Diagnose: "moralisch defekt". Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970, Verlag Orell Füssli, Zürich, gebunden, illustriert, 2003, von Thomas Huonker, Fr. 49.- Das Buch basiert auf einem offiziellen Bericht, herausgegeben vom Sozialdepartement der Stadt Zürich.
Klicken Sie auf das Signet der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um zur Rezension von Robert Jütte zu gelangen.
Hier die Rezension von Julian Schütt in der Weltwoche:
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SachbuchDer Wahn der
Schweizer RassenhygienikerJulian SchüttKastrationen,
Eheverbote, Kindswegnahmen: Thomas Huonker bringt Licht in ein
düsteres Kapitel nationaler Sozialpolitik.
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«Menschliche
Zuchtwahl»: Die Eugeniker wollten alles tun, um eine Auslese
der «Besten» zu erhalten. | Der Kongress bot allerlei Gescheites über «Das Unbewusste
in Zürich», und das Unbewusste hat in Zürich ein Heimspiel. An
keinem andern Ort der Welt kommt auf eine so kleine Einwohnerzahl
eine so grosse Anzahl Psycho-Praxen. Über zehn Seiten beansprucht
die Branche im Telefonbuch, wusste der Stadtpräsident in seinem
«Grusswort» an die Kongressgemeinde zu berichten. Zürich, die zweite
Hauptstadt der Tiefenpsychologie neben Wien. Daniel Hell, Direktor
der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, referierte über
einen seiner Vorgänger: «Eugen Bleulers Seelenverständnis und die
Moderne». Bleulers Lebenswerk sei darauf ausgerichtet gewesen, «das
Menschliche im Geisteskranken zu würdigen». Der Schriftsteller Adolf
Muschg wiederum würdigte die Klinik unter Eugen Bleulers Leitung als
ein «Vorzeigestück avancierter Zürcher Gesundheitspolitik». Heile
Welt der Psychiatrie?
Es war ein Kongress von Unbeirrten,
damals im Juni 2000. Zur gleichen Zeit prägte sich das Burghölzli
einer breiteren Öffentlichkeit ganz anders ein. Im Mittelpunkt stand
nicht das Bleulersche Seelenverständnis, sondern die eugenische und
rassenhygienische Schattenwirtschaft, die unter Eugen Bleuler im
Burghölzli gedieh. Man erfuhr besonders aus journalistischen
Recherchen (hervorgehoben sei das 1999 erschienene Buch «Hirnriss»
des ehemaligen Weltwoche-Autors Willi Wottreng), dass Zürich nach
1900 vielleicht Metropole der Psychoanalyse, bestimmt aber eine
Hochburg der Eugenik war. Mindestens bis 1987 wurden geistig
behinderte oder sich asozial verhaltende, jedenfalls «abnormale»
Frauen (auch Männer) gegen ihren Willen sterilisiert oder kastriert.
Biograf des «Sitten-Fuchses»
Die späte
Aufdeckung einer Sozialpolitik, die mehr mit Schädlingsbekämpfung
als Fürsorge zu tun hatte, führte zu parlamentarischen Vorstössen
auf städtischer, kantonaler und zuletzt auf Bundesebene: Man
verlangte historische Untersuchungen und darüber hinaus ein Gesetz,
um die Opfer zu entschädigen. Das Sozialdepartement der Stadt Zürich
liess seine fürsorgepolitische Vergangenheit von Thomas Huonker
durchleuchten, einem erprobten Fachmann, der für die
Bergier-Kommission den Band «Schweizer Zigeunerpolitik zur Zeit des
Nationalsozialismus» mitverfasst hat.
Zudem hat sich Huonker
bleibende Verdienste erworben als Biograf und Herausgeber des
Erotiksammlers und Sittenhistorikers Eduard Fuchs, genannt
«Sitten-Fuchs». Vor einem Jahr stellte Huonker seinen
Fürsorge-Bericht vor, mit zahlreichen Fallstudien über
Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen, Kindswegnahmen,
Eheverboten, Euthanasiefantasien. Nun erscheint die Arbeit in
ergänzter, gut lesbarer Form als Buch unter dem Titel «Diagnose:
‹moralisch defekt›» und liefert erstmals eine gründliche Geschichte
der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie zwischen 1890 und
1970.
