jahrzehnten befolgte Strategie, Roma und Sinti vom Schweizer Territorium fernzuhalten, zu erklären, – eine Strategie, die im Zusammenhang mit den Heimschaffungsbegehren von Holland in den 1930er Jahren sehr deutlich erkennbar ist. Denn die Anerkennung des Bürgerrechts hätte zwangsläufig impliziert, dass die Schweiz unter Umständen die im Ausland lebenden Fahrenden hätte repatriieren müssen.

Die Situation von Katharina F. verweist auf einen weiteren Aspekt der Bürgerrechtsproblematik. Bei Fahrenden war die Praxis verbreitet, Ehen ohne zivilstandsamtliche Trauung einzugehen.[338] Somit behielt die Frau ihr angestammtes Bürgerrecht, das sie in der Regel auch auf die als unehelich geltenden Kinder übertrug, während in der Bürgerrechtsgesetzgebung klar die väterliche Linie ausschlaggebend war. Der patriarchale Zug wurde im 20. Jahrhundert durch verschiedene, die Frauen diskriminierende Bestimmungen noch verstärkt und basierte auf der von Max Ruth pointiert formulierten Doktrin:

«Die Frau gehört zum Manne, weil durch die Ehe eine neue Generation begründet werden soll und weil nur die Generationenfolge dem Staatsvolk die Unsterblichkeit sichert.»[339]

Für in- und ausländische Frauen hatte die schweizerische Bürgerrechtsgesetzgebung zur Folge, dass sie mit der Heirat ihr Bürgerrecht verloren und gleichzeitig dasjenige des Mannes annehmen mussten.[340] Somit riskierten Schweizerinnen bei einer Ehe mit einem in der Schweiz lebenden Ausländer die Ausweisung.[341] Zudem konnten sie staatenlos werden, wenn ihrem Ehemann das Bürgerrecht entzogen wurde, obwohl das Bundesgericht die Auffassung vertrat, dass eine Frau unter diesen Bedingungen die schweizerische Staatszugehörigkeit behalte.[342] Im Konflikt zwischen dem Bundesgericht und dem EJPD, das eine wesentlich härtere Linie vertrat, verhalf der Bundesrat Ende 1940 den diskriminierenden Bestimmungen zum Durchbruch, indem er dem Gericht in Bürgerrechtsfällen die Zuständigkeit entzog. Mit Beschluss vom 11. November 1941 bekräftigte der Bundesrat, dass die nach der Heirat staatenlos gewordenen Schweizerinnen nicht wieder eingebürgert werden sollten.[343]

Der Verlust des Bürgerrechts konnte für die Betroffenen fatale Folgen haben, da ehemalige Schweizerinnen im Ausland von ihrem früheren Heimatstaat keinen diplomatischen Schutz mehr beantragen konnten.[344] Seit Herbst 1941 bürgerte NS-Deutschland deutsche Jüdinnen und Juden ausserhalb des Reichsgebiets, später auch deutsche «Zigeuner» kollektiv aus.[345] Dies war ein Kulminationspunkt der gegen «Zigeuner» bereits seit Jahrzehnten in Europa geübten Praxis der Bürgerrechts- und Schriftenverweigerung. So verloren die mit Deutschen verheirateten ehemaligen Schweizerinnen, die als «Zigeunerinnen» eingestuft wurden, wie die Jüdinnen ihre deutsche Staatszugehörigkeit ohne Aussicht darauf, das Schweizer Bürgerrecht zurückzuerlangen, und mit der Folge, dass sie dem «Elend unserer Zeit, von der lästigen fremdenpolizeilichen Schererei bis zum Tod im Vernichtungslager» ausgesetzt waren.[346] So wurde die ursprünglich in Muri, AG, heimatberechtigte Elisabetha Bm. nach der Eheschliessung mit ihrem Lebenspartner, dem deutschen Jenischen Kaspar H., aus der Schweiz ausgewiesen, obwohl auch die Familie von Kaspar H. schon länger in der Schweiz gelebt hatte und dieser selbst hier geboren war. Auch drei vor der Heirat der Eltern geborene Kinder verloren das Schweizer Bürgerrecht. Kaspar H. starb im Konzentrationslager Mauthausen.[347] Über das Schicksal der ehemaligen Schweizerin Elisabetha Bm. ist nichts bekannt.

4.5        Fazit: Abwehr statt Asyl

Die präsentierten Fallgeschichten vermitteln das Bild einer «zigeunerpolitischen» Praxis, die darauf bedacht war, ausländische, staatenlose und selbst schweizerische Roma und Sinti und Jenische vom Schweizer Territorium fernzuhalten, unbesehen der Tatsache, von welchen konkreten Verfolgungsmassnahmen die betreffenden Personen bedroht waren und unabhängig vom Wissen um die Lebensgefahr, in der die insbesondere nach NS-Deutschland zurückgewiesenen Menschen schwebten.

1951 hielt Oskar Schürch von der Polizeiabteilung des EJPD rückblickend fest,

«dass in der Schweiz keine Zigeuner im eigentlichen Sinne mehr leben. Schon vor dem ersten Weltkrieg wurden eingehende Fahndungen nach Zigeunern durchgeführt, ihre Identität abgeklärt und die als Zigeuner festgestellten Personen in ihre Heimatstaaten abgeschoben.»[348]

Ein «Zigeunerproblem» hatte es seither, und insbesondere in der Zeit von 1933 bis 1945, für die mit der Fremdenpolizei betrauten Behörden offensichtlich nicht mehr gegeben, denn Schürch war ein ausgewiesener Kenner der schweizerischen Flüchtlingspolitik während der NS-Zeit und hätte bestimmt die Aufnahme von asylsuchenden Roma und Sinti nicht unerwähnt gelassen.[349] Ausländische oder staatenlose Roma und Sinti waren demnach entweder an der Einreise gehindert oder ausgeschafft worden, wenn sie überhaupt das Risiko eines Versuchs, in die Schweiz zu fahren, auf sich genommen hatten. Konkreter schilderte Robert Jezler die Situation:

«Die Schweiz hat seit Generationen eigentlich kein Problem der Behandlung nomadisierenden, fahrenden Volkes mehr gehabt. [...] In den letzten Jahren haben wir uns eigentlich nur mit drei Zigeunerfamilien zu befassen gehabt, die den Behörden, Gemeinden, Kantonen und uns allerlei Schwierigkeiten und Mühe bereiteten.»[350]

Es ist naheliegend, dass es sich bei den von Jezler genannten «drei Zigeunerfamilien» um die seit den 1930er Jahren geduldeten Familien M., H. und Z. handelte – aus den Beständen des Bundesarchivs sind keine Hinweise darauf bekannt, dass in dieser Zeit noch weitere Gruppen von Fahrenden toleriert worden wären. Jezlers Aussage impliziert somit, dass die Schweiz in den 1930er und 1940er Jahren – von diesen Ausnahmen abgesehen – keine Roma und Sinti aufgenommen hat, was auch angesichts der Koordination der «Zigeunerpolitik» und der starken Widerstände der meisten Kantone gegen den Aufenthalt der Familien M., H. und Z. plausibel erscheint. Dieses Ergebnis bestätigt die These, dass die für die Flüchtlingspolitik zuständigen Polizeibehörden Roma und Sinti auch angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung weiterhin unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten wahrnahmen und als «unerwünschte» Ausländer behandelten. Insbesondere die zu einem sehr späten Zeitpunkt erfolgte Ausschaffung von Anton Reinhardt bekräftigt dies, konnte doch den zuständigen Behörden im Herbst 1944 die grosse Gefahr, in welcher der Sinto schwebte, nicht verborgen bleiben. Schliesslich bestätigt auch die verweigerte Anerkennung der Schweizerbürgerrechte der Familien B. und F., dass die Bundesbehörden grössten Wert darauf legten, Roma und Sinti von der Schweiz fernzuhalten – selbst um den Preis, dass eigene Staatsangehörige in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. War in den 1930er Jahren die tödliche Bedrohung der «Zigeuner» noch nicht absehbar, so konnte im Sommer 1944 daran kein Zweifel mehr bestehen, der das Ausbleiben einer Intervention begründet hätte.

Somit ist davon auszugehen, dass Roma und Sinti nur dann Asylchancen hatten, wenn sie aufgrund ihres Erscheinungsbildes, ihrer Biographie und ihres Bildungsstandes nicht stereotypen Bildern von Fahrenden entsprachen. Da jedoch die Zahl der sesshaften und in ein bürgerliches Berufsleben integrierten Sinti in Deutschland infolge verschiedener nationalsozialistischer Massnahmen schon in den 1930er Jahren stark zurückgegangen war, kann es nur einer kleinen Zahl von Verfolgten gelungen sein, unter Verheimlichung der wahren Fluchtgründe Asyl zu finden.



5      Ausblick: Kontinuitäten und Zäsuren

In der Flüchtlingspolitik zeichnete sich Ende 1943 in verschiedener Hinsicht eine Wende ab: Die asylpolitischen Prinzipien orientierten sich an der veränderten Kriegslage; der Bundesrat erkannte den Nutzen humanitärer Leistungen angesichts der alliierten Kritik an der schweizerischen Neutralitätspolitik; die allmähliche Lockerung der Wegweisungspraxis fand in den Weisungen vom 12. Juli 1944 ihren schriftlichen Niederschlag. Auch im Innern fand eine flüchtlingspolitische Öffnung statt.[351] Von diesen für die NS-Opfer positiven Effekten profitierten Roma, Sinti und Jenische freilich kaum. Hinweise darauf, dass auf Kriegsende hin noch «Zigeuner» Zuflucht in der Schweiz gefunden hätten, sind bislang keine gefunden worden. Auch hat sich die ablehnende Haltung, die stigmatisierende Behandlung und die Ausgrenzung von Roma, Sinti und Jenischen durch Schweizer Behörden nach 1945 nicht geändert – weder in der Sozialpolitik noch in der Wissenschaft oder der Polizeitätigkeit. Ein Ausblick auf die Nachkriegszeit verdeutlicht die bruchlose Kontinuität der «Zigeunerpolitik» in ihren verschiedenen Facetten seit Beginn des Jahrhunderts und untermauert die anhand der rekonstruierbaren Fallbeispiele gewonnenen Erkenntnisse, dass in Bezug auf Prinzipien und Praxis der schweizerischen «Zigeunerpolitik» die NS-Zeit keine gesonderte Epoche darstellt.

Solche Kontinuitäten sind aus der Forschung zur Haltung von Behörden und Wissenschaft gegenüber Roma und Sinti aus zahlreichen Staaten bekannt: so fanden Schlüsselfiguren der nationalsozialistischen Rassenforschung nach dem Krieg Anstellungen an Universitäten, wo sie ihre Tätigkeit ohne grundlegenden Kurswandel fortsetzen konnten[352]; Polizeibeamte, die an der nationalsozialistischen Verfolgung der «Zigeuner» mitgewirkt hatten, nahmen auch in der Bundesrepublik oft wieder ihre früheren Stellungen ein und stützten sich bei der weiteren Diskriminierung von Roma und Sinti auf die Akten aus der NS-Zeit[353]; eine Entschädigung für das erlittene Unrecht blieb den meisten Roma und Sinti versagt[354]; in Frankreich blieben Fahrende auch nach der Befreiung in Lagern interniert und wurden erst 1946 entlassen.[355] Im 1951 gegründeten Bundeskriminalamt (BKA) der BRD gelangte Paul Dickopf, vormaliger SS-Mann und Kriminalkommissar, der in den 1930er Jahren bei der Frankfurter Polizei an der Verfolgung von «Asozialen», Roma und Sinti mitgewirkt und später unter dubiosen Umständen Asyl in der Schweiz gefunden hatte, in leitende Stellung.[356] Im BKA nahm Dickopf auch die Verfolgung von Fahrenden wieder auf.[357] Analoge Kontinuitäten sind schliesslich in der Tätigkeit der Interpol erkennbar. Aktivisten der IKPK aus der Vorkriegszeit riefen 1946 das Gremium wieder ins Leben.[358] Die Interpol knüpfte in der Haltung gegenüber Roma und Sinti an frühere Traditionen an: «Zigeuner» wurden häufig geringfügiger Delikte wegen oder allein zur Identifikation international ausgeschrieben.[359] Interpol-Präsident Florent Louwage hielt Hausierer, Marktfahrer, Schrotthändler und Edelmetallhändler generell für suspekt und benutzte auch weiterhin Begriffe wie «Asoziale» und «Verbrecherfamilien».[360]

5.1        Einreiseverbot und Polizeikontrollen: Die Praxis in der Nachkriegszeit

In der Schweiz wurde die Grenzsperre für ausländische und staatenlose Roma und Sinti auch nach 1945 aufrechterhalten.[361] So wurden im September 1954 die beiden Romafamilien Sch. und W. trotz ihrer gültigen deutschen Pässe an der Grenze umgehend weggewiesen.[362] Als Angehörige derselben Familien vier Jahre später ohne Schwierigkeiten die Grenzen überquerten, stellte sich heraus, dass der diensthabende Grenzwächter die Einreisenden «nicht als Zigeuner erkannt» hatte. Ihm sei, hielt er zur eigenen Rechtfertigung fest, am Verhalten der betreffenden Personen nichts Besonderes aufgefallen, denn die Einreisenden seien gut gekleidet und mit neuen Fahrzeugen unterwegs gewesen.[363] Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass die Bundesbehörden den Grenzwächtern das Einreiseverbot für «Zigeuner» erneut in Erinnerung riefen.[364]

Die Familien Sch. und W. blieben vorderhand in der Schweiz.[365] Doch die Gruppe erregte die Aufmerksamkeit der kantonalen Polizeibehörden, denn die Tatsache, dass die Familien neue Autos und komfortable Wohnwagen besassen, erschien suspekt.[366] So gerieten die Fahrenden in Verdacht, «eine Diebesbande grösseren Formats» zu sein und wurden deshalb im August 1959 verhaftet. Erkundigungen bei Interpol schienen die Anschuldigungen zu bestätigen.[367] Nach zehn Tagen Untersuchungshaft wurden alle Familienmitglieder gegen Kaution freigelassen und am 1. September 1959 aus der Schweiz ausgewiesen.[368]

Im folgenden Jahr, am 17. Oktober 1960, bekräftigte die eidgenössische Fremdenpolizei erneut die Gültigkeit der Grenzsperre:

«Die Erfahrungen der letzten Zeit haben bestätigt, dass die Einreise von Zigeunern auch heute noch unter allgemeinen polizeilichen und unter speziellen fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten unerwünscht ist. Sämtliche Zigeuner sind deshalb an der Grenze zurückzuweisen, gleichgültig ob sie ein normalerweise für den visumsfreien Grenzübertritt gültiges heimatliches Ausweispapier oder einen mit einem konsularischen Visum versehenen Reiseausweis besitzen.»[369]

So widerfuhr Stanislav Sch., einem Mitglied der 1959 ausgewiesenen Familie Sch., 1969 bei seinem Einreiseversuch eine ähnliche Behandlung wie seinen Angehörigen zehn Jahre zuvor: Der offensichtliche Wohlstand – Stanislav Sch. führte in seinem von einem Mercedes gezogenen Wohnwagen Geld, Schmuck und Goldmünzen im Wert von über 80 000 DM mit – weckte umgehend Verdacht. Der ins Bezirksgefängnis Yverdon überführte Stanislav Sch. konnte mit Dokumenten seines Notars, Kaufbelegen und Quittungen den Nachweis erbringen, dass es sich bei den inkriminierten Werten um sein väterliches Erbe und um rechtmässig erworbenes Eigentum der Familie handelte.[370] Sch. wurde in der Folge aus der Untersuchungshaft entlassen und nach Rückerstattung seines beschlagnahmten Vermögens mit seinen Angehörigen ausgeschafft.[371]

