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Rezension von Christian Schenk in:

Nota bene, Notizen aus der Zürcher Landeskirche,

Nr. 1/2009, Zürich, Februar 2009, S.16





800 Jahre Kloster Kappel

Äbte, Arme, Abgeschobene

Im Kloster Kappel residierten Äbte und Mönche, lehrten Reformatoren, herrschten Amtmänner. Hier erhielten Arme Almosen und fanden Zuflucht, und hier schufteten und litten Abgeschobene und Verwahrte. Ein Buch bringt die bewegte und bewegende Geschichte des Klosters zum Sprechen.


von Christian Schenk

Im steril gefliesten Kapitelsaal türmten sich Berge schmutziger Wäsche. Nur die kunstvollen gotischen Masswerkfenster erinnerten in den 1920er Jahren noch an den einstigen Versammlungsraum der zisterziensischen Mönchsgemeinschaft. Nun war der edle Saal zur Waschküche umfunktioniert worden und das Kloster zur Armen- und Korrektionsanstalt mutiert. In Kappel wurde schon lange nicht mehr nach benediktinischer Tradition gebetet und gearbeitet. Seit dem 19. Jahrhundert wurden hier diejenigen «versorgt», die in der Gesellschaft keinen Platz fanden. Zum Beten wurden sie angehalten, zur Arbeit mit Nachdruck gezwungen. Die Zeit der Armen- und Korrektionsanstalt gehört zu den düsteren Kapiteln in Kappels jahrhundertealter Geschichte.

Das neu erschienene Buch «800 Jahre Kloster Kappel» erzählt es ungeschminkt und anhand eindrücklicher Quellen: Insassen kommen zu Wort; die Akten entlarven in ihrem schauerlichen Amtsdeutsch – «Vaganten», «Zigeuner», «Blödsinnige» – den Zeitgeist und damit die Haltung gegenüber den Randständigen der Gesellschaft.

Eine Abrechnung mit der Vergangenheit ist das Buch über Kappel trotz beklemmender Zeugnisse aus jener Zeit nicht. Vielmehr ein eindrückliches Stück Sozialgeschichte, das weit über die Mikrohistorie von Kappel hinausgeht. In den zahlreichen Wandlungen der Institution spiegelt sich der Wandel der Zeit, der Mächteverhältnisse und der Mentalitäten. Und dies gilt nicht nur für die historische Grosswetterlage des 19. und 20. Jahrhundert: In der 800-jährigen Geschichte von Kappel werden viele andere historische Brüche und Umwälzungen unmittelbar greifbar: Blüte und Niedergang des zisterziensischen Mönchtums, der Aufstieg und Machtausbau der Stadt Zürich, die Kämpfe und Umstürze der Reformation an der Grenze zur katholischen Schweiz, die Verstaatlichung des Armenwesens in der frühen Neuzeit, die Modernisierungsschübe der französischen Revolution und die reaktionären Retourkutschen des Ancien Régime. Kappel ist bei all dem mittendrin, statt nur dabei. Mehr als nur bei der Kappeler Milchsuppe und beim Tode Zwinglis auf dem Schlachtfeld der Konfessionskriege ist Kappel immer wieder Brennpunkt und Schauplatz historischer Entscheidungen.


Blick fürs Detail


Den Historikern Peter Niederhäuser (Autor für die Zeit des Mittelalters) und Thomas Huonker (Autor für die Zeit nach 1800) ist es zu verdanken, dass mit diesem Buch nicht nur eine Institutionschronik, sondern ein Stück Kantons-, Reformations-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte geschrieben worden ist. Was sich in Kappel abspielt, wird immer in Relation mit den grossen Strömungen der Geschichte erzählt.

Trotz dieses geschärften Blicks fürs Grosse findet in diesem Buch auch das Detail Beachtung: Grafisch herausgehobene Inventarlisten, Hausordnungen, Almosenverordnungen oder Menüpläne lassen die Lebensumstände plastisch und konkret werden. Sorgfältig nachgezeichnete Einzelschicksale geben den Daten und Zahlen ein Gesicht. Die reiche Bebilderung trägt zusätzlich dazu bei, dass die Geschichte an lebendiger Aussagekraft gewinnt.

Fortgeschrieben ist sie bis 2008. Hier schliesst sich vorläufig der Kreis der 800-jährigen Institution: Nachdem Kappel jahrhundertelang als kantonales Amtshaus, dann als Armenhaus und schliesslich als Korrektionsanstalt gedient hatte, wurde das einstige Kloster 1983 als «Haus der Stille» wieder zu einer Institution der Kirche. Und seit 2008 heisst das Bildungshaus der reformierten Landeskirche nun auch wieder offiziell Kloster Kappel.


Thomas Huonker, Peter Niederhäuser:

800 Kloster Kappel.

Abtei, Armenanstalt, Bildungshaus.

Orell Füssli Verlag AG, 2008.

224 Seiten, Fr. 49.–.

ISBN 978-3-280-06074-2