«Ein grosser Haufen Minderwertiger»
Das
Wort «Eugenik» leitet sich nicht aus Eugen Bleulers Vornamen ab. Der
Begriff geht auf Francis Galton, einen Vetter Darwins, zurück, der
schon Ende des 19. Jahrhunderts überzeugt war, dass physische wie
psychische Eigenschaften eines Menschen erblich seien und alles
getan werden müsse, um eine Auslese der «Besten» zu erhalten und
Unwürdige an der Fortpflanzung zu hindern.
Als ein
Gründervater der eugenischen und rassenhygienischen Bewegung gilt
der berühmte Waadtländer Ameisenforscher und Burghölzli-Direktor
August Forel. Er äusserte sich kompromisslos: «Wir haben hier nicht
nur Idioten und Geisteskranke, sondern einen grossen Haufen
Minderwertiger [...], von Untermenschen wimmelt es und bei ihnen ist
die Beschränkung der Zeugung am Platz.» Forel, eingeschriebenes
Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, verstand nicht, wie man
sich einer «rationellen, eugenischen menschlichen Zuchtwahl»
entgegenstemmen konnte.
Der Übergang von der Eugenik zur
Euthanasie war fliessend: Forel schrieb 1903: «Früher, in der guten
alten Zeit, machte man mit unfähigen, ungenügenden Menschen kürzeren
Prozess als heute. Eine ungeheure Zahl pathologischer Hirne, die
[...] die Gesellschaft schädigten, wurden kurz und bündig
hingerichtet, gehängt oder geköpft [...].» Sein Nachfolger Eugen
Bleuler, auch er an sich ein Psychiater mit sozialreformerischer
Ader, war der Ansicht, Hinrichtungen würden die Gesellschaft «von
der Sorge um den Delinquenten» befreien und «die Zeugung einer
ähnlich gearteten Nachkommenschaft» verunmöglichen.
Es gab
schlimmere Eugeniker als Forel und Bleuler, sogar in der Schweiz,
aber auf ihre sozialhygienischen Rezepte stützten sich bis vor
zwanzig Jahren Psychiater, Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden im
ganzen Land. Oft hatten die Patienten nur die Wahl, lange oder
dauernd interniert zu bleiben oder sich sterilisieren zu lassen.
Huonker kennt keinen Fall, wo die Operation ohne Zwang vorgenommen
wurde. Sterilisiert oder kastriert wurde, wer im Ruf stand, «sexuell
zügellos» (Bleuler), liederlich, homosexuell, vagabundierend,
verkrüppelt oder sonst degeneriert zu sein.
Fest
angestellte Sozialspitzel
Dank der kontrollwütigen
Sozialämter mussten unsere Eugeniker nie über Nachschub an frisch
assortiertem Menschenmaterial klagen. In Zürich schnüffelte der
«Erkundigungsdienst» bis 1990. Zuweilen genügte eine anonyme
Denunziation, um ins fürsorgliche Visier genommen zu werden. 1937
leistete sich die Stadt 28 fest angestellte Sozialspitzel und
etliche Aushilfsinformanten mit gut bemessenem Jahressalär inklusive
GA für das Zürcher Tram- und Busnetz.
Das offizielle
Jobprofil: «Beobachten, riechen, fragen, anordnen!», stellte keine
besonderen Anforderungen. Die Historikerin Nadja Ramsauer hat in
ihrer Studie «Verwahrlost» detailliert beschrieben, wie
«Fürsorgehülfinnen» aus der Mittel- und Oberschicht die
Lebensverhältnisse von Frauen aus der Unterschicht überwachten, ob
sie «Herrenbesuch» empfangen, in der Welt «herumvaganten» oder die
Kinder falsch erziehen. Die staatlich besoldeten Spitzelinnen sollen
bei ihren unangemeldeten Visiten manchmal weisse Handschuhe getragen
haben. Dieser soziale Schnüffelstaat ist im Gegensatz zum
politischen nie Gegenstand öffentlicher Debatten geworden, obwohl er
vermutlich mehr Opfer forderte. Genaue Zahlen kann auch Thomas
Huonker nicht liefern.
Die angewandte Eugenik trug der
Schweiz 1934 Lob aus dem Dritten Reich ein. Man kann sich das böse
Erwachen von Flüchtlingen aus dem NS-Staat vorstellen, die in die
Schweiz flohen, um der nazistischen Zwangssterilisation zu entgehen.
