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Im Dossier "Halt! Schweizer Grenze" der Weltwoche, Zürich,
vom 9. Dezember 1999 erschienen auch drei Artikel von Thomas Huonker:

"Es ist zu vermeiden, dass über die Grenze geschossen wird"

Ein Rückblick auf die Flüchtlingspolitik des Bundes

Beim Anschluss Österreichs am 12. März 1938 waren mit dem bejubelten Hitler auch Tausendschaften von Polizei- und SS-Truppen einmarschiert. Sie holten nach, was in Deutschland bereits seit 1933 an Terror geschehen war.
Polizeiabteilungschef Rothmund schrieb am 10. August 1938 an den Bundesrat: "Nach allem, was mir bis jetzt über die unmenschliche, ausgeklügelt grausame Behandlung der Juden in Deutsch-Oesterreich zu Ohren gekommen ist, glaubte ich es nicht verantworten zu können, die Flüchtlinge ihren Peinigern wieder auszuliefern."
Doch im Bundesratsprotokoll vom 19. August steht:
"Der Bundesrat beauftragt das Justiz- und Polizeidepartement, die nötigen Weisungen zu erlassen, um den weiteren Zustrom von Flüchtlingen aus Deutsch-Oesterreich zu verhindern."

Abwehrwillen zeigen

Die Grenzwacht wurde verstärkt. Ein Oberstleutnant Rall erliess am 25. August in der Kaserne Bülach einen Befehl, in dem es unter anderem hiess:
"Flüchtlinge, welche die Grenze überschreiten wollen, sind durch Halterufe zu stellen und im Abschnitt a) zur sofortigen Rückkehr zu zwingen, im Abschnitt b) dem Kantonspolizeiposten Merishausen zu übergeben, welcher die Zurückweisung der Flüchtlinge an und über die Grenze besorgt. Von der Schusswaffe ist nur bei tätlichem Widerstand Gebrauch zu machen, wobei zu vermeiden ist, dass über die Grenze geschossen wird."
Im Flughafen Dübendorf wurden am 21. August 1938 die ersten Flüchtlinge per Flugzeug ausgeschafft. Es galt, "den festen Abwehrwillen der schweizerischen Behörden“ zu zeigen, wie Rothmund im Brief vom Februar 1939 schrieb - den Abwehrwillen gegen die „Hunderttausende (...), die Deutschland noch verlassen möchten".
Grenzwachtoffizier Möhr protokollierte am 22.August 1938:
*Im Abschnitt Diepoldsau ist der Einmarsch der Truppe, vielleicht mit Absicht, sehr demonstrativ erfolgt. (....) Die Juden haben ihre Taktik geändert. Statt in Gruppen, versuchen sie nunmehr als Einzelgänger an verschiedenen Orten die Grenze zu überschreiten. Auch das Zurücktreiben mit Kolbenschlägen (ein Grenzschutzsoldat brach dabei den Kolben seines Karabiners) hindert sie nicht, anderswo das Glück zu versuchen."
Mit der Grenzbesetzung 1939 wurde die Flucht weiter erschwert.
Als die Mordmaschinerie in Nazideutschland auf Hochtouren kam und die Zahl der Flüchtlinge anstieg, befahl Rothmund am 13. August 1942:
"Nicht zurückzuweisen sind
1. Deserteure, entwichene Kriegsgefangene und andere Militärpersonen (...)
2. Politische Flüchtlinge, d.h. Ausländer die sich bei der ersten Befragung von sich aus als solche ausdrücklich ausgeben und es glaubhaft machen können. Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.“
Die Grenzwächter entschieden, ob „glaubhaft“ war, was die Verfolgten sagten.
Viele Schweizer protestierten gegen die Weisung vom 13. August. Am 25.September 1942 verfügte Rothmund deshalb ergänzend, aufzunehmen seien auch
" a) offenbar kranke Personen und schwangere Frauen
b) Flüchtlinge im Alter über 65 Jahren" (...)
c) Alleinreisende Kinder unter l6 Jahren
d) Eltern mit eigenen Kindern unter l6 Jahren
e) Flüchtlinge, die sofort behaupten und es auch glaubhaft machen, dass sie nahe Angehörige (..) in der Schweiz oder sonstwie enge Beziehungen zu der Schweiz (...) haben."
So mussten die aufgegriffenen Flüchtlinge wechselnden Kriterien genügen und dies "sofort behaupten und es auch glaubhaft machen".
Rothmund war über die Ereignisse in Deutschland gut informiert, er hat 1942 auch ein KZ selbst besucht. Vom 10. Oktober bis zum 6. November 1942 war er Gast im Reichskriminalamt und anderen Polizeizentralen in Berlin-Wannsee. Auf dem Reiseprogramm stand auch eine Besichtigung des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Er notierte in seinem offiziellen Reisebericht: *Für die Schwerarbeiter werden tüchtige Zulagen, gutes Brot und schmackhafte Wurstwaren, auf den Arbeitsplatz befördert." Im selben Bericht rapportiert Rothmund auch seine Tischreden anlässlich eines Mittagessens mit hohen Nazi-Funktionären. Der Besucher aus der Schweiz sagte da:
*Die jüdische Rasse ist geschichtlich erprobt, zäh und stark gegenüber Verfolgungen. Sie hat bisher allen Ausrottungsversuchen standgehalten und ist immer wieder gestärkt daraus hervorgegangen. Aus diesen Ueberlegungen heraus scheine mir, so schloss ich meine Ausführungen, die heutige deutsche Methode falsch zu sein und gefährlich für uns alle, weil sie uns letztendlich die Juden auf den Hals jage."