Die Versuche von Roma, sich in den 1950er und 1960er Jahren vorübergehend in der Schweiz aufzuhalten, provozierten stets ähnliche Reaktionen der Behörden: Wohlhabende Roma riskierten wegen des mitgeführten Vermögens Untersuchungshaft und Polizeiverhöre, galt doch aufgrund dominierender Stereotypen Wohlstand bei Fahrenden bereits als Indiz für dessen unrechtmässigen Erwerb.[372] Die Polizeikontrollen waren gewöhnlich mit eingehenden Erkundigungen der Behörden bei Interpol verbunden, die im Bereich der «Zigeunerbekämpfung» nach 1945 die Tätigkeit der IKPK fortsetzte. Zudem wurden Fahrende, die nicht direkt an der Grenze an der Einreise gehindert worden waren, nachträglich wieder ausgewiesen. Angesichts dieser Praxis ist es vermutlich eher ein Zufall, dass mit den Flüchtlingen aus Ungarn 1956 und aus der Tschechoslowakei 1968 auch einzelne Roma in der Schweiz Aufnahme fanden – wie beispielsweise der in der Bürgerrechtsbewegung der Roma aktive Arzt Jan Cibula.[373]

Besonderen Polizeikontrollen ausgesetzt waren in der Nachkriegszeit freilich auch die Schweizer Fahrenden, wie sich Jenische in Interviews erinnern:

«Diese Kontrolle erstreckt sich ja über die Person, über den Anhänger, über die Autos, über alles. Das geht jeweils unheimlich schnell. Ich glaube manchmal an Rauchzeichen. Die Plätze sind immer ein bisschen unter Beobachtung. Wenn einer vorfährt, wird er anschliessend meist innerhalb einer halben Stunde kontrolliert. Die Kontrolle hat mit dem Anmelden gar nichts zu tun, die läuft genau gleich ab, ob man angemeldet ist oder nicht. Es heisst dann: Anmelden kann sich jeder, aber wir müssen wissen, ob es auch derjenige ist, der sich angemeldet hat. [...] Manchmal werden die Kontrollen mitten in der Nacht durchgeführt, vielleicht nachts um zwölf, obwohl unsere Wagen ja Wohnstätten sind. Das dürften sie gar nicht. Aber es heisst dann immer: Bei euch weiss man ja nie. Es könnte ja sein [...]»[374]

Polizeibehörden einzelner Kantone führten auch spezielle Registraturen zu den Schweizer Fahrenden. Die Kantonspolizei Zürich beispielsweise verfügte über ein Jenischenregister, bestehend aus Fahndungsblättern und einer Fotosammlung, das laut Informationsdienst der Kantonspolizei Zürich zu Anfang der 1990er Jahre vernichtet wurde.[375]

5.2       Die Wende von 1972: Aufhebung der Grenzsperre

Die Existenz von diskriminierenden Bestimmungen mit sonderrechtlicher Wirkung, wie sie in den zitierten Weisungen zur Grenzsperre und in der Praxis zum Ausdruck kommen, setzte die Behörden zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Oskar Schürch, Chef der Polizeiabteilung, leugnete 1970 auf Anfrage hin die Existenz besonderer Vorschriften und behauptete, die Praxis bei der

«Erteilung von Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen an ausländische Zigeuner» richte sich «nach den für die Ausländer im allgemeinen geltenden Bestimmungen [...]. Jeder Ausländer, sofern er die Voraussetzungen erfüllt, hat demnach unabhängig von seiner Nationalität, Herkunft oder Rasse die Möglichkeit, sich in der Schweiz aufzuhalten.»

Die geringe Präsenz von Roma und Sinti in der Schweiz führte er nicht auf die restriktive Zulassungspraxis zurück, sondern auf klimatische Faktoren und auf angebliche Präferenzen der Fahrenden selbst:

«Die Erfahrung zeigte aber, dass sich die Zigeuner in der für ihre Begriffe vielleicht zu geordneten schweizerischen Gesellschaft nicht wohl fühlten. Sie stiessen durch ihr Gehabe immer wieder auf Widerstand. Dies und die schweizerischen klimatischen Verhältnisse müssen der Grund dafür gewesen sein, dass sich diese Zigeuner entschlossen, unser Land wiederum zu verlassen. Zusammenfassend glauben wir feststellen zu dürfen, dass es nicht Vorschriften waren, die ausländische Zigeuner vom Verbleiben in der Schweiz abgehalten haben.»[376]

Die Erklärung, dass die Fahrenden die Schweiz nicht als Reiseziel wählten, suggeriert eine für diese Gruppe geltende Reisefreiheit, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Schürchs Konstruktion verweist allerdings darauf, dass die «Zigeunerpolitik» der Behörden zunehmend an Legitimität eingebüsst hat. 1972 hob die Fremdenpolizei die Grenzssperre auf:

«Zigeunern, die ein für die visumsfreie Einreise gültiges Ausweispapier eines Nachbarstaates der Schweiz besitzen, ist die Einreise [...] zu bewilligen.»[377]

Seither gelten für ausländische Roma und Sinti dieselben Vorschriften wie für andere Ausländerinnen und Ausländer. Die Personenkontrolle und Registrierung von «Zigeunern» zeigte in der Praxis allerdings eine bis in die jüngste Zeit hinein reichende Zählebigkeit, selbst wenn solche Massnahmen sukzessive, und seit der Fichenaffäre schlagartig, an öffentlicher Akzeptanz verloren haben.[378] Gemäss Registerverzeichnissen des Datenschutzbeauftragten und laut Mitteilungen der schweizerischen Polizeistellen soll es zur Zeit kein spezifisches «Zigeunerregister» mehr geben.[379]

5.3       Auf dem Weg zum kulturellen Selbstbewusstsein: Fahrende, Forschung und Öffentlichkeit in der Schweiz seit 1945

Insgesamt zeigt die Forschung zu den Fahrenden in der Schweiz eine eigenständige Tradition, welche die «Vaganten» und «Landfahrer» bis in die 1960er Jahre hinein als «minderwertig» und als Gefahr für die innere Sicherheit darstellt.[380] So beschwor der evangelische Pfarrer Hercli Bertogg in seiner 1946 publizierten Schrift die «lautlose, unheimliche Gefahr» herauf, die von Fahrenden ausgehe und prophezeite

«die Zerstörung oder mindestens schwere Belastung eines sesshaften, sittlich-religiös gefestigten Volkes durch den Vaganten mit seiner Arbeitsscheu, Unsittlichkeit und Magie. Das Tier lauert unter einer gar dünnen Kulturdecke.»[381]

Auch volkskundlich, geographisch und rechtshistorisch orientierte Arbeiten der Nachkriegszeit behandelten die Fahrenden und deren Lebensweise mit Geringschätzung.[382] Die wissenschaftlich untermauerten Stereotype wirken zuweilen selbst in Publikationen jüngsten Datums nach.[383]

Seit den späten 1960er Jahren sind jedoch auch Publikationen erschienen, die deutlich auf Distanz zur früheren, an kriminologischen und eugenischen Fragestellungen orientierten «Zigeunerforschung» gehen und insbesondere auch die Prämissen dieser Forschungstendenzen dekonstruieren. Ein frühes Selbstzeugnis der jenischen Kultur sind die Werke von Albert Minder (1879–1965), der in seinen schon in den zwanziger Jahren publizierten Gedichten und vor allem in der nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach aufgelegten «Korberchronik» ein allerdings zu wenig beachtetes Gegengewicht zum wissenschaftlichen Diskurs über und gegen die Jenischen vorgelegt hat.[384] Ein Teil des traditionellerweise mündlich überlieferten Kulturerbes der Jenischen wurde einer breiteren Öffentlichkeit auch durch die Schriften von Sergius Golowin zugänglich gemacht.[385] Zur Sensibilisierung haben schliesslich vor allem jenische Kulturschaffende beigetragen – wie die Schriftsstellerin Mariella Mehr, die in ihrem Werk die traumatischen Folgen der Psychiatrisierung von Jenischen und der Kindswegnahmen durch das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» thematisiert, oder wie der Künstler Walter Wegmüller.[386] Durch Ausstellungen, Dokumentationen und Medienberichte ist die Lebenswelt und das kulturelle Selbstverständnis der Jenischen zunehmend einer interessierten Öffentlichkeit vermittelt worden.[387] Die Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Verbände haben einen Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit eingeleitet, der sich allmählich im politischen Diskurs und in der Forschung niederschlägt.[388] Die jüngsten juristischen Untersuchungen zur Rechtslage der Fahrenden zeigen jedoch, dass subtile, aber deswegen nicht minder folgenreiche Formen der indirekten Diskriminierung die Grundrechte dieser Minderheit beeinträchtigen, deren Lebensweise gefährden und deren Recht auf eine autonome kulturelle Praxis einschränken.[389]

 



6      Schlussbemerkungen

Die Schweiz gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den ersten Staaten, die auf Gesetzesebene die Reisefreiheit für «Zigeuner» einseitig einschränkten und damit diskriminierende Bestimmungen mit sonderrechtlicher Wirkung schufen. Die Untersuchungen der UEK sind auf keine Hinweise gestossen, dass die Schweizer Behörden während der NS-Zeit von den Prinzipien der Abwehr Abstand genommen, Roma, Sinti und Jenischen den Status von Flüchtlingen zuerkannt und aufgrund des Wissens über den nationalsozialistischen Genozid Asyl gewährt hätten, allerdings sind auch nur wenige Hinweise auf flüchtende Roma, Sinti und Jenische überliefert. Die hier präsentierten Erkenntnisse erscheinen aufgrund der bekannt gewordenen Informationen plausibel, sie machen zugleich aber auch auf die enormen Erhebungsschwierigkeiten aufmerksam.

Es ist zu hoffen, dass die Auswertung – verbunden mit einer sorgfältigen Aktensicherung – von kantonalen Polizei-, Justiz- und Fürsorgequellen mehr Licht auf die blinden Flecken in der Geschichte einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit werfen werden und zur Aufarbeitung der Vergangenheit beitragen. Aufklärung in diesen Fragen liegt sowohl im Interesse der betroffenen Bevölkerungsgruppen der Roma, Sinti und Jenischen, die ein Recht darauf haben, dass das von ihren Angehörigen erlittene Unrecht nicht länger verschwiegen oder geleugnet werde, als auch der Schweiz, die für das Handeln von Behörden und privaten Vereinigungen politische Verantwortung zu übernehmen hat.



[1]     Zur Begrifflichkeit siehe Kapitel 1.1.

[2]     Zum Begriff Porrajmos und dem Kampf der Roma um die Anerkennung der an ihren Angehörigen verübten Morde als Genozid siehe http://www.geocities.com/Paris/5121/patrin.htm.

[3]     Mit der 1978 in Bern konstituierten Romani-Union, Romano Internationalno Jekhethànibe, der Internationalen Dachorganisation der nationalen Zigeunerverbände, besteht ein von der UNO anerkannter Verband. In der Schweiz existiert seit 1975 die Radgenossenschaft der Landstrasse als Dachorganisation der Jenischen. Siehe die Websites von Roma National Congress: http://www.romnews.com/ und European Roma Rights Center: http://errc.org/ auch: Djuric, Volk, 1995; Reemtsma, Sinti, 1996, S. 7ff.

[4]     Milton, Persecuting, 1998 zur Kontinuität von Verfolgung und Diskriminierung der überlebenden NS-Opfer. Zur aktuellen Lage der Roma in Europa: OSCE, Report, 2000.

[5]     Zur indirekten Diskriminierung von Minderheiten siehe van Boven, Concept, 1999; Bell, Instruments, 1999; Cottier, Instruments, 1999. Zur Diskriminierung von Fahrenden in der Schweiz: Rieder, Diskriminierung, 1999; Glaus, Fahrende, 1999. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus rief 1998 zur Verbesserung der Lebensbedingungen der nicht sesshaften Minderheit in der Schweiz auf, Tangram, 6. März 1999. Mit der Ratifikation des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten anerkannte die Schweiz die Fahrenden 1998 als nationale Minderheit, Glaus, Fahrende, 1999, S. 142.

[6]     Siehe dazu die vom European Roma Rights Center in Budapest herausgegebene Zeitschrift Roma Rights Quarterly auf http://errc.org/, und OSCE, Report, 2000.

[7]     Siehe die Ausführungen in Kapitel 3.5.

[8]     Roma ist der geschlechtsneutrale Plural, Rom die männliche, Romni oder Romnia die weibliche Form des Singulars in Romanes.

[9]     Als Selbstbezeichnung benutzt wird Roma vorwiegend von den in Süd- und Osteuropa lebenden, Romanes sprechenden Angehörigen. Viele Roma sind mittlerweile in andere Staaten Europas und nach Nord- und Südamerika migriert.

[10]   Sinti ist der geschlechtsneutrale Plural, Sinto die männliche, Sintezza oder Sintiza die weibliche Form des Singulars.

[11]   Zur Geschichte und Kultur der Roma und Sinti siehe Djuric/Becken/Bengsch, Ohne Heim, 1996; Reemtsma, Sinti, 1996 und Heinschink/Hemetek, Roma, 1994.

[12]   Die Jenischen gehören jedoch auch der Dachorganisation Romani Union an.

[13]   Im weiteren siehe Huonker, Volk, 1987, S. 16ff., und Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998, S. 188ff.

[14]   Zu den Stereotypen siehe die Beiträge in Hund, Zigeuner, 1996; Giere, Konstruktion, 1996; Awosusi, Stichwort, 1998.

[15]   Willems, Search, 1997; Wippermann, Zigeuner, 1997. Zimmermann unterscheidet zwischen einem soziographischen Zigeunerbegriff, der die Lebensform ins Zentrum rückt, und dem kulturalistisch oder biologistisch fundierten Rassebegriff, der eine essentialistische Andersartigkeit der Zigeuner zum Inhalt hat. Zimmermann, Lösung, 1998; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 61ff. In der Forschung ist umstritten, von welchem Zeitpunkt an die Diskriminierung und Verfolgung der «Zigeuner» rassistisch motiviert war – gemäss Wippermann seit dem späten 18. Jahrundert, gemäss Lucassen, Zigeuner, 1996 dominierte bis in die Zwischenkriegszeit der soziographische Begriff.

[16]   Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 125–155; Hohmann, Kriminalbiologie, 1991.

[17]   Siehe Meuser, Vagabunden, 1996; Hehemann, Bekämpfung, 1987; zur Schweiz: Meyer, Unkraut, 1988, S. 12 ff; Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998.

[18]   Goffman, Stigma, 1967.

[19]   Lucassen, Zigeuner, 1996.

[20]   Milton, Registering, 1997; Luebke/Milton, Victim, 1994; Lucassen, Zigeuner, 1996, S. 8f.

[21]   Siehe Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 11ff. Kritisches zum Begriff: Heuss, Migration, 1996, S. 110.

[22]   Siehe Willems, Search, 1997, der verschiedene Traditionsstränge der ethnographischen Forschung zu den «Zigeunern» untersucht. Der französische Begriff «tsigane» hat eine weniger diskriminierende Bedeutung als die deutsche Bezeichnung.

[23]   Roma wird als gruppenübergreifende Bezeichnung von einer Mehrheit verwendet. In Deutschland und in einigen mitteleuropäischen Staaten lebende Roma-Gruppen bezeichnen sich als Sinti. Siehe die Einträge «Gypsies», «Rom, Roma», «Sinto, Sinti» in Kenrick, Dictionary, 1998, S. 68f., S. 135, S. 153.

[24]   Friedlander, Weg, 1997, analysiert den NS-Genozid als «Massenmord an Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer biologisch determinierten Gruppe» (S. 11), wobei der Ermordung der Juden und der Roma und Sinti das sogenannte Euthanasieprogramm, die Ermordung der Behinderten, vorausging.

[25]   Frühe Arbeiten zur Verfolgung der Roma und Sinti stammen von Autorinnen und Autoren, die dieser Opfergruppe nahestanden, von Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen KL-Insassen. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 23f.

[26]   Milton, Persecuting, 1998. Einer der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zur nationalsozialistischen «Zigeunerpolitik» – der juristischen Dissertation von Döring, Zigeuner, 1962 – liegt eine kriminologische Fragestellung zugrunde. Döring reproduziert damit über weite Strecken die nationalsozialistische Stigmatisierung von «Zigeunern» als einer Rasse von «Kriminellen». Siehe auch: Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 25f.; Winter, Kontinuitäten, 1988.

[27]   Spitta, Entschädigung, 1989; Pross, Wiedergutmachung; 1988; Margalit, Zigeunerpolitik, 1997; Milton, Verfolgung, 1998; Milton, Persecuting, 1998; Milton, Sinti, 2000, Reemtsma, Sinti, 1996, S. 124–136.

[28]   Milton, Context, 1990; Milton, Zigeunerlager, 1995; Milton, Sinti, 2000. Freudenberg, Erinnerung, 1992.

[29]   Zur Systematik der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: Friedlander, Weg, 1997; Burleigh/Wippermann, Germany, 1991.

[30]   Die ersten umfassenden Untersuchungen stammen von Kenrick/Puxon, Sinti, 1981 (engl. Original 1972) und Novitch, Génocide, 1968, siehe auch: Bernadac, L’Holocauste, 1979 und die Beiträge in Zülch, Auschwitz, 1979, die neben der historischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgung auch eine Analyse der aktuellen Lage von Roma, Sinti und Jenischen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Inhalt haben (zur Schweiz: Mehr, Jene, 1979, auch: Huonker, Volk, 1990). Hohmann, Geschichte, 1981; Gilsenbach, Django, 1993. Reimar Gilsenbach setzt sich seit 1967 für die Rechte von Roma und Sinti in der früheren DDR und in der Bundesrepublik ein.

[31]   Eine der frühen Arbeiten stammt vom Mediziner Müller-Hill, Wissenschaft, 1984; unerlässlich ist auch die Untersuchung von Bock, Zwangssterilisation, 1986. Siehe auch: Friedlander, Weg, 1997; zu aktuellen Tendenzen der Holocaust-Forschung: Herbert, Vernichtungspolitik, 1998.

[32]   Siehe Rose, Bürgerrechte, 1987; Reemtsma, Sinti, 1996, 136ff.

[33]   Zur Archivsituation in Deutschland: Henke, Quellenschicksale, 1993; zu den «Zigeunerakten» auch: Fings/Sparing, Vertuscht, 1995.

[34]   Den breitesten Überblick bei Zimmermann, Rassenutopie, 1996, dort auch eine Diskussion historiographischer Forschungsrichtungen. (S. 23–39). Siehe auch die Forschung von Sybil Milton; Rose, Völkermord, 1995; Rose, Rauch, 1999.

[35]   Fings/Sparing, Zigeunerlager, 1992; Eiber, Verfolgung, 1993; Enbring-Romang, Marburg, 1998; Sandner, Frankfurt, 1998; Hesse/Schreiber, Schlachthof, 1999; eine Synthese von regionalen Forschungsbeiträgen bei Milton, Zigeunerlager, 1995. Zur Arbeit der Gedenkstätten: Bamberger, Völkermord, 1994.

[36]   Milton, Persecuting, 1998; Margalit, Zigeunerpolitik, 1997; Margalit, Representation, 1999, Winter, Kontinuitäten, 1988.

[37]    Ausnahmen sind die Arbeiten von Rose, Rauch, 1999, und Krausnick, Völkermord, 1995, die sich auf Selbstzeugnisse von Roma und Sinti stützen, sowie Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, der den Widerstand von Sterilisationsopfern dokumentiert.

[38]   Siehe exemplarisch Stojka, Erinnerungen, 1988; Stojka/Pohanka, Welt, 1994; Rosenberg, Brennglas, 1998.

[39]   Siehe Milton, Weg, 1995, S. 30; zur Stigmatisierung von «Zigeunern»: Lucassen, Zigeuner, 1996; Meuser, Vagabunden, 1996; zu den Stereotypen der «Zigeunerforschung»: Willems, Search, 1997; Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 95ff.; die Beiträge in Hund, Zigeuner, 1996; Hohmann, Ritter, 1991; zur gesellschaftlichen Stigmatisierung die Beiträge in Giere, Konstruktion, 1996 und Hohmann, Sinti, 1995.

[40]   Nur beiläufig erwähnt werden die Roma in Überblicksdarstellungen zur internationalen Flüchtlings- und Minderheitenpolitik in der Zwischenkriegszeit von Skran, Refugees, 1995 oder Marrus, Unwanted, 1985.

[41]   Vereinzelte Hinweise bei Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 200ff., 218; Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 56; Milton, Sinti, 2000.

[42]   Siehe Meyer, Unkraut, 1988; Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998, S. 187–361 behandeln eingehend auch sozialgeschichtliche Fragestellungen; zur Abwehr ausländischer «Zigeuner»: Egger, Bundesstaat, 1982.

[43]         Leimgruber/Meier/Sablonier, Hilfswerk, 1998; Huonker, Vorgeschichte, 1987; Huonker, Volk, 1987; Gerth, Fürsorge, 1981. Zu den Folgen für die Betroffenen: Keller, Wilhelm, 1991; Keller, Kinder, 1997; Jourdan, Jenische, 1999, siehe auch das literarische Werk der Schriftstellerin Mariella Mehr.

[44]   Einzig Alfred A. Häsler macht darauf aufmerksam, dass «Zigeuner» Opfer der Ausgrenzungspolitik waren: Häsler, Boot, 1967, S. 15. Ludwig erwähnt «Zigeuner» im Kontext eines Augenzeugenberichts, der die Massenerschiessung von Juden und Roma in Polen dokumentiert: Ludwig, 1957, S. 234.

[45]   Caprez, Schweiz, 1997; Dokumentarfilm von Samuel Plattner, «Zigeunerleben» – «Zigeunertod», ausgestrahlt am 7. Mai 1998; Huonker, Tatbestand, 2000.

[46]   Ebnöther, Polizeigeschichte, 1995. Im Anschluss an die vom EDI in Auftrag gegebene historische Studie zum Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» hat das Departement im Februar 1999 eine Konsultation bei den Kantonen vorgenommen und dabei auch Daten zum Quellenstand erhoben. Materialien dazu im Besitz der UEK. Auf Bundesebene ist seit 1984 das Bundesamt für Kultur (EDI) für die Fahrenden zuständig, zuvor lag die Kompetenz beim Bundesamt für Polizeiwesen (früher Polizeiabteilung).

[47]   Für weitere Hinweise darauf, dass auch flüchtlingspolitisch relevante Akten des EJPD vermutlich vernichtet worden sind, siehe Koller, Entscheidungen, 1996, S. 76–80.

[48]   «Auszug aus der Zigeunerregistratur des schweiz. Justiz- und Polizeidepartementes», 22. April 1914, BAR E 21 / 20608; Verzeichnis der im eidgenössischen Zentralpolizeibüro vorhandenen Daktylodaten aus dem Kanton Freiburg, 2. April 1914, Archives d’Etat Fribourg, DP d 2626; Personalblätter und Dossiers von «Zigeunerfamilien», StAB, BB 4.2.213 und BAR E 4256 (-) 1988/2, 314, E 21 / 20608.

[49]   UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 137–141.

[50]   StAB BB 4.2, 2220, Dossier 4826/43 (Hinweis von Henry Spira).

[51]   Das betrifft vor allem die Wegweisungsakten sowie einen grossen Teil der Zoll- und Grenzschutzakten, in welchen am ehesten Hinweise auf die Wegweisung von «Zigeunern» zu finden gewesen wären. Zur Quellenlage siehe Koller, Entscheidungen, 1996.

[52]   Roma und Sinti sind mehrheitlich katholisch. Viele aus Deutschland stammende Sinti tragen verbreitete Familiennamen wie Schmidt, Wagner etc., oder Namen, die auch bei Juden verbreitet sind, wie Strauss, Adler, Weiss. Siehe Gedenkbuch 1993.

[53]   Gedenkbuch 1993. Im «Hauptbuch Zigeunerlager» wurden alle nach Auschwitz deportierten Roma und Sinti namentlich aufgeführt (mit Geburtsdatum, Geburtsort, oft auch Beruf). Zu den Flüchtlingsdatenbanken im Bundesarchiv: BAR, Flüchtlingsakten, 1999, S. 203–222.

[54]         Einvernahmeprotokoll des Territorialkommandos Sargans, 26. August 1941; Polizeikommando des Kantons St. Gallen an die PA, 11. September 1941, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 97. Hildegard H. wurde unverzüglich ausgeschafft. Es liegen keine Angaben vor, weshalb ihr das Asyl in der Schweiz verweigert wurde.

[55]   Zur Lebensweise von Sinti und Roma: Reemtsma, Sinti, 1996, S. 60ff.

[56]   BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1006. Das «Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre» vom 15. September 1935 («Blutschutzgesetz») verbot sexuelle Beziehungen zwischen «Deutschblütigen» und «Angehörigen artfremder Rassen». Gemäss Kommentaren zu den Nürnberger-Gesetzen wurden letzteren neben den Juden stets die «Zigeuner» zugerechnet. Siehe Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 89f.

[57]   Lebenslauf von Karl W., 18.1.1947. Auch in einem Antrag an das Intergovernmental Committee on Refugees wird W. als Jude bezeichnet BAR, E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1006.

[58]   Karl W. an das EJPD, 2. Februar 1947, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1006.

[59]   Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 167ff, 359ff.

[60]   Rethmeier, Rassegesetze, 1995, S. 183–192.

[61]   Abschriften von Familien-Dokumenten, 23.8.1943, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1006.

[62]   Das Material der «Rassenhygienischen Forschungsstelle» gelangte 1981 auf Druck der deutschen Sinti ins Bundesarchiv in Berlin. Ein Teil der Akten befindet sich aber vermutlich noch im Privatbesitz von Rassenforscherinnen und Rassenforschern sowie bei Polizeistellen. Siehe Fings/Sparing, Vertuscht, 1995.

[63]   Siehe dazu die quellenkritischen Überlegungen von Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998, S. 16–29, und von Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 17f.

[64]   Reemtsma, Sinti, 1996, S. 10f.; Grosinger, Rassenhygiene, 1998.

[65]   Vorliegende Memoiren und die Zeitzeugenaussagen haben den Nachteil, dass sie mit grosser zeitlicher Distanz zu den Ereignissen aufgezeichnet wurden und eine entsprechende Quellenkritik erfordern. Grosinger, Rassenhygiene, 1998, berichtet von Schwierigkeiten, Roma für Interviews zu gewinnen, und von deren Ängsten, in einem politisch feindlichen Klima über die erlittene Verfolgung zu sprechen.

[66]   Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 147ff.

[67]   Marrus, Unwanted, 1985; Skran, Refugees, 1995.

[68]   Arendt, Elemente, 1996.

[69]   Zum Genozid an den Armeniern siehe: Arbeitskreis, Völkermord, 1998. Auch der Jüdische Weltkongress wurde erst 1936 in der Absicht gegründet, sich für die Flüchtlinge aus Deutschland einzusetzen, vgl. World Jewish Congress, Unity, 1948; UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 71.

[70]   Djuric, Heim, 1996, S. 22ff. erwähnt einige – zumeist an polizeilicher Repression – gescheiterte Versuche zur Gründung einer staatenübergreifenden Roma-Organisation im späten 19. Jahrhundert. 1933 fand ein internationaler Roma-Kongress in Bukarest statt.

[71]   Aufgrund des aktuellen Forschungsstandes sind keine Vorstösse im Völkerbund zugunsten von Roma bekannt.

[72]   Zur Migration von Roma aus Osteuropa: Heuss, Migration, 1996.

[73]   Siehe Strasser, Verbrechermenschen, 1984; Gould, Mensch, 1988; Becker, Bild, 1992; Beirne, Criminology, 1993; Ludi, Fabrikation, 1999.

[74]         Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998.

[75]   Hohmann, Kriminalbiologie, 1991.

[76]   Zur Entwicklung der Humanwissenschaften siehe Foucault, Überwachen, 1976; Foucault, Geburt, 1973.

[77]   Germann, Psychiatrie, 1999; Germann, Hilfswerk, 2000.

[78]   Hawkins, Social Darwinism, 1997, zur Etablierung der Rassenforschung an schweizerischen Universitäten: Zürcher, Tradition, 1995, S. 207–237.

[79]   Honegger, Ordnung, 1991; Gilman, Rasse, 1992; Mosse, Geschichte, 1990.

[80]   Strasser, Verbrechermenschen, 1984; Gould, Mensch, 1988; Beirne, Criminology, 1993.

[81]   In Bezug auf Roma und Sinti fand dieses Dispositiv in der Zwischenkriegszeit Eingang in die Gesetzgebung. Eugenische Eingriffe in die Fortpflanzungsfähigkeit bezweckten, die als «unnütz» und «minderwertig» stigmatisierten Menschen an der Weitergabe ihres Erbgutes zu hindern. Siehe Bock, Zwangssterilisation, 1986, auch: Schwank, Diskurs, 1996.

[82]         Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 1996.

[83]    Hawkins, Social Darwinism, 1997; Kühl, Internationale, 1997; Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 1996; für die Schweiz existiert bislang keine Überblicksdarstellung, hingegen liegt eine Reihe von neueren Forschungsbeiträgen vor: Weilenmann, Schlaginhaufen, 1990; Keller, Schädelvermesser, 1995; Ehrenström, Création, 1995; Ramsauer/Meyer, Sozialstaat, 1995; Schwank, Diskurs, 1996; Ernst, Eugenik, 1997; Aeschbacher, Psychiatrie, 1998; Wecker, Frauenkörper, 1999; Goepfert, Eheverbote, 1999; Imboden, Eugenik, 1999; Jeanmonod/Heller, Eugénisme, 2000.

[84]   Maier, Gesetze, 1911, S. 24.

[85]   Diese Entwicklung ist in einem weiteren Rahmen der «hygienischen Revolution» des 19. Jahrhunderts zu verstehen, siehe Mesmer, Reinheit, 1982.

[86]   Kramer, Arme, 1999.

[87]   Galli, Landplage, 1999, S. 120.

[88]   Bock, Zwangssterilisation, 1986.

[89]   Friedlander, NS-Genozid, 1997; Klee, Euthanasie, 1983; Klee, Ärzte, 1986; zu den medizinischen Experimenten Mitscherlich/Mielke, Medizin, 1960; Müller-Hill, Wissenschaft, 1984.

[90]   Die Intelligenztests, nach welchen die Diagnose gestellt wurde, basierten auf Schulwissen und diskriminierten Fahrende, die unregelmässig die Schule besucht hatten. Siehe Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 23ff.

[91]   Vor allem 1938 wurden viele Roma und Sinti als «Arbeitsscheue» und «Asoziale» verhaftet und in KL gesperrt. Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 10f; 23–34, siehe auch: Ayass, «Asoziale», 1998; Scherer, «Asozial», 1990.

[92]   Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 56; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 200ff., 218.

[93]   Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 117.

[94]   Müller-Hill, Wissenschaft, 1984; Schenk, Rassismus, S. 108ff; 162ff.; Stojka, Erinnerungen, 1988, S. 51f.

[95]   Siehe Kühl, Internationale, 1997. In den letzten Jahren geriet die in verschiedenen skandinavischen Staaten bis in die 1970er Jahren hinein praktizierte Sterilisationspolitik ins Kreuzfeuer der Kritik. Siehe dazu Runcis, Steriliseringar, 1998; Koch, Racehygienje, 1996. Eugenisch indizierte Sterilisationen wurden in zahlreichen Schweizer Kliniken seit Beginn des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Als einziger Schweizer Kanton erliess Waadt 1928 eine entsprechende gesetzliche Grundlage. Zur Schweiz: Keller, Sterilisieren, 1997; Gasser/Heller, Débuts, 1997; Ziegler, Frauen, 1999; Jeanmonod/Heller, Eugénisme, 2000, Hinweise auch bei Wottreng, Hirnriss, 1999. Siehe zur aktuellen Debatte über Sterilisation: Recht auf Sexualleben, nicht auf Reproduktion? Fragen zur Sterilisation geistig Behinderter, Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2000.

[96]   So äusserte sich der Zürcher Jurist Rudolf Waltisbühl 1944 anerkennend über die eugenischen Massnahmen in NS-Deutschland, Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 157.

[97]   DDS 11, Dokument 175, S. 542f. (Interne Notiz von E. Scheim), Akten in BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 22. Das EPD sah davon ab, in Berlin dagegen zu protestieren, dass das «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» auch für die in Deutschland lebenden Schweizerinnen und Schweizer zur Anwendung kam. Einzige Möglichkeit, in Deutschland lebende Schweizer vor einem operativen Eingriff zu bewahren, war die Repatriierung.

[98]   Jezler an Bundesrat von Steiger, 16. Februar 1942, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 111. Die Ausschaffung wurde später in Internierung umgewandelt.

[99]   Nur der Kanton Waadt erliess 1928 eine gesetzliche Grundlage. Vgl. Fussnote 95.

[100]  Broberg/Roll-Hansen, Eugenics, 1996.

[101]  Dubach, Verhütung, 1999.

[102]  Ebenso wie bei den dokumentierten Fällen von Zwangssterilisationen an Mitgliedern der Gruppe der «Tattare» in Schweden, wo Broberg «persistence of rassism» fand (in: Broberg; Roll-Hansen, Eugenics, 1996, S. 124ff.), finden sich auch in Diagnosen, Gutachten und Entscheiden zu medizinischen Zwangsmassnahmen gegen Schweizer Jenische mitbegründende Hinweise auf die mit abwertenden und rassistischen Stereotypisierungen verknüpfte, hereditär definierte Gruppenherkunft. In den untersuchten Krankengeschichten von jenischen Patienten des Burghölzli wiederholt sich stereotyp der Vermerk: «Krank seit: Geburt».

[103]  Solche Massnahmen sind nicht auf Sterilisationen beschränkt, sondern umfassen auch Eheverhinderung, den fürsorgerischen Freiheitsentzug und unbefristete Verwahrung. Nicht primär eugenisch indiziert waren die in der Schweiz vom «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» durchgeführten Kindswegnahmen, da die Umerziehung bei diesen Zwangsmassnahmen im Vordergrund stand. Noch 1968 legitimierte der Psychiater Benedikt Fontana die Kindswegnahmen in einer methodisch völlig unzulänglichen Untersuchung zur «Heredität» der «Unsesshaftigkeit», indem er zum Schluss kam, dass Kinder, die ihren fahrenden Eltern weggenommen worden waren, weniger zu einem nicht sesshaften Leben neigten als Kinder, die einen Teil ihrer Jugend als Fahrende verbracht haben. Fontana, Nomadentum, 1968.

[104]  Das Buch «Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volkes» ist ein typisches Produkt des Aufklärungsdiskurses und wurde für viele Autoren des 19. Jahrhunderts zur wichtigsten Referenz. Siehe Willems, Search, 1997; zum Kontext: Mosse, Rassismus, 1990.

[105]  Gemäss Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 115 war die Zigeunerforschung schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts «rassistisch eingefärbt», siehe auch: Lucassen, Zigeuner, 1996.

[106]  Kühl, Internationale, 1997, auch: Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 41.

[107]            Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 60f.

[108]  Seine erste Arbeit, «Die Familie Zero», erschien 1905 im Organ der deutschen Rassenhygieniker, dem «Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene». Sie ist mit einem anderen Text 1919 unter dem Titel «Psychiatrische Familiengeschichten» in Buchform publiziert worden.

[109]  Jörger, Familiengeschichten, 1919, S. 4; S. 1. Zum Einfluss Jörgers auf die internationale und die nationalsozialistische Zigeunerforschung siehe Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 41.

[110]  Maier, Gesetze, 1911, S. 4; die Sterilisierung forderte Oberholzer, Kastration, 1911, S. 137.

[111]  Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 157, S. 159.

[112]  Lucassen, Zigeuner, 1996; zur Politik in einzelnen Staaten: Djuric, Heim, 1996; Gilsenbach, Weltchronik 1, 1997.

[113]  Zur frühneuzeitlichen Verfolgung von Roma und Fahrenden: Lucassen, Zigeuner, 1996; Hohmann, Zigeunerverfolgung, 1981; Gilsenbach, Weltchronik, 1994. Für die Schweiz: Meier/Wolfensberger, Heimatlose, 1998, S. 369ff.

[114]  Meier/Wolfensberger, Heimatlose, 1998, S. 475–507.

[115]  BBl 1906/4, S. 350 (Grenzsperre); Amtliche Sammlung, Neue Folge: Bd. 22, 1906, S. 417 (Transportverbot). Eduard Leupold, 1904–1915 Adjunkt der Polizeiabteilung, kann als Architekt der schweizerischen Zigeunerpolitik nach 1900 bezeichnet werden. Egger, Bundesstaat, 1982.

[116]  Egger, Bundesstaat, 1982, S. 63ff.; «Entwurf eines Programms, welches den Beratungen einer internationalen Konferenz zur Regelung der Zigeunerfrage zugrunde gelegt werden könnte», BAR E 21 / 13316.

[117]  «Ausweisung der Zigeuner», Schlussbericht der Polizeiabteilung (Leupold), 25.10.1912, BAR E 21 / 20606.

[118]  Die schweizerische Bundesanwaltschaft an das EJPD, 5. April 1907, BAR E 21 / 13316.

[119]  Kaiser, Chef der Justizabteilung des EJPD, an den Vorsteher des EJPD, 18. Oktober 1912, BAR E 21 / 20606. Die Ethnizität der «Zigeuner» war umstritten, Wilhelm Oechsli bejahte sie in einem wissenschaftlichen Gutachten zuhanden der Bundesanwaltschaft, während die Beamten des EJPD an einem soziographischen Begriff festhielten. Akten dazu in BAR E 21 / 13169.

[120]  «Programm betreffend Bekämpfung der Zigeunerplage» von Eduard Leupold, 3. Oktober 1911, BAR E 21 / 20605.

[121]  «Auszug aus der Zigeunerregistratur des schweiz. Justiz- und Polizeidepartementes», 22. April 1914, BAR E 21 / 20608.

[122]  Zur Zigeunerzentrale München siehe Hehemann, Bekämpfung, 1987.

[123]  Kaiser, Chef der Justizabteilung des EJPD, an den Vorsteher des EJPD, 18. Oktober 1912; «Ausweisung der Zigeuner», Schlussbericht der Polizeiabteilung (Leupold), 25. Oktober 1912, BAR E 21 / 20606.

[124]Egger, Bundesstaat, 1982.

[125]  Kreisschreiben des EJPD vom 27. Juni 1913, BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 46; weitere Unterlagen in BAR E 21 / 20607.

[126]  Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 3.

[127]  Jahresbericht der Strafanstalt Witzwil 1915, StAB BB 4.2.213; Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 3. Frauen und Kinder gelangten vielerorts in die Obhut der Heilsarmee, siehe dazu: Une main tendue, Genf [1916]; von Tavel, Friedenswerk, o.J und 50 Jahre Heilsarmee, o.J. (Hinweise von Patrick Vogt). Zur Ausschaffung von «Zigeunern» während des Ersten Weltkrieges auch: Rapport à la préfecture de la Gruyère, Bulle, 14. August 1914, ArFR, DP d 2629.

[128]  Gast, Kontrolle, 1997.

[129]  Grivel an die Zentralpolizeidirektion Fribourg, 9. Juli 1919. Auf vorgedruckten Formularen erkundigte sich die Münchner «Zigeunerpolizeistelle» bei der Zentralpolizeidirektion Fribourg nach Personalien von «Zigeunern», die Lebensstationen in Fribourg geltend machten. ArFR DP d 2630.

[130]  Zur selben Zeit gewannen die Medizin und Psychiatrie wachsenden Einfluss auf die Gesetzgebung, die Strafjustiz, den Strafvollzug und den Fürsorgebereich. Siehe Germann, Psychiatrie, 1998; Germann, Hilfswerk, 2000.

[131]  So etwa Schweden 1914, siehe Djuric, Heim, 1996, S. 251.

[132]  Bericht von Prof. Heinrich Zangger über die Tagung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission vom 15.–20. Oktober in Rom, BAR E 4260 (C) 1, Bd. 3.

[133]  Schürch, Polizeiabteilung, an J.O. Brunner, 21.3.1951, BAR 4260 (-) 1974/34, Bd. 46. Vgl. Kapitel 4.5.

[134]  Zur Geschichte des «Hilfswerks»: Greth, Fürsorge, 1981; Lombardi-Maassen, Fürsorge, 1982, Huonker, Vorgeschichte, 1987, Huonker, Volk, 1990, Leimgruber/Meier/Sablonier, Hilfswerk, 1998.

[135]  Im Nachgang zur offiziellen historischen Darstellung des «Hilfswerks» ist 1998 bekannt geworden, dass Alfred Siegfried, späterer Vormund von Hunderten von jenischen Mündeln, 1923 als Lehrer am Gymnasium Basel wegen einer pädophilen Beziehung zu einem minderjährigen Schüler seiner Klasse bedingt mit Haft bestraft wurde. Er musste seine Lehrerstelle deswegen aufgeben. Siehe auch Wamister, Vorgeschichte, 1998.

[136]  Vorwort von Heinrich Häberlin, Bundesrat und Stiftungsratspräsident der Pro Juventute, zur Broschüre «Kinder der Landstrasse», Zürich 1927.

[137]            Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 27, 34ff.

[138]  Im Stiftungsrat von Pro Juventute sassen prominente Männer aus Politik, Militär und Wirtschaft. Das Präsidium hielt gewöhnlich ein amtierender oder ehemaliger Bundesrat inne. Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 146.

[139]            Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998, S. 412ff.; im Kanton Graubünden führte der Grosse Rat 1923 erstmals einen «Vagantenkredit» ein, aus dem die Wegnahme von Kindern und deren Versorgung in Pflegefamilien finanziert wurde. Der Kredit wurde letztmals 1978 bewilligt. Meyer, Unkraut, 1988, S. 159. Zahlreiche Hinweise auf die Zusammenarbeit zwischen Fürsorgestellen und dem Hilfswerk sind in Akten der Stiftung Pro Juventute im BAR enthalten. Weiterführende Untersuchungen müssten auch auf kantonale Fürsorge-, Justiz- und Polizeiakten zurückgreifen, wobei relevante Quellenbestände zum Teil vernichtet worden sind. Laut Auskunft des Zürcher Polizeihistorikers Franz Gut wurden die meisten Akten der Zürcher Kantonspolizei in den 60er Jahren in der Kehrichtsverbrennungsanlage entsorgt.

[140]            Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 45ff., insb. 51; Grossrieder, Jenische, 1999, dort auch Hinweise auf Misshandlung und sexuellen Missbrauch von Kindern.

[141]  Eine grössere Anzahl von Fällen umfasste mehrere Personen. Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 30f.

[142] Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 81.

[143]  Für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Vorgefallenen und für die Rehabilitation und Entschädigung der inzwischen bereits in vielen Fällen verstorbenen Opfer setzen sich die 1975 gegründete «Radgenossenschaft der Landstrasse», die auch die Dachorganisation und politische Vertretung der Jenischen ist, die 1986 gegründete Stiftung «Naschet Jenische» und der ebenfalls 1986 gegründete Verein «Kinder der Landstrasse» ein. Das 1984 ins Leben gerufene «Fahrende Zigeunerkulturzentrum» und die 1997 gegründete Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» fördern die Wahrung der kulturellen Identität der Jenischen und die interkulturelle Toleranz. Leimgruber/Meier/Sablonier, Kinder, 1998, S. 82f.

[144]  Unter Federführung des EDI ist seit 1999 eine Erhebung der kantonalen Anstrengungen zur Verbesserung der Lebenssituation von Fahrenden, zur Aktenlage und zur Aufarbeitung der Geschichte der Kindswegnahmen im Gange. Materialien dazu im Besitz der UEK.

[145]  Skran, Refugees, 1995, S. 21ff.

[146]  Gast, Kontrolle, 1997, Arlettaz, Chambres, 1991.

[147]  Bresler, Interpol, 1993; Greilsamer, Interpol, 1986.

[148]  Heydrichs Wahl stützte sich auch auf die Stimmen der beiden Schweizer Delegierten Werner Müller und Heinrich Zangger. Die entsprechenden Quellen liegen nicht vor, aus der auf den Interpolakten basierenden Untersuchung von Goldenberg, Commission, 1953, S. 96, ist jedoch auf die Zustimmung der Schweizer Delegierten zu schliessen. Siehe auch Bresler, Interpol, 1995, S. 74ff.; Greilsamer, Interpol, 1986, S. 61. Vgl. zu deren Ausstattung Dressler, Kommission, 1942. Die IKPK verfügte über luxuriöse Räumlichkeiten in der Villa «Am kleinen Wannsee 16», die sich in der Nachbarschaft zum Haus «Am Grossen Wannsee 56/58» befand, wo am 20. Januar 1942 die «Wannsee-Konferenz» über die Organisation des Judenmordes stattfand. Siehe Rürup, Topographie, 1987; Klein, Wannsee-Konferenz.

[149]  Zur Geschichte der Interpol: Anderson, Policing, 1989; Fooner, Interpol, 1989; Goldenberg, Commission, 1953.

[150]  Schweizer Delegierte an den IKPK-Tagungen waren der Kommandant der Kantonspolizei Zürich, Jakob Müller, der Lausanner Polizeichef Robert Jacquillard, der Zürcher Gerichtsmediziner Prof. Heinrich Zangger, Bundesanwalt Franz Stämpfli und der Kommandant der Stadtberner Sicherheits- und Kriminalpolizei, Werner Müller.

[151]  Bresler, Interpol, 1993, S. 37.

[152]  Polizeiabteilung an Zangger, 23. September 1931, BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1.

[153]  Internationale Öffentliche Sicherheit (Zeitschrift der IKPK) 20/21, 1932. BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1.

[154]  Beschlüsse der IKPK an der Tagung in Wien 1934, BAR E 4260 (C) 1, Bd. 3.

[155]  Milton, Civilians, 1997, S. 83. Belgien erliess 1931 ein Aufenthaltsverbot für nicht sesshafte Ausländer und schloss mit Nachbarstaaten Verträge über die Behandlung ausländischer Roma ab. Djuric, Heim, 1996, S. 249; France, 1995, S. 16.

[156]  Kurt Bader, Bekämpfung des Zigeunerunwesens, Referat an der 11. Tagung der IKPK 1935, BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1. Bader wies darauf hin, dass «unverbesserliche Zigeuner» unter die Bestimmungen des Sterilisationsgesetzes fielen.

[157]  Kurt Bader, Bekämpfung des Zigeunerunwesens, Referat an der 11. Tagung der IKPK 1935, BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1.

[158]  Zur Stellungnahme im EJPD: Besprechung Müller, Rothmund, Stämpfli und Scheim, 31.3.1938, Bericht von Werner Müller an den Bundesrat über die XIV. Tagung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission vom 7. bis 12. Juni 1938 in Bukarest, BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 38.

[159]  In zustimmendem Sinne: Beschlüsse der «Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission» (1935). Anlässlich der Tagung von 1935 stellte der deutsche IKPK-Delegierte Dr. Karl Zindel, Oberregierungsrat im Reichsinnenministerium, die Massnahmen «gegen Berufsverbrecher» vor. Die ohne gerichtliches Verfahren erfolgte Einsperrung von Vorbestraften in KL wurde von der IKPK als Vorbild für andere Staaten gewürdigt. BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1. Zindel war in den folgenden Jahren mit den Vorarbeiten zu einem geplanten, aber nie erlassenen «Reichszigeunergesetz» befasst. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 107.

[160]  «Errichtung einer ‹Internationalen Zentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens›[...]» [1935], BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1. Die Registration von Personen aufgrund zugeschriebener Eigenschaften bildete einen entscheidenden Schritt bei der Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe, da das Aktenmaterial den raschen polizeilichen Zugriff auf die betreffenden Personen ermöglichte. Siehe Milton, Civilians, 1997. Die Erfassung und Identifikation der registrierten Roma und Sinti durch die Zigeunerzentrale erfolgte nach einem fein gefächerten Raster, das auch genealogische Nachforschungen erforderte. Entsprechende Formulare in BAR E 4326 (A) 1991/157, Bd. 1. Die Erstellung von Stammbäumen rückte die Verwandten von erfassten Personen in die Nähe des polizeilichen Zugriffs. Die Zigeunerzentrale bediente sich derselben Methoden, die später von Ritters Forschungsstelle für die Erstellung von rassenbiologischen Erbgutachten benutzt wurden. Siehe Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 125–155.

[161]  Bresler, Interpol, 1993, S. 93ff.; Burger, Unternehmen, 1992; Felfe, Dienst, 1987, S. 87f.

[162]  Der 1929 aufgenommene internationale Polizeifunk wurde auch während des Krieges weitergeführt. Korrespondenz zum Polizeifunk in BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 44.

[163]  Dressler, Kommission, 1942, S. 28. Müller sandte ferner am 2.1.1942 via Kurierdienste des Waffen-SS-Majors Eggen einen Brief an Heinrich Himmler, in dem es heisst: «Es freut mich besonders, auch in meiner Eigenschaft als Mitglied des Verwaltungsausschusses der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission [...] diesen Schritt tun zu dürfen, einer Institution, der ich meine Treue schon sehr oft zu beweisen die Ehre hatte, vorweg gegenüber der deutschen Delegation in Bukarest im Jahre 1938.» BAR E 27 / 10036.

[164]  Am 13. Oktober 1943 schickte Heydrichs Nachfolger als IKPK-Präsident, Ernst Kaltenbrunner, dem Schweizer IKPK-Vertreter Prof. Heinrich Zangger eine Einladung zu einer Sitzung der IKPK. Zangger antwortete anfangs November 1943 nach Berlin mit dem abstrusen, nicht verwirklichten Vorschlag, mit den SS-Oberen «die organisatorischen Grundlagen der internationalen Verbrecherbekämpfung in Bern oder Genf zu beraten», BAR E 4260 (C) 1975/34, Bd. 39. Die Polizeiabteilung erhielt auch Berichte der IKPK regelmässig zugestellt. Der stadtbernische Polizeidirektor Werner Müller, offizieller IKPK-Delegierter der Schweiz, blieb Rechnungsprüfer der IKPK. Bericht von Müller, 1946, BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 44. Auch zu Einzelfällen liegt Korrespondenz vor: BAR E 3422 (-) 1991/156, Bd. 11 und Generallandesarchiv Karlsruhe, Bestand 330 Zug, 1991/34, 277.

[165]  Siehe dazu den gutgläubigen und in mancher Hinsicht schönfärberischen Bericht von Rothmund, «Notizen über meine Besprechung in Berlin», in: DDS 14, Anhang zum Dokument 260, S. 859–869.

[166]  Zur Konferenz von Evian siehe Friedländer, Nazi Germany, 1997, S. 248ff.

[167]  Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 6.

[168]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 46.

[169]  Milton, Persecuting, 1998; Margalit, Zigeunerpolitik, 1997.

[170]  Milton, Sinti, 2000; Milton, Photography, 1999, S. 303; siehe auch: Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 113ff.

[171]  Strauss, Diskriminierung, 1993; Lucassen, Zigeuner, 1996, S. 181f. Das in München gesammelte Datenmaterial zu 3350 Personen liess der Leiter der Zigeunerzentrale, Alfred Dillmann, 1905 veröffentlichen: Dillmann, Zigeunerbuch, 1905.

[172]  Hehemann, Bekämpfung, 1987, S. 343ff.; Lucassen, Zigeuner, 1996, S. 190f.

[173]  Hehemann, Bekämpfung, 1987; Gharaati, Zigeunerverfolgung, 1996, S. 46–63; Lucassen, Zigeuner, 1996, S. 174–198; für Bayern: Strauss, Diskriminierung, 1993.

[174]  Die Ausführungsbestimmungen zum bayrischen Gesetz von 1926 erläutern: «Der Begriff Zigeuner ist allgemein bekannt und bedarf keiner näheren Erläuterung. Die Rassenkunde gibt darüber Aufschluss, wer als Zigeuner anzusehen ist.» Auszugsgsweise abgedruckt bei Eiber, Verfolgung, 1993, S. 45, siehe auch: Hehemann, Bekämpfung, 1987; Lucassen, Zigeuner, 1996, S. 196f.; Burleigh, State, 1991, S. 114ff. Die bayrische Polizei kennzeichnete zudem die Pässe von «Zigeunern» mit einem «Z», jene der Landfahrer mit einem «L». Zimmermann, Rassenutopie, 1998, S. 61.

[175]  Hehemann, Bekämpfung, 1987.

[176]  Hehemann, Bekämpfung, 1987, S. 377–394.

[177]  Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 117; als Vorbild für die nach 1933 neu erlassenen Ländergesetze diente lange das bayrische Gesetz von 1926. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 77–82.

[178]  Neue Bestimmungen zwangen Roma und Sinti, angestammte Berufe aufzugeben; Berufsverbände verfügten nach 1933 den Ausschluss von «Zigeunern», Kommunen kürzten die Fürsorgeansätze für «Zigeuner» und zwangen sie zu öffentlichen Arbeiten. Milton, Zigeunerlager, 1995; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 83f.

[179]  Ayass, Asoziale, 1995, insb. S. 19–47; Drobisch, Verhaftung, 1992; zur Verfolgung der «Asozialen» auch: Ayass, «Asoziale», 1998; Scherer, «Asoziale», 1990.

[180]  Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 118.

[181]  Zu den Zwangssterilisationen siehe Bock, Zwangssterilisationen, 1986. Das «Ehegesundheitsgesetzes» vom 18. Oktober 1935 machte Eheschliessungen von einem erbbiologischen «Ehetauglichkeitszeugnis» abhängig; das «Blutschutzgesetz» vom 15. September 1935 verbot sexuelle Beziehungen zwischen «Deutschblütigen» und «Angehörigen artfremder Rassen». Gemäss Kommentaren zu den Nürnberger-Gesetzen wurden letzteren neben den Juden stets die «Zigeuner» zugerechnet. Siehe Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 89f.

[182]  Das Gesetz über das Reichstagswahlrecht entzog Juden und Zigeunern die politischen Bürgerrechte: Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 119; Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 888f.

[183]  Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 121f. zum «Zigeunerlager» in Marzahn (Berlin); Sparing, Zigeunerlager, 1996.

[184]  Ayass, «Asoziale», 1995; Ayass, Asoziale, 1998; Wagner, Vernichtung, 1998; auch: Sack, Kriminalität, 1999; Simon, Kriminalbiologie, 1999; Winter, Kontinuitäten, 1988.

[185]  Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1996, S. 106–117. Das RKPA wurde im September 1939 zum Amt V des Reichssicherheitshauptamtes. Leiter des RKPA war Arthur Nebe, der dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, seit 1936 Chef der deutschen Polizei, unterstellt war. Siehe Milton, Weg, S. 39.

[186]  Ayass, Gebot, 1988.

[187]  Milton, Weg, 1995, S. 39.

[188]  Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, insb. 890f.

[189]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, 118–121; Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998. Im Vergleich mit anderen Häftlingsgruppen gehörten die Todesraten von Roma und Sinti in KL zu den höchsten.

[190]  Burleigh, State, 1991, S. 119f.; Krausnick, Völkermord, 1995, S. 143ff.

[191]  Zur Bedeutung der Erfassung und Klassifikation von Menschen als Vorstufe zur Vernichtung: Luebke/Milton, Victim, 1994; Milton, Registering, 1997.

[192]  Müller-Hill, Wissenschaft, 1984, Friedlander, NS-Genozid, 1997; Mitscherlich/Mielke, Medizin, 1960.

[193]  Dr. phil. Dr. med. Robert Ritter (1901–1948) hatte einen Teil seiner psychiatrischen Ausbildung 1931–32 in der Zürcher Klinik Burghölzli absolviert. Am Burghölzli schätzte Ritter die eugenische Ausrichtung des Direktors (siehe auch Willems, Search, 1997, S. 202). Im Lebenslauf von 1944 schrieb Ritter: «Vom April 1931 bis April 1932 war ich Assistent der Psychiatrischen Klinik in Zürich, an der ich ihrer sozial-psychiatrischen und eugenischen Grundeinstellung wegen damals Weiterbildung suchte.» (Bestand Parteikorrespondenz, BAB). Aus einem Schreiben Direktor Maiers an die Fremdenpolizei Zürich vom 15.2.1932 (Kopie im Burghölzli-Archiv) geht hervor, dass Ritter im Sommer 1932 noch unbezahlt am Burghölzli weiterarbeitete, um «unbesoldet bei uns einige wissenschaftliche Arbeiten beendigen» zu können. Es ist möglich, dass zu jener Zeit Ritters Interesse an den Jenischen erwacht ist. Biografische Angaben bei Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 133ff. Die Literatur zur Forschungstätigkeit von Ritter und seinen (während des Krieges überwiegend weiblichen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist umfangreich. Siehe Kenrick/Puxon, Sinti, 1981; Müller-Hill, Wissenschaft, 1984; Gilsenbach, Lolitschai, 1988; Winter, Kontinuitäten, 1988; Hohmann, Ritter, 1991; Zimmermann, Feindschaft, 1992; Schmidt, Entdeckung, 1996; Willems, Search, 1997; Milton, Photography, 1999. Die Materialien der Zigeunerforschung dienten noch bis in die jüngste Zeit als Grundlage für anthropologische Forschungsarbeiten. Siehe Hohmann, Ritter, 1991; Schenk, Rassismus, 1994, S. 173–220.

[194]  Ritter, Menschenschlag 1937, S. 82.

[195]  Neureiter, Kriminalbiologie, 1940, S. 54: «Je mehr Jenische sich unter den Vorfahren eines Individuums finden, um so asozialer und krimineller ist die Lebensführung des betreffenden Abkömmlings.» Neureiter war bis 1941 Leiter der «Kriminalbiologischen Forschungsstelle» des Reichsgesundheitsamtes und in dieser Funktion Ritters Vorgänger. Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 29f.

[196]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, insb. S. 15–56.

[197]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 133–184; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 147–162.

[198]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 141f.

[199]  Auch die Definition der jüdischen «Rassenzugehörigkeit» führte in der Praxis der Nationalsozialisten zu zahlreichen Widersprüchen. Siehe Rethmeier, Rassengesetze, 1995; Friedländer, Germany, 1997, S. 145–173.

[200]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 139–155; Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 76ff.

[201]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 78ff.

[202]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 71f.; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, 148f.

[203]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1991; Winter, Kontinuitäten, 1988; Fings/Sparing, Vertuscht, 1995.

[204]  Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 893.

[205]  Roma- und Sinti-Kinder wurden im gesamten Reichsgebiet im März 1941 vom Schulbesuch ausgeschlossen; Roma und Sinti verloren ihre Arbeitsplätze und wurden im März 1942 arbeits- und sozialrechtlich den Juden gleichgestellt. Auch mussten sie eine «Rassensondersteuer» bezahlen. Siehe Rose, Rauch, 1999, S. 81–103.

[206]  Der «Festsetzungserlass» ging auf eine Konferenz zurück, auf welcher die Deportation der Juden aus dem Reich und der Roma und Sinti nach Polen beschlossen wurde. Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 893. Die Bewegungsfreiheit der Juden wurde im Herbst 1941 – in Verbindung mit dem Auswanderungsverbot – definitiv aufgehoben. Wegen des Krieges und der geringen Bereitschaft der Zufluchtsstaaten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, waren auch für Juden die faktischen Fluchtchancen ab 1939 minimal. Siehe Friedländer, Germany, 1997; S. 248ff.; Kwiet, Pogrom, 1988.

[207]  Milton, Weg, 1995, S. 40f. zum so genannten Nisko-Plan, der die «Umsiedlung» der Roma und Sinti ins Generalgouvernement vorsah; siehe auch: Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 170ff. zu den divergierenden Plänen.

[208]  Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 128; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 172–183.

[209]  613 starben vor Ende Dezember 1941. Zum Lager Lackenbach: Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 895f.

[210]  Ficowski, Trauer, 1992, S. 71–74; Lackenbach: Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 895f.

[211]            Krausnick/Wilhelm, Truppe, 1981; Kenrick/Puxon, Sinti, 1981, S. 93–105; Ogorreck, Einsatzgruppen, 1996. Otto Ohlendorf, Führer der Einsatzgruppe D, sagte im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess aus, für die «Zigeuner» hätten dieselben Bestimmungen gegolten wie für die Juden: Kinder seien ebenso zu töten gewesen wie die Erwachsenen. Siehe Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 261f.

[212]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 277–283; Ficowski, Trauer, 1992, S. 65ff.

[213]  In Serbien wurden Roma nach dem deutschen Überfall im Frühling 1941 denselben Bestimmungen unterworfen wie die Juden, in Konzentrationslager gesperrt und bei Massenerschiessungen ermordet. Bei Geiselerschiessungen wählten Wehrmachteinheiten ihre Opfer meist unter den Juden und Roma. Auf einen deutschen Soldaten, der Partisanenangriffen zum Opfer gefallen war, wurden 100 Geiseln erschossen. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 250ff.; Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 79.

[214]  Ein Überblick bei Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 284–292; Kenrick/PuxonSinti, 1981, S. 93–105 und Ioanid, Holocaust, 2000.

[215]         Staatsanwaltschaft Hamburg, Verfahren 2200 Js 2/84: RSHA Schnellbrief betr: Einweisung von Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager, 29.1.1943. Der unpublizierte Erlass vom 16.12.1942 ist verschollen, auf das Datum desselben verweist jedoch der Schnellbrief vom 29.1.1943.

[216]  Ritter und das RKPA konnten sich gegenüber Himmlers ursprünglichen Plänen durchsetzen, «rassenreine Zigeuner» von der Deportation auszunehmen und in ein speziell einzurichtendes Reservat einzuweisen. Lewy, Himmler, 1999. Siehe auch: Rose, Rauch, 1999. Der Auschwitz-Erlass ist abgedruckt bei Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 115–117.

[217]  In Belgien und Holland fanden seit Ende 1943 Razzien auf «Zigeuner» statt. Die Verhafteten wurden in den für die Deportation der Juden errichteten Sammellagern eingesperrt. Im Januar 1944 wurden 360 «Zigeuner» aus Belgien und Nordfrankreich, im Mai 1944 245 aus dem niederländischen Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 311–315. Die in Frankreich lebenden «Zigeuner» waren bei Kriegsbeginn in Lagern interniert worden, ebenso die 1940 von den Deutschen aus Lothringen und dem Elsass ins unbesetzte Frankreich vertriebenen Roma und Sinti. Zu Frankreich siehe Peschanski, Tsiganes, 1994; France, 1995.

[218]  Siehe Rose, Rauch, 1999, S. 105–114; Rose, Völkermord, 1995, S. 56ff., die meisten wehrpflichtigen Roma und Sinti waren schon 1941 auf Drängen der Partei aus der Wehrmacht ausgeschlossen worden.

[219]  Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 326–344; Rose, Rauch, 1999, S. 218–233, dort auch Berichte von Überlebenden; Fings, Sinti, 1996, S. 102–117; Auschwitz, 1996; Burleigh/Wippermann, Racial State, 1991 (mit Lagerplan, S. 124).

[220]  Piper, Number, 1996, S. 190.

[221]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 381ff.

[222]  Hohmann, Kriminalbiologie, 1996, S. 78ff zu Überlieferungslücken und methodischen Problemen der Datenerhebung.

[223]  Kenrick/Puxon, Sinti, 1981, S. 135, schätzen die Zahl der Opfer auf mindestens 219 000; Hohmann, Kriminalbiologie, 1991, S. 80, auf über 200 000; Rose, Völkermord, 1995, S. 9, nennt die Zahl von 500 000 und Hancock, Genocide, 1997, gelangt zu einer Gesamtzahl von 1–1,5 Millionen. Die Tatsache, dass die Schätzungen so stark divergieren, hat mit den europaweit feststellbaren Forschungsproblemen zu dieser Thematik zu tun, mit welchen auch die vorliegende Studie konfrontiert war.

[224]  Reemtsma, Sinti, 1996, S. 66ff.

[225]            Freudenberg/Freudenberg/Heuss, Erinnerung, 1992; Riechert, Sterilisationspolitik, 1995, S. 124ff; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 376.

[226]  Zur Konfiskation des Eigentums deportierter Roma und Sinti: Milton, Antechamber, 1998, S. 394. Die Konfiskation stützte sich auf einen Beschluss des Reichsinnenministeriums vom 26. Januar 1943, wonach die «in ein Konzentrationslager eingewiesenen zigeunerischen Personen» als «volks- und staatsfeindlich bzw. reichsfeindlich» gälten und eine Verfügung vom 17. Februar 1944, wonach der Nachlass der in den Konzentrationslagern Verstorbenen, auch der «Zigeuner», ans Reich fallen solle. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 319f.

[227]  Einen Hinweis auf den Wohlstand einiger deutscher Sintifamilien gibt ein Schreiben des Heeresadjudanten bei Adolf Hitler, Major Engel, der 1941 im Zusammenhang mit dem Ausschluss von «Zigeunermischlingen» aus der Wehrmacht feststellte, dass einige «ehemalige Zigeunerfamilien» mit deutschen Pässen «gutgehende Geschäfte» hätten. Kotze, Heeresadjudant, 1974, S. 80.

[228]  Prof. Joachim Hohmann (Weingarten), Gutachtliche Äusserung. 10. Februar 1997, und Reimar Gilsenbach (Brodowin), Verluste der Roma während der rassischen Verfolgung 1933 bis 1945, 16. Februar 1997, S. 2. Beide Dokumente sind der UEK hinterlegt worden.

[229]  Rose, Völkermord, 1995, S. 134. Akten des «Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen in Baden» befinden sich im Bestand 456 d, 208 des Generallandesarchivs Karlsruhe. Aus einem Rundschreiben der Gauleitung Baden an alle Kreisamtsleiter der NSDAP vom l4. August 1943 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 456 d, 779) geht hervor, dass Inventarien der beschlagnahmten Vermögenswerte vorlagen. Die Finanzakten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg im Landesarchiv Berlin enthalten mehrere Wiedergutmachungsanträge sowie ausgefüllte Vermögenserklärungen von Berliner Roma vor deren Deportation 1943.

[230]  Rose, Völkermord, 1995, S. 130.

[231]  Zitiert nach Höss, Kommandant, 1958, S. 164.

[232]  UEK, Goldtransaktionen, 1998, S. 33–39, 46 und 52f.

[233]  UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 75–102, insb. S. 88ff.; Bourgeois, Suisse, 1998; Cerutti, Suisse, 1998, Haas, Reich, 1998.

[234]  Weiss an Frölicher, 27. Mai 1940. BAR E 27 / 9564. Bei den von Weiss erwähnten Ereignissen handelte es sich um die «Maideportation», bei welcher rund 940 Personen von Köln nach Warschau deportiert wurden. Rose, Völkermord, 1995, S. 88–96; Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 173f.

[235]  Ludwig, Flüchtlingspolitik, 1957, S. 234.

[236]  Protokoll über die Besprechung der Frage betreffend die Mitwirkung des Zolldienstes bei der Durchführung der Fremdenpolizeikontrolle, 17. Dezember 1936, BAR E 6351 (F) 1, Bd. 522; Polizeiabteilung des EJPD an die Abt. für Auswärtiges des EPD, 7. März 1935, BAR E 2001 (D) 1, Bd. 95. Vgl. auch UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 137f.

[237]  UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 134–138.

[238]  UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 139ff.

[239]  Ein «Circolare» vom 8. August 1926 verlangte, «[di] epurare il territorio nazionale della presenza di carovane di zingari, di cui è superfluo ricordare la pericolosità nei riguardi della sicurezza e dell’igiene pubblica [...] e colpire nel suo fulcro l’organismo zingaresco.» Zitiert nach Boursier, Persecuzione, 1996, S. 1068. Ende der 30er Jahre wurden die verbliebenen Sinti und Roma in Italien in Lagern interniert, wo viele an Hunger und Krankheiten starben. Siehe Boursier, Persecuzione, 1996, S. 1068ff.

[240]  «Spezialrapport betreffend Übergabe der Zigeunerbande» von Landjäger Schneller zuhanden des Landjägerkommandos Graubünden, 9. Januar 1931, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[241]  Das Schweizer Konsulat in Milano an die Direktion der Zentralpolizei Fribourg, 23. Januar 1929, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[242]  Kantonales Landjägerkommando Graubünden an die Polizeiabteilung des EJPD, 17.9.1930. Dieselbe Gruppe war im August 1929 auch im Wallis aufgegriffen worden. Rapport von Korporal Schnydrig, Grenzposten Gondo, 27. August 1929, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[243]  Kantonales Landjägerkommando Graubünden an die Polizeiabteilung des EJPD, 17.9.1930. BAR E 4264 (-) 1988/ 2, Bd. 314.

[244]  Oberzolldirektor Arnold Gassmann an die Aussenpolitische Abteilung des EPD, 3. September 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[245]  Akten in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[246]  UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 138ff.

[247]  Der Schweizer Gesandte in Rom, Georges Wagnière, an Bundesrat Häberlin, 27. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[248]  Das von der Polizeiabteilung angelegte Dossier zur Familie M. beginnt im Herbst 1929 mit einem Aktenstück aus dem «Zigeunerregister» – den Kopien der anthropometrischen Messkarte des Familienoberhaupts Carlo M. samt Fotos und Daktyloskopien. Das Dossier reicht bis ins Jahr 1993, als die letzten Nachfahren von Carlo M. eingebürgert wurden. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314, Dossier P 36529.

[249]  Anstelle der Unterschrift von Carlo M. ist auf einem Dokument der polizeiliche Vermerk angefügt: «Ne s’est pas écrire» [sic]. Siehe das Dossier in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[250]  Interview von Thomas Huonker, 5. Februar 1998 (Tonbandaufzeichnung, UEK).

[251]  Bericht von Riedtmatten, Leiter des Erkennungsdienstes in Brig, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[252]  Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[253]  Der Tod des Kindes ist lediglich in der Spesenabrechnung der Tessiner Behörden vom 17. Dezember 1930 erwähnt, die «spese straordinarie per funerale, ospedale, trasporto funebre di un bambino decesso causa infortunio» vermerkt. Über den Aufenthalt der Familie im Hof des Polizeigebäudes schrieb der Kommandant Ferrario am 16. Januar 1930: «Questa famiglia al pretorio non si può continunare a tenerla. Il nostro pretorio non e costruito per il ricovero die questi elementi e d’altra parte no si possono tenere rinchiuse giorno e notte nelle carceri [...] Poiché il pretorio di Locarno si trova in mezzo all’abitato, lo spettacolo che offre questa disgraziata famiglia di zingari nel giardino del pretorio stesso, durante il giorno non può essere tollerato.» BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[254]  Bericht von Riedtmatten, 7. Mai 1930, BAR E 4264(-)1988/2, Bd. 314.

[255]  Zur Etymologie siehe: Wippermann, Zigeuner, 1997, S. 98; zu antiziganistischen Stereotypen auch: Awosusi, Stichwort, 1998; Reemtsma, Sinti, 1996, S. 30ff.

[256]  So Frölicher in einem Schreiben an die Oberzolldirektion, 10. März, BAR E 6351 (F) Bd. 522; siehe auch: UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 139f.

[257]  Der Postenchef von Gondo an den Sektionschef in Naters, 26. April 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[258]  «Popolo e Libertà», 8. Mai 1930; «Le travail», 16. April 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[259]  Remonda an Motta, 13. Mai 1930. Motta zeigte kein Verständnis und empfahl Rothmund, die Eingabe abschlägig zu beantworten. Motta an die Polizeiabteilung, 14. Mai 1930, Rothmund an Remonda, 17. Mai 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[260]  Rothmund an das Tessiner Polizeidepartement, 19. Februar 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[261]  Die Ausweisschriften der Familie waren 1931 in Brig konfisziert worden. Carlo M. richtete am 22. Dezember 1932 ein Gesuch um Rückgabe der Papiere an den Bundespräsidenten, erhielt aber lediglich einen Ausländerausweis zugestellt, da ihm Rothmund den Schweizerpass explizit verweigerte. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[262]  Schreiben der Polizeiabteilung vom 5. Oktober 1935, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[263]  «Le Conseil d’Etat s’oppose à l’établissement en Valais de la famille de tziganes M..» Auszug aus dem Protokoll der Staatsratssitzung vom 17. November 1936. Die Luzerner Behörden verweigerten Carlo M. die Ausstellung eines Hausierpatents. In Luzern hielten sich seit Herbst 1935 auch die beiden andern in der Schweiz tolerierten Sinti-Familien Z. und H. auf. Polizeidirektor Heinrich Walther verlangte vom Bund eine anderweitige Unterbringung der «Zigeunerfamilien». Walther an die Polizeiabteilung, 12. November 1935. Der Polizeidirektor des Kantons Tessin, Enrico Celio, lehnte die Duldung der «zingari vagabondi» ebenfalls ab. Der Polizeidirektor des Kantons Tessin an das EJPD, 3. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[264]  Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther, 19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[265]  Aktennotiz vom 11. August 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[266]  Baumann an den Luzerner Polizeidirektor Walther, 19. Dezember 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[267]  Jezler an die Polizeidirektion Tessin, 30. März 1937. Die Tessiner Behörden rieten von der Ausschaffung nach Italien ab, da zu befürchten sei, dass die italienischen Grenzwächter von ihren Schusswaffen Gebrauch machen würden: Polizeidirektion Tessin an die Polizeiabteilung, 6. April 1937, M. an die Polizeiabteilung, 4. März 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[268]            Ausweisungsverfügung von Polizeidirektor Heinrich Walther an Carlo M., 31. März 1937; das Polizeikommando des Kantons Aargau an das Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[269]  Gegen Loli R. hatte das EJPD wegen Mittellosigkeit und Missachtung von Fremdenpolizeivorschriften am 28. Juli 1937 die Ausweisung verfügt, trotz Johann M.s Zusicherung, für den Unterhalt aufzukommen. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[270]            Polizeikommando des Kanton Aargau an Zentralpolizeibüro, 2. September 1937, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Es handelte sich um die vierzigjährige Hedwig W., um den 35jährigen Georges W., der in anderen Quellen als Ehemann von Hedwig W. bezeichnet wird, sowie um die 75jährige Johanna W.. Georges und Hedwig W. waren im Dezember 1935 mit zwei jüngeren Männern gleichen Namens bei Lausanne ausgeschafft worden. Einige Angehörige dieser staatenlosen Musikerfamilie waren im Elsass geboren, andere hatten schweizerische Geburtsorte. (Hinweise: Wegweisungsdatenbank BAR) Eine weitere Frau mit diesem Familiennamen, die ebenfalls in der Schweiz, in «Fehraldorf, Schw.» [Fehraltdorf ZH] geboren war, wurde nach Auschwitz deportiert. (Gedenkbuch, Bd. I, Nr. 10056, S. 674).

[271]  Bohny-Reiter, Vorhof, 1995, S. 53 und S. 125 erwähnt «meine alte schwyzerdütsch redende Zigeunerin», die offenbar im Dezember 1941 aus dem Internierungslager fliehen konnte, sowie Schweizer- und Elsässerdeutsch sprechende «Zigeunerkinder». Siehe zu Frankreich auch Peschanski, Tsiganes, 1994; zur Situation der Roma in Frankreich auch die Beiträge in Etudes Tsiganes 1995.

[272]  Notiz von Jezler, 8. Februar 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[273]  Das Polizeiinspektorat Basel-Stadt an die Polizeiabteilung, 31. Mai 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314. Aus verschiedenen Briefen geht hervor, dass sich die Leiterin des Heilsarmeeheims, Frau Galbiati, mehrmals für die Anliegen der alten Frau eingesetzt hatte. Die in Zürich geborene Anna R. wurde am 7. Juli 1938 nochmals in Moutier verhaftet und wiederum nach Frankreich abgeschoben. Der diesbezügliche Bericht ist das letzte Dokument, das die Mutter von Carlo M. betrifft. Zeit und Umstände ihres Todes sind nicht bekannt.

[274]  Obwohl Jacques L. in der Schweiz geboren und aufgewachsen war, teilte Jezler Carlo M. am 6. Oktober 1938 mit, dass die Ausstellung von Ausweispapieren für Jacques L. nicht in Betracht komme, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[275]  Die Gemeinde Ardon hatte sich geweigert, die Familie aufzunehmen. Commune d’Ardon an Fremdenpolizei Sion, 10. September 1939; Fremdenpolizei Wallis an Administration communale de Conthey, 20. Oktober 1939, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[276]  Commune de Conthey, Attestation, 25. März 1940, der Bericht des Polizeipostens Brig über die Familie M., vom 3. Mai 1941, vermerkt, dass Peter und Antonio M. im Konkubinat mit den Schwyzer Jenischen Margrit H. und Rosa R. lebten. Bericht von Simmen, Polizeiabteilung, zuhanden von Jezler über das Leben der Familie M., 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[277]  Advokat Bürcher an Eidgenössische Fremdenpolizei, 29. September 1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[278]  Notiz vom 7. Juni 1941, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[279]  Zur Internierung von Fahrenden in Strafanstalten und anderen Institutionen, siehe Huonker, Volk, 1990, insb. S. 90–93.

[280]  Bericht von Simmen, 12. September 1942, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[281]  Bericht von Simmen, 12. September 1942, S. 7, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.

[282]  Jezler an den Walliser Polizeidirektor, 24. März 1943, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314; Tonbandprotokoll Thomas Huonker (UEK) vom 5. Februar 1998.

[283]  Vergleichbar sind die Beispiele anderer in der Schweiz aktenkundig gewordener Staatenloser, so die in UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 140f. dargestellte Fallgeschichte von Johann K. oder das Beispiel des Russen Alexander K., der in den späten 1930er Jahren mehrmals wegen Schriftenlosigkeit zwischen der Schweiz und Frankreich hin- und hergeschoben und in beiden Staaten wegen Landstreicherei und ähnlichen Folgedelikten seines ungeregelten Aufenthaltes bestraft wurde. Im Sommer 1938 wurde K. als «unerwünschter Ausländer», dessen Ausweisung nicht durchführbar war, in der Schweiz interniert. Er verbrachte die folgenden zwei Jahre, ohne sich eines strafrechtlichen Deliktes schuldig gemacht zu haben, in der bernischen Strafanstalt Thorberg und versuchte mehrmals, an das Hochkommissariat für Flüchtlinge des Völkerbundes zu gelangen, um einen Nansenpass zu erhalten. Seine Bemühungen waren vergeblich, denn die Briefe wurden von der Direktion der Strafanstalt zurückbehalten. 1941 wurde er nach Frankreich ausgeschafft, dort verhaftet und im Internierungslager Le Vernet eingesperrt. BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 16.

[284]  Dazu die Dossiers in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 317. Die beiden Familien hatten es Robert Jezler von der Polizeiabteilung zu verdanken, dass sie – trotz des Widerstands von Gemeinden und Kantonen – als Fahrende in der Schweiz bleiben und ihrem angestammten Erwerb als Hausierende und Flickhandwerker nachgehen konnten.

[285]  Dazu die Akten in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 255, BAR E 2001 (D) 1, Bd. 95 sowie in StaZH, Z 6.1650.

[286]  Rekonstruierbar ist die Zahl von 24 398 Wegweisungen während des Krieges, zudem verweigerte die eidgenössische Fremdenpolizei zwischen 1938 und Ende 1944 14 500 Flüchtlingen ein Einreisevisum. Siehe UEK, Flüchtlinge, S. 133ff.; Koller, Entscheidungen, 1996, S. 91ff.; zur Quellenlage: BAR, Flüchtlingsakten, 1999.

[287]  Die Datenbank basiert auf der systematischen Erhebung von Informationen zur Identität, zu den Fluchtgründen und zu den Wegweisungsumständen von weggewiesenen Flüchtlingen. Sie ersetzt damit partiell die verschollene Wegweisungskartei der Polizeiabteilung.

[288]  Vgl. Kapitel 1. 3.

[289]  Die Oberzolldirektion an die Abteilung für auswärtige Angelegenheiten, 6.7.1939, BAR E 2002 (D) 1, Bd. 95.

[290]  Siehe dazu UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 75–88, S. 108–114.

[291]  Kater, Drummers, 1992, S. 178. Reinhardt war beim ersten Fluchtversuch von den deutschen Grenzwächtern aufgegriffen worden und dank Intervention eines jazzbegeisterten Wehrmachtsoffiziers wieder freigekommen, beim zweiten Versuch wurde er von Schweizer Grenzwächtern weggewiesen, konnte aber unbehelligt nach Paris zurückkehren.

[292]  AEG Ef 2, 71, Karteikarte Nr. 8549, siehe auch Schultz-Köhn, Reinhart, 1960, S. 40.

[293]  StAB BB 4.2, 2220, Dossier 4826/43 (Hinweis von Henry Spira).

[294]  Die Weisungen vom 12. Juli 1944 anerkannten erstmals die tödliche Bedrohung von jüdischen Flüchtlingen und hoben die Grenzschliessung für Juden auf. Siehe dazu: Ludwig, Flüchtlingspolitik, 1957, S. 293ff.; Koller, Entscheidungen, 1996, S. 37f.; zur Praxis: UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 154f.

[295]  Zur Geschichte von Anton R. hat Samuel Plattner einen Dokumentarfilm gedreht, zudem ist ihr ein Teil der Ausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg gewidmet: Rose, Rauch, 1999, S. 331–335. Im Schweizerischen Bundesarchiv liegt ein Dossier der Polizeiabteilung vor. Im Staatsarchiv Freiburg werden zudem umfangreiche Gerichtsakten gegen die Mörder von Anton Reinhardt verwahrt. (Staatsarchiv Freiburg i. B., Bestand F 179/6 «Staatsanwaltschaft Offenburg», Pakete 10–16/Nr. 119–123).

[296]  Er gab an, im Gefängnis eine Blinddarmentzündung vorgetäuscht zu haben, worauf ihn die Gestapo ins Spital von Waldshut einlieferte. Von dort sei ihm die Flucht gelungen. Rapport der Station Koblenz an das kantonale Polizeikommando Aarau, 25. August 1944; Abhörungsprotokoll, 28. August 1944, BAR E 4264 (-)1985/196, Bd. 1072.

[297]  Rapport der Station Koblenz an das kantonale Polizeikommando Aarau, 29. August 1944, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1072.

[298]  Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft 5: Abschriften diverser amtlicher Dokumente, Voruntersuchung 1957.

[299]  Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft 5: Abschriften diverser amtlicher Dokumente, erstellt durch Kriminalkommissar Moser in der Voruntersuchung 1957. Für die Sterilisierung lag eine «gutachterliche Äusserung» der «Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle» des Reichsgesundheitsamtes in Berlin bei, welche Anton Reinhardt als «Zigeunermischling» klassierte.

[300]  Die Mutter von Anton Reinhardt machte 1946 folgende Angaben zu den Familienverhältnissen: Sie sei 1903 in «Füet, Kanton Bern [Le Fuet]» geboren. Anton sei der Sohn aus erster Ehe mit dem Musiker Ludwig R. 1934 habe sie den Korbmacher Johann Bü. gerheiratet. 1941 wohnte die Familie Bü. in «Waldshut Lonzabaracken», den Arbeiterbaracken der Schweizer Chemiefirma Lonza, in denen später auch Zwangsarbeiter untergebracht waren. Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6 Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft 1; Paket 10, Nr. 119, Heft 5.

[301]            Abhörungsprotokoll, Aarau, 30. August 1944, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1072.

[302]  Die Polizeiabteilung an Pol.Of.Ter.Kdo. 5, 5. September 1944, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1072.

[303]  Ludwig, Flüchtlingspolitik, 1957, S. 293.

[304]  Geflohene Zwangsarbeiter und Stellungspflichtige, die sich einem Aufgebot entzogen, konnten gemäss Interpretation der Polizeiabteilung weiterhin weggewiesen werden. Tatsächlich verweigerten die Behörden auch im Spätsommer 1944 verschiedentlich Zwangsarbeitern das Asyl. Siehe Ludwig, Flüchtlingspolitik, 1957, S. 294, sowie die Korrespondenz zwischen Zollbehörden und der Polizeiabteilung in BAR E 6351 (F) 3, Bd. 14.

[305]  Rapport des Grenzwachtkorps des I. Zollkreises, Benken, 9. September 1944. Abhörungsprotokoll, Aarau 8. September 1944, Schneeberger an die Polizeiabteilung, 12. September 1944; BAR E 4264 (-) 1985/196, 1072.

[306]  Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft l. Aussage der Mutter von Anton Reinhardt vom 21. Oktober 1946.

[307]  Der gesamte Hergang ist dokumentiert in den Akten der Staatsanwaltschaft Offenburg, Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, ldf. Nrn. 119–123, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft 1. Der Totengräber, der die Leiche nach der Exhumierung 1946 auf dem Friedhof beisetzte, vermutete, Anton R. sei lebend in die Gruben geworfen und begraben worden, weil an den Fingerspitzen der Leiche das Fleisch fehlte. Bei den Akten liegt auch ein Abschiedsbrief von Anton Reinhardt an seine Mutter: «Meine liebe Mutter. Ich will euch meine[n] letzte[n] Wunsch mitteilen da [ich euch] nicht mehr sehen [werde]. Ich wünsche euch eine gute Gesundheit und ein langes Leben. Gute Nacht. Anton B.»

[308]  «Der Mann, welcher am 31. März 1945 erschossen worden ist, war [...] ein Deutscher namens Anton R.» Rapport des Sergeant Bruce, Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft l.

[309]  Die Anklage der Staatsanwaltschaft hatte auf Mord gelautet, das Delikt wurde vom Gericht aber als Totschlag eingestuft. Die Eltern von Anton R. hatten bereits 1949 darauf gedrängt, dass ein Verfahren gegen die Täter eingeleitet werde. Hauger hatte sich schliesslich der Justiz gestellt, weil er – wie er dem Mitangeklagten Wipfler gegenüber geäussert haben soll – «das Zigeunerleben» satt gehabt habe [!]. Staatsarchiv Freiburg i.Br., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft l–3; Urteil des Landgerichts in Karlsruhe vom 10. Juli 1961.

[310]  Lucassen, Zigeuners, 1990.

[311]  Notizen über den Fall B., BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[312]  Die Polizeiabteilung beklagte sich bei der Gesandtschaft, weil diese der Familie B. trotz einer Ausschreibung im Polizeianzeiger einen Pass ausgestellt habe. (Rothmund an die Schweizer Gesandtschaft in Brüssel, 27. Juni 1930) Allerdings scheute sie davor zurück, den ausgestellten Schweizerpass gegenüber den Holländern «wegen Irrtum» als ungültig zu bezeichnen, «da dies dem Kredit des Passes schwere Einbusse zufügen müsste.» Rothmund an de Pury, Schweizer Gesandter in Holland, 7. Juli, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[313]  Brief Rothmund an Polizeidepartement Basel, 28. Januar 1931, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[314]  Der niederländische Botschafter an die Polizeiabteilung, 23. Mai 1931, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142. «Pour le moment, dans l’intérêt de la famille B., l’autorité compétente aux Pays-Bas a résolu de suspendre provisoirement le rapatriement.»

[315]  Max Ruth an den Schweizerischen Polizeianzeiger, 21. August 1931, BAR E 4264 (-) 1988/2, 142.

[316]  de Pury an Rothmund, 19. Juni 1931, Rothmund an de Pury, 25. Juni 1931, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[317]  Renz an EJPD, 12. Januar 1935 (gemeint: 1936), BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[318]  «B., Landina-Elvira-Emma, fille de Gorgonio, et de Lucia B., célibataire, originaire de Civitella d’Agliano (Rome, Italie), née à Vevey le 11 juin 1910, décédée à Vevey le 18 juillet 1911.» L’officier de l’Etat – Civil an Polizeiabteilung, 10. Januar 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[319]  Die Familie B. wohnte in Belgien, machte aber öfters Tourneen nach Holland, wie der Schweizer Gesandte in einem Schreiben mitgeteilt hatte. De Pury an Rothmund, 1. Juli 1930, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[320]  Das Schweizer Konsulat in Amsterdam an Rothmund, 17. März 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142. Der Zirkus Krone taucht in einer Aufstellung von Unger, eines Mitarbeiters der Forschungsstelle Robert Ritters auf, ebenso die Schweizer Zirkusdynastien Nock und Stey. BAB, R 165/213.

[321]  Der Schweizer Konsul von Amsterdam an Rothmund, 28. Februar 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Josefs Mutter Katharina F. ihren Lebenspartner W., heimatberechtigt in Isenheim, Elsass, geheiratet und dass sie oder ihr Sohn Josef deshalb das Schweizer Bürgerrecht verloren hätten. Dazu die Akten in StAB, BB 4.2.213 sowie ein der UEK vorliegender Auszug aus dem Zivilstandsregister der Gemeinde Mörschwil, SG.

[322]  Bericht Jezler, undatiert, [1938] Zigeuner in Holland, S. 1, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[323]  Die Mutter hatte sich 1916 von N. scheiden lassen. Geburtenregisterauszug vom 10. Juni 1943 mit Randbemerkung vom 10. Oktober 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142. Die Familie N. ist eine jenische Familie mit Schweizer Bürgerrecht, von der laut Auskunft des Bundesarchivs 73 Personen in den Akten des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» figurieren und über die Alfred Siegfried, der Leiter des «Hilfswerkes», einen Stammbaum erstellt hat. Die Familie F. dagegen wurde von der Forschungsstelle Robert Ritters erfasst. In den diesbezüglichen Beständen des Bundesarchivs Berlin, die im Rahmen des Mandats der UEK nur zum kleinsten Teil durchgesehen werden konnten, ist genealogisches Material zur Familie F., u.a. zu einem weiteren Josef F., geb. 25. Juni 1863, zu finden. BAB, R 165, R 5; R 165/144.

[324]  Bericht Jezler, [1938], Amtes für Zivilstand an das Konsulat in Antwerpen vom 7. November 1936, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[325]  Das Schweizer Konsulat in Amsterdam an Rothmund, 17. März 1938, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[326]  Bericht Jezler [1938]. Jezler wies die Zivilstandsämter an, allfälligen Gesuchen des F. für die Ausstellung von Urkunden nicht zu entsprechen, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[327]  Siejes, Vervolging, 1979, S. 116–122, und Lucassen, Zigeuners, 1990, S. 217f.

[328]  Lucassen, Zigeuners, 1990, S. 217. Wie die Überlebenden nach dem Krieg mündlich mitteilten, waren die italienischen Ausweise zum Teil gefälscht, die guatemaltekischen waren ihnen aus humanitären oder gewinnsüchtigen Motiven ausgestellt worden. Siejes, Vervolging, 1979, S. 120. Siehe auch UEK, Lösegelderpressungen, 1999, Kapitel 6.3.

[329]  Zu den Nachfahren der Artistenfamilie B. gehört eine angesehene Gypsy Jazz Formation in den Niederlanden, bekannt durch die Produktion Basily, Antara (CLCD Nr. 8046–040).

[330]  Siejes, Verfolging 1979, S. 120. Siejes führt dies an – wahrscheinlich in der irrtümlichen Annahme, F. sei als Gatte von Carolina B. ebenfalls von der Transportliste gestrichen worden. Das war aber nicht der Fall.

[331]  Zu dieser Frage – sowie dem ganzen Themenkomplex des diplomatischen Schutzes von Auslandschweizern sowie der humanitären Interventionen zugunsten nicht schweizerischer NS-Verfolgter – besteht weiterhin grosser Forschungsbedarf.

[332]  Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 343; Czech, Kalendarium, 1989, S. 838.

[333]  Czech, Kalendarium, 1989, S. 840.

[334]  Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau: Gestapo tódz, t.6, S. 100, Sygn.: IZ–8/Gestapo tódz/4a, Nr.: 155917.

[335]  Archiv der Gedenkstätte Buchenwald. Wir danken Herrn Frank Reuter vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg, für den Hinweis auf das Dokument.

[336]  Die Angaben zu den Geburtsorten und den Geburtsdaten auf den beiden Listen stimmen mit den bekannten Zivilstandsdaten der Familie weitgehend überein, allerdings wird Katharina F. im Hauptbuch des Zigeunerlagers Auschwitz unter dem Namen ihres zweiten, aus dem Elsass stammenden Lebenspartners W., mit dem sie vermutlich nie eine Zivilehe eingegangen ist, aufgeführt, ebenso ihre Kinder Maria, Carolina, Anna, Berttis und Hanny, die zum Teil Schweizer Geburtsorte haben. Auf der Transportliste von Westerbork steht sie unter dem Namen Katharina W.-F. Liste Westerbork Nr. 160, Gedenkbuch Auschwitz, Bd. I, S. 716, Nr. 10721.

[337]  Die Polizeiabteilung an die holländische staatliche Inspektion der Melderegister, 19. April 1948, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 142.

[338]  Dies ist einerseits auf die eigene Rechtstradition von Roma, Sinti und Jenischen zurückzuführen, anderseits auch eine Folge der noch im 19. Jahrhundert lange aufrechterhaltenen Eheverbote und -hindernisse für heimatlose, nicht sesshafte oder unterstützungsbedürftige Personen. Siehe Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998.

[339]  Ruth, Bürgerrecht, 1942, S. 9.

[340]  Vischer-Frey, Erwerb, 1949, S. 141–153; Vischer-Frey, Staatsangehörigkeit, 1952, S. 89ff.

[341]  BGE, 75 II 3; Lemp, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, 1968, ZGB Art. 161 Abs. 1, S. 47ff., zur Ausweisungspraxis auch: UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 156f.

[342]  Es entsprach nicht der Intention des Gesetzgebers, dass eine Schweizerin bei der Heirat mit einem Ausländer automatisch ihr Bürgerrecht verlieren sollte. Dennoch setzte sich dieses Prinzip in der Praxis durch. Das Bundesgericht vertrat freilich den Standpunkt, dass eine mit einem Ausländer verheiratete Schweizerin ihr Bürgerrecht wieder erlangen könne, wenn Gefahr bestehe, dass sie staatenlos werde. Siehe Bigler-Eggenberger, Bürgerrechtsverlust, 1999, S. 35.

[343]  Die Akten dazu in BAR, E 4001 (C)1, Bd. 146, E 4260 (C), 1974/35, Bd. 53; Botschaft des Bundesrates vom 9. August 1951 betreffend einem neuen Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerischen Bürgerrechts.

[344]  Picard, Schweiz, 1997, S. 208ff.

[345]  Die Ausbürgerung der Juden erfolgte auf Grundlage der am 25. November 1941 in NS-Deutschland erlassenen 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935, die 12. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. April 1943 enthielt analoge Bestimmungen für Roma und Sinti, wobei die meisten gegen Juden gerichteten Massnahmen jeweils auch auf Roma und Sinti angewendet wurden. Walk, Sonderrecht, 1996, S. 357, S. 397; Friedlander, NS-Genozid, 1997, S. 409f.

[346]  Vischer-Frey, Staatsangehörigkeit, 1952, S. 99f. auch: Mächler, Kampf, 1998, S. 357ff.

[347]  Auszug aus dem Zivilstandsregister der Gemeinde Birmensdorf (ZH) im Besitz der UEK. Bericht von Familienangehörigen, Sendung von Südwestfunk 2, 15. April 1998; Aufzeichnung im Besitz der UEK. Ein Bruder von Kaspar H., der ebenfalls in der Schweiz geborene Alois H., wurde in den Konzentrationslagern Dachau und Sachsenhausen eingesperrt, Schreiben der Gedenkstätte Sachsenhausen an die UEK, 20. April 1999. Im Familienbesitz (Kopie im Archiv der Radgenossenschaft) befindet sich ein Brief von Alois H. an seine Familie vom 30. Mai 1942 aus dem KL Dachau.

[348]  Schürch, in Vertretung des Chefs der Polizeiabteilung, an Brunner, 21.3.51. BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 46.

[349]  Zu Schürch, der 1940–1954 Chef der Flüchtlingssektion des EJPD war, siehe UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 320.

[350]  Jezler an Bundeskanzler Leimgruber, 20. Juli 1951. BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 46.

[351] UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 263ff; S. 175ff.

[352]  Siehe Milton, Persecuting, 1998; Milton, Sinti, 2000; zur Forschung: Hohmann, Kriminalbiologie, 1991; Hohmann, Zigeunerverfolgung, 1981, S. 198ff.; Winter, Kontinuitäten, 1988.

[353]  Margalit, Zigeunerpolitik, 1945.

[354]  Körber, Wiedergutmachung, 1988; Spitta, Entschädigung, 1989.

[355]  France, 1995.

[356]  Zu Dickopf siehe: Greilsamer, Interpol, 1986; Mergen, BKA-Story, Bresler, Interpol, 1993; Im schweizerischen Bundesarchiv liegen umfangreiche Dossiers zu Dickopf als Flüchtling und Geheimdienstagent vor: BAR E 27 / 10755; BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1094. Dickopf war während wie nach dem Krieg eng befreundet mit dem Lausanner Nationalsozialisten François Genoud, dem Verleger von Schriften Hitlers und Goebbels. (Siehe auch Laske: Leben, 1996). Genoud und Dickopf arbeiteten während des Kriegs von der Schweiz aus auch als Gold- und Devisenhändler zusammen; Dickopf logierte unter falschem Namen in der Wohnung von Genoud. In einem der zahlreichen in der Schweiz verfassten Lebensläufe schilderte Dickopf detailliert die Tätigkeit der Einsatzgruppen und Massenmorde an Juden und Kommunisten an der Ostfront: Bericht 4927 d, BAR E 27 / 9928. Siehe auch: Haas, Reich, 1994, S. 163ff.

[357]  Dickopf an das schweizerische Zentralpolizeibüro, 14.8.1959, BAR E 4326 (A) 1991/186, Bd. 2; Dickopf an das schweizerische Zentralpolizeibüro, 4.9.1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[358]  Initiiert wurde der Wiederaufbau vom Belgier Florent Louwage, der von der neueren Forschung als Nazi-Kollaborateur bezeichnet wird; siehe Fijnaut, Louwage, 1993, S. 200. Massgeblich beteiligt war auch der frühere Schweizer IKPK-Delegierte Werner Müller. Für diese Veteranen der internationalen Polizeizusammenarbeit hatte die nationalsozialistische Übernahme des Gremiums offensichtlich keine Probleme hervorgerufen, denn sie betonten Tradition und Kontinuität der Organisation und bemühten sich um die Wiederbeschaffung der alten IKPK-Akten und Register. Siehe Bericht über die XIV. Session der IKPK vom 3. bis 6. Juni 1946 in Brüssel, BAR E 4260 (C) 1974/34, Bd. 39; Korrespondenz zwischen Müller und Louwage von 1946 in BAR E 4322 (-) 1991/156, Bd. 9.

[359]            Fahndungsblätter in BAR E 4326 (A) 1991/186, Bd. 2 und BAR E 4322 (-) 1991/156, Bd. 50.

[360]  Louwage, Psychologie, 1972, S. 104, 122.

[361]  Die hier benutzten Akten aus dem Bestand «Korrespondenz Interpol/Erkennungsdienst/Zentralstellendienste» zur «Zigeunersippe Sch. – W.» und zu Stanislaus Sch. waren wahrscheinlich Teil der «Zigeunerregistratur» beim Zentralpolizeibüro und sind zum Teil mit der Registraturnummer «A.156.1» versehen. Von diesem Bestand wurde offensichtlich nur jedes fünfzigste Dossier aufbewahrt wurde. BAR E 4326 (A) 1991/186, Bd. 2.

[362]  Rapport des Genfer Polizei-Brigadiers Zysset, 21. Juli 1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[363]  Eidgenössische Oberzolldirektion an die Polizeiabteilung, 6. August 1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[364]  Kreisschreiben der Eidgenössischen Fremdenpolizei vom 23. Juli 1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[365]  Rapport des Genfer Polizeibrigadiers Zysset vom 21. Juli 1959; Aktennotiz Mumenthaler, Bern, 8. August 1959, Pressecommuniqué der Berner Kantonspolizei vom 19. August 1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[366]  Zur eingehenden Kontrolle der Fahrzeuge und Wohnstätten im Kanton Zürich: Rapport des Polizeigefreiten P.M. an das Polizeikommando Zürich, 11. August 1959, BAR E 4264 (-) 1988 / 2, Bd. 1535.

[367]  «Dass diese Diebstähle und Betrügereien grösseren Umfang angenommen haben, geht schon aus der Tatsache hervor, dass der ganze sichergestellte Konvoi (Automobile und Wohnwagen) einen Wert von ca. Fr. 150 000 repräsentiert. Diese Nachricht deckt sich insofern mit unseren Beobachtungen, da sich in den Kofferräumen ihrer Wohnwagen gestohlene Kaninchen und Hühner befanden.», Pressecommuniqué der Berner Kantonspolizei vom 19. August 1959, BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535.

[368]            Erkennungsdienst der Kantonspolizei Bern an das Zentralpolizeibüro, 25. August 1959, mit beigelegten «Daktybögen und Photos» von 17 Personen, darunter auch die älteren Kinder der Gruppe. Die Ausweisung wurde am 1. September 1959 von der Kantonspolizei Bern verfügt. BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 1535. Was mit der beschlagnahmten Handelsware und dem Bargeld von insgesamt SFr. 4009.– geschah, geht aus den Akten nicht hervor. Archiv BAP, 740.10.3.

[369]  Kreisschreiben der Fremdenpolizei an die Polizeidirektionen der Kantone sowie an die schweizerischen Vertretungen in Westeuropa vom 17. Oktober 1960, Archiv BAP, 740.10.1.

[370]  Kopien in BAR E 4326 (A) 1991/186, Bd. 2.

[371]  Das Zentralpolizeibüro an das BKA Wiesbaden, mit Kopie an Interpol Paris, 12. September 1969; Police de Sûreté, Lausanne, ans Zentralpolizeibüro, 9. September 1969, BAR E 4326 (A) 1991/186, Bd. 2.

[372]  Unter fahrenden Roma ist es üblich, das Vermögen in Form von Schmuck, Gold und Bargeld mitzuführen. Prof. Joachim Hohmann, Gutachtliche Äusserung. 10. Februar 1997; Reimar Gilsenbach, Verluste der Roma während der rassischen Verfolgung 1933 bis 1945, 16. Februar 1997. Beide Dokumente sind im Besitz der UEK.

[373]  Jan Cibula ist Mitbegründer von Organisationen wie der Radgenossenschaft und der Romani Union. Sein Engagement für die Menschenrechte wurde 1985 mit dem Kulturpreis der Stadt Bern ausgezeichnet. Einzig anlässlich des internationalen Treffens der Zigeunermissionen in Sevelen, St. Gallen, 1957 erhielten auch Roma als Mitglieder der Delegationen aus 14 Ländern Einreisebewilligungen. Der Zigeunerfreund, Nr. 64, Dezember 1957, S. 4f.

[374]  Huonker, Volk, 1990, Interview mit Robert Huber aus dem Jahr 1986, S. 239.

[375]  Kantonspolizei Zürich (Bibliothek), Unsere Kriminalregistraturen, Zürich o.J., S. 14. Das aus den 1950er Jahren stammende Heft führt in seiner Liste ein Jenischenregister an. Ob auch andere Kantons- oder Stadtpolizeibehörden solche Spezialregister über Jenische einrichteten, konnte im Rahmen dieses Berichts nicht abgeklärt werden.

[376]  Schürch, Polizeiabteilung an Victor T. Hasler, 30. Juni 1970. Das Schreiben ist die Antwort auf eine Anfrage der Schweizerischen Zigeunermission, die moniert, dass «die (oft peinliche) Frage» gestellt werde, aus «welchen Gründen in der Schweiz keine Zigeuner geduldet werden», Victor T. Hasler an EJPD, 16. Juni 1970, BAP, 740.10.3.

[377]  Kreisschreiben der Fremdenpolizei vom 6. Juli 1972 an die Grenzposten, die Fremdenpolizeibehörden der Kantone und an die schweizerischen Vertretungen im Ausland, BAP, 740.10.

[378]  BAP, 740.10. Mit Schreiben vom 19. Juni 1986 hält die Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten zum «Zigeunerproblem» fest, dass zwölf Kantone eine gesamtschweizerisch koordinierte Personen- und Fahrzeugkontrolle von Fahrenden ablehnten. Zur «Fichenaffäre»: Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission EJPD vom 22. November 1989; Kreis, Staatsschutz, 1993.

[379]  Bei einem Besuch im Bundesamt für Polizeiwesen wurde der UEK am 22. Juli 1998 ein Dossier betreffend grenzübergreifende Kontrollen von Fahrenden im Bodenseeraum vorgelegt, das Unterlagen zu Nachkommen von Holocaust-Opfern sowie zu Angehörigen der seit 1936 in der Schweiz tolerierten Sinti-Familien enthält. Die Akten wurden durch Eingabe der Buchstabenfolge «ZIGEU» in der EDV-Datenbank des Bundesamtes für Polizeiwesen gefunden und sind nach Angaben des Bundesamtes das einzige mit dieser Eingabe verzeichnete Dossier.

[380]  Auf biologischen und kriminologischen Prämissen basieren die Arbeiten von Jörger, Siegfried, Waltisbühl sowie verschiedene an Schulen für Soziale geschriebene Diplomarbeiten: Schuster, Familie, 1929; Haenny, Nomades 1935; Fischer, Vagantenfamilie, o.J.; Comte, Familie, 1954; Schwegler, Familie, 1958. Haesler, Enfants, 1955 orientiert sich methodisch an den amerikanischen Sozialwissenschaften, stützt sich aber auf das Material von Jörger, Ritter und Waltisbühl. In der Forschungstradition von Jörger stehen auch Arbeiten der Anstaltspsychiater Pfister, Wahnideen, 1951; Pflugfelder, Vagantenwesen, 1961; Fontana, Nomadentum, 1968. Weniger bekannt sind «erbbiologisch» ausgerichtete Studien, die unter Anleitung des Zürchers Ernst Hanhart entstanden. Gysi, Bestandesaufnahme, 1951 und Wieser, Bestandesaufnahme, 1952 zitieren in ihren Arbeiten Standardautoren der deutschen Rassenhygiene, so: Baur/Fischer/Lenz, Grundriss, 1921. Hanhart war Mitarbeiter des von Günter Just 1940 herausgegeben Werks «Handbuch der Erbbiologie des Menschen».

[381]  Bertogg, Welt, 1946, S. 37–46.

[382]  Dazu die von kriminologischer Fragestellung geprägte Forschung des Österreichers Mergen, Karrner, 1949, auf dessen Ergebnisse sich der Rechtshistoriker Karls S. Bader und seine Schüler an den Universitäten Freiburg i.Br. und Zürich stützten. Neben wohlwollendem Interesse an den Jenischen ist der Einfluss der NS-Zigeunerforschung unverkennbar bei May, Neumühle, 1951 und Burkhardt, Entwicklung, 1966. Zu May: Hohmann, Robert Ritter, 1991, S. 346ff.

[383]            Roth/Schläpfer/Knöpflin (d.i. Kümin), Welt, 1996 und Metz, Geschichte, 1993; dort mit einem eigenen Kapitel über das «Los der Jenischen».

[384]  Minder, Korber-Chronik, 1963 (Erstauflage Zürich 1948).

[385]  Golowin, Zigeuner-Geschichten, 1966; Golowin, Zigeuner-Magie, 1973.

[386]  Zum Werk Mariella Mehrs siehe Literaturverzeichnis; Wegmüller, Werkbuch, 1997. Der als Kleinkind 1928 seiner jenischen Mutter weggenommene und als Pflegekind gemäss dem Gesamtplan des «Hilfswerks» zu nichtjenischen Pflegeeltern verbrachte Peter Paul Moser hat in einer zweibändigen Autobiographie die aktenmässigen Konstrukte seiner Verfolgung berichtigt: Moser, Entrissen, 2000.

[387]  Neuerdings durch die Fotoausstellung von Urs Widmer «Alltag der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz» in der Universitätsbibliothek Basel, 25. Oktober bis 5. Dezember 2000.

[388]  Bericht der eidgenössischen Studienkommission des EJPD: Fahrendes Volk in der Schweiz. Lage, Probleme, Empfehlungen. Bern 1983, Tangram Nr. 3/1997; sowie Leimgruber/Meier/Sablonier, Hilfswerk, 1998. Umstritten ist in der neueren Forschung die Frage, ob die schweizerischen Jenischen eine eigene Ethnie bilden oder als Minderheit mit eigener Kultur aus jüngeren soziokulturellen Entwicklungen hervorgegangen sind. Meili, Strolchengesindel, 1976, S. 133 und Michon, Jenisch, 1993, S. 170f., anerkennen die Ethnizität. Seidenspinner, Jenische, 1993, lässt die Frage offen. Meier/Wolfensberger, Heimat, 1998 interpretieren den sozialen Zusammenhalt der Fahrenden im Kontext der Pauperisierung und Entrechtung der Nicht-Sesshaften. Die Ethnizität der Jenischen wird von der Radgenossenschaft der Fahrenden bejaht.

[389]  Glaus, Fahrende, 1999; Rieder, Diskriminierung, 1999.


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