Weil der Hausierer Franz S. als Kommunist mehrmals den Moskauer
Sender gehört habe, war er als «Hochverräter» zunächst mit
Arbeitslager bestraft und danach psychiatrisiert worden. Der
Zwangssterilisation entzog er sich durch Flucht in die Schweiz. Ein
«unerwünschter» Gast, befand der zuständige Polizeiabteilungsleiter.
Nicht verfolgt genug, um Asyl zu erhalten.
Die unfreiwillige
Sterilisation widerspreche der schweizerischen «ordre public» nicht.
Der Beamte bekannte sich geradezu schwärmerisch zur Eugenik. Sein
Vorgesetzter, der berüchtigte Heinrich Rothmund, liess dann Milde
walten. Franz S. wurde in Witzwil interniert statt ausgeschafft.
Ausgeschafft wurde aber noch 1944, wie Huonker schreibt, der Sinto
Anton Reinhardt, der vor der Zwangssterilisation im Spital Waldshut
geflohen und über den Rhein geschwommen war. Die SS ermordete ihn am
Ostersamstag 1945.
Rückfall in die eugenische
Barbarei?
Nach dem Krieg aberkannte der Bundesrat dem
führenden Schweizer Rassenhygieniker Ernst Rüdin das Bürgerrecht.
Der in München tätige Profiteur der Nazi-Herrschaft hatte unter
anderem das am 14. Juli 1933 vom Deutschen Reich erlassene «Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» wesentlich mitgestaltet. An
Rüdin wurde ein Exempel statuiert.
Die Eugenik geriet als
Theorie in Verruf, überstand in der Praxis jedoch vorerst alle
Anfeindungen. Unter den Kuppeln der Schweizer Universitäten war noch
Platz für manchen leidenschaftlichen Anhänger des
sterilisierfreudigen Forschungszweigs: Zürich etwa berief 1946 den
Physiologen Emil Abderhalden, bis Kriegsende Professor und Geheimrat
in Halle, auf den Lehrstuhl für Physiologische Chemie. Besonders
rüstig blieb der Zürcher Professor Ernst Hanhart, einst
Mitherausgeber des Nazi-Standardwerks «Handbuch der Erbbiologie des
Menschen». Er schrieb noch 1972 über die Erfolge von «eugenischen
Beratungen». Seine Studenten fahndeten unter der Bergbevölkerung
nach verdächtigen «Sippen».
Die Frage nach dem Erbe der
Eugenik stellt sich heute: Ist es wirklich ein Rückfall in
eugenische Barbarei, wenn mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik
verhindert werden kann, dass ein Kind ein defektes Gen erbt und wie
seine Mutter an einer Frühform von Alzheimer erkrankt? Oder was die
Euthanasie betrifft: Schlägt die nazistische Mentalität wieder
durch, wenn aktive Sterbehilfe entkriminalisiert wird? Zürich hob
vor zwei Jahren das Verbot der Beihilfe zum Suizid in Alters- und
Krankenheimen auf, und wie der Stadtrat vor einigen Tagen bekannt
gab, kam es deswegen nicht zu mehr Selbsttötungen. Rechte wie linke
Bedenkenträger, die eine «Suizidwelle» befürchteten, sind verstummt.
Ein Übel, das sich selber ausrottet
Die
meisten historischen Studien zur eugenischen Schweizer Sozialpolitik
– und erfreulicherweise sind in den letzten Jahren etliche neu
entstanden – enden wegen der Schutzfristen spätestens um 1970 und
halten sich mit Vergleichen zu aktuellen gentechnischen Experimenten
betreffend Erblichkeit und Erbsubstanz zurück. Dass es heute
problematisch wäre, die Augen vor der unheilvollen eugenischen
Vergangenheit zu verschliessen, ist ohnehin allen klar. Andererseits
«degeneriert» die Diskussion über die moderne Gen- und
Biotechnologie, wenn immer nur das Schreckgespenst der alten Eugenik
an die Wand gemalt wird.
Den grössenwahnsinnigen
Rassenhygienikern ging es um die Veredelung der gesamten Population.
Sie wollten Schöpfungsgeschichte treiben. Stattdessen brachten sie
unsägliches Leid über Tausende Unschuldiger. Frei nach Karl Kraus
war die Eugenik selber das Übel, das sie auszurotten versprach. Die
meisten Gentechnologen haben viel weniger zu bieten und deshalb
vielleicht mehr: Sie tragen dazu bei, individuelles Leiden zu
mindern.
Thomas Huonker: Diagnose: «moralisch defekt».
Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer
Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970. Orell Füssli. 280 S., Fr.
49.--
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