Für Weihnachten 1943 erliess Rothmund eine Weisung, wonach vom 24.12.18 Uhr bis zum 25.12.18 Uhr "ausnahmsweise keine Flüchtlinge durch die Grenzwachtorgane zurückgewiesen" werden sollten. Die Polizeiabteilung behielt sich aber vor, "bei besonders unerwünschten Flüchtlingen" "nachträglich doch deren Rückweisung" zu verfügen. Erst am 12.Juli 1944, als die Niederlage Hitlers auch an der Westfront besiegelt war, änderte die Schweiz ihre Flüchtlingspolitik. Laut Artikel 3 der neuen Weisungen sollten jetzt alle "Ausländer, die aus politischen oder anderen Gründen wirklich an Leib und Leben gefährdet sind", in der Schweiz Zuflucht finden. Dokumentiert gebliebene Rückweisungen von Sinti aus Frankreich und Deutschland belegen aber, dass dieser Passus ganz offensichtlich für "Zigeuner*, die der nazistischen Vernichtungspolitik gleichermassen ausgesetzt waren wie die Juden, nicht galt.

Quellen: Bundesarchiv, verschiedene Dossiers. Der Bericht Rothmunds über seine Reise nach Berlin-Wannsee 1942 und die Besichtigung des KZ Sachsenhausen ist abgedruckt in „Documents Diplomatiques“, Bd.14, Bern 1997


"Sie sollen verrecken"

Eine jüdische Flüchtlingsgruppe

Am 13. Oktober 1942 flohen sechs jüdische Menschen über den Col de Balmes in die Schweiz. Es waren die Ehepaare Weissmann, Wachsstock und Feingold, alle mittleren Alters und ohne Kinder. Sie wurden beim Einnachten auf der Schweizer Seite verhaftet.
Frau Wachsstock hatte einen ärztlichen Attest über ihre Schwangerschaft; sie und ihr Mann wurden aufgenommen. Die Ehepaare Weissmann und Feingold wurden abgewiesen und am nächsten Tag retour über den Pass geschickt.
Das letzte Lebenszeichen der Feingolds ist ein Brief. Am 27. Oktober in Lyon aufgegeben, ging er an den sozialdemokratischen Nationalrat Paul Graber. Feingold, Mitglied der SPD und Journalist, schildert darin, dass ein Armeeangehöriger ihn als politischen Flüchtling einschätzte. Doch der zuständige Grenzwächter war anderer Meinung: "Er liess sich auf keine Erklärungen ein, sondern hielt vor den versammelten Soldaten folgende Ansprache: Weshalb, Soldaten, seid ihr hier; wegen diesen Drecksjuden. Weshalb bekommen wir nur 225 gr. Brot im Tag; wegen diesen Saujuden. Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen, weil ich mich mit diesem verdammten Judenzeug beschäftigen muss. Diese Bande muss verrecken und ausgerottet werden. Zu meiner Frau, die vollkommen in Tränen aufgelöst war, sagte er, wenn Sie nicht gehen, dann schlage ich ihrem Mann mit dem Gewehrkolben den Kopf entzwei. Zu mir sagte er, wenn Sie jetzt einen Schritt zurück machen, dann schiess ich Sie wie einen Hund nieder."
Die Lebensspur des Ehepaars Feingold – er war 42, sie 40 – verliert sich nach diesem Brief. Das Schreiben und sein Adressat lösten in der Schweiz eine Untersuchung aus, weshalb der Fall dokumentiert ist. Die Untersuchung führte ein vorgesetzter Offizier der beiden beteiligten Grenzwächter. Er rapportierte am 19. 12. 1942 in vorweihnachtlicher Stimmung: "Herr Feingold hat in der Tat von Anfang an seine sogenannte Eigenschaft als politischer Flüchtling vorgebracht, weil er nicht einverstanden mit dem nationalsozialistischen Regime war." Laut Feingold hatte er seinen SPD-Mitgliederausweis und seinen Presseausweis vorgelegt. Der untersuchende Offizier berichtet, die Grenzwächter könnten sich nicht genau an die vorgelegten Papiere erinnern: "Jedenfalls war keines dabei, aus dem hervorgegangen wäre, dass ihn die deutschen Autoritäten gesucht hätten oder dass man ihn mit Verhaftung etc. bedroht hätte.2 Abschliessend legt der Untersuchende die perfekte Rechtlichkeit des Ausweisungsvorganges dar: "Im vorliegenden Fall ist es klar, dass Herr Feingold aufgrund seiner Rasse aus Frankreich floh. (...) Es ist deshalb rechtens, dass das Ehepaar Feingold zurückgewiesen wurde." Die beiden involvierten Grenzwächter seien "gute, gewissenhafte und ergebene Elemente", schrieb derselbe untersuchende Vorgesetzte. Hingegen sei Feingolds Brief, also die Beschreibung seiner Abweisung und die Bitte um Asyl als politischer Flüchtling, die "Handlungsweise einer gemeinen und niederträchtigen Existenz". Der Untersuchende, der sich der Meinung seiner Untergebenen anschliesst, sie hätten die Flüchtlinge "in keinem Moment beschimpft", beschimpft den Flüchtling selber.
Unberücksichtigt lässt die Untersuchung, dass vier Tage vor den Szenen am Col de Balmes eine neue Weisung ergangen war: In "Zweifelsfällen" seien Flüchtlinge dem zuständigen Polizeioffizier des Territorialkommandos vorzuführen. Diese neue Weisung hat dem Ehepaar Feingold auch nicht mehr geholfen.

Quellen: Bundesarchiv, Signatur E 6321(F) - 1, Band 522 (Max und Paula Feingold; Allgemeines zur Flüchtlingspolitik) Stefan Mächler: Ein Abgrund zwischen zwei Welten. Zwei Rückweisungen jüdischer Flüchtlinge im Jahre 1942. In: Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945 (Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs Nr. 22), 1996


"Nicht an Leib und Leben gefährdet"

Ein Sinto-Flüchtling

Anton Reinhardt, ein siebzehnjähriger deutscher Sinto, floh am 25. August 1944 aus dem Spital Waldshut, wohin ihn die Gestapo zwecks Zwangssterilisation gebracht hatte, und schwamm über den Rhein. Von der Aargauer Kantonspolizei verhaftet, sagte er, "aus Furcht vor einer Gefängnisstrafe habe er Deutschland verlassen, um daselbst nicht noch Kriegsdienst zu machen". Zunächst verschwieg Reinhardt seinen unter Sinti verbreiteten Namen. Die Kantonspolizei eruierte aber in Deutschland: "Derselbe wird als ein dubioser Mensch geschildert, und seine Eltern zählten vor dem Krieg zum 'Fahrenden Volk'."
Nun bekannte auch Reinhardt, dass seine ethnische Zugehörigkeit der Grund der Verfolgung war: "Meine Vorfahren stammen aus dem Balkan, ich bin somit Zigeuner. Verschiedene Verwandte meiner Mutter wurden von den Deutschen in das Konzentrationslager Auschwitz bei Kattowitz, Oberschlesien, gesteckt. Das gleiche Schicksal sollte mir nun blühen."
Die Kantonspolizei sah darin keinen Fluchtgrund und rapportierte auch die drohende Zwangssterilisation nicht: "Die eigentlichen Beweggründe, die den Genannten zur Flucht nach der Schweiz veranlasst haben, sind unbekannt, d. h. konnten nicht festgestellt werden." Auch die Polizeiabteilung sah Anton Reinhardt nicht "wirklich an Leib und Leben gefährdet" und verfügte dessen Ausschaffung; sie wurde am 12. September 1944 von der Kantonspolizei Basel-Landschaft vollzogen.
Der siebzehnjährige Sinto wurde in Deutschland verhaftet und kam ins Konzentrationslager Schirmeck-Struthof. Er wurde als Zwangsarbeiter eingesetzt, unter anderem bei Mercedes. Kurz vor Ostern gelang ihm die Flucht.
Am Karfreitag wurde er in Bad Rippoldsau aufgegriffen. SS-Hauptsturmführer Karl Hauger und Volkssturmmann Franz Hindenburg W. fungierten als selbst ernanntes Standgericht und verurteilten Reinhardt wegen Desertion zum Tod. Am Ostersamstag wurde er in einen Wald geführt. Er konnte noch einen Abschiedsbrief an seine Eltern und Geschwister schreiben. Dann musste er sein eigenes Grab schaufeln. Hauger erschoss ihn mit der Pistole.
Wenige Monate später, kurz nach Kriegsende, wurde Reinhardts Leichnam in den Friedhof von Bad Rippoldsau umgebettet. Nach Aussagen des Totengräbers liessen die Haltung des Toten und der Umstand, dass an den Fingerspitzen die Haut fehlte, darauf schliessen, dass Reinhardt nicht sofort tot gewesen war und sich noch zu befreien versucht hatte.
Alliierte Untersuchungsorgane ermittelten 1946 innert weniger Monate den Tathergang und die Täter. Es kam jedoch erst 1961, siebzehn Jahre nach dem Mord, zum Urteil eines deutschen Gerichts.
Hauger erhielt sieben Jahre Zuchthaus, Franz Hindenburg W. dreieinhalb Jahre Gefängnis. Es ist kein Trost zu wissen, dass dieses jahrzehntelang verschleppte Verfahren eines der ganz wenigen ist, wo es wegen der Tötung von Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg überhaupt zu einem Urteil kam.

Quellen: Bundesarchiv, Signatur E 4264 (–)1985/196, Band 1072 (Anton Reinhardt); Ausstellung des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg