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Thomas Huonker

Diagnostik und „Eugenik“

Zu den Diagnosen „Schizophrenie“ und „moralische Idiotie“ und deren Prägung durch Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier

Referat zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus

im Psychiatriezentrum Reichenau, 27. Januar 2004

 

 

Wie kommt ein schweizerischer Historiker dazu, sich in einer deutschen psychiatrischen Institution zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu äussern? Das hat im Wesentlichen mit vier Aspekten zu tun.

 

Erstens ist unterdessen von der schweizerischen Geschichtsschreibung mit einer gewissen Verspätung auch offiziell aufgearbeitet worden, dass die Schweiz durch ihre kriegswichtigen Lieferungen insbesondere von Devisen, aber auch von Waffen, Präzisionsinstrumenten sowie anderer Produkte, welche sie sich mit Raub- und Totengold finanzieren liess, das Naziregime unterstützte.[1]

 

Zweitens gibt es eine kleine Anzahl unter den Millionen von Opfern des Nationalsozialismus, welche aus der Schweiz stammten. Das sind beispielsweise Frauen von jüdischen Männern, welche durch die Heirat die schweizerische Staatsbürgerschaft verloren und mit ihren Familien in den Vernichtungslagern umkamen. Es gibt auch Auslandschweizer, z.B. in Frankreich, die bei der Résistance waren und im Zug von Repressalien der Besatzungsmacht umgebracht wurden. Es gibt auch den Fall jenes Mannes, der in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald, die er beide überlebte, als „Schweizer Zigeuner“ in den Listen geführt wurde. Von den Schweizer Behörden  war er jedoch mit der Begründung: „Schweizer Zigeuner, das gibt es nicht“, den Nazi-Schergen überlassen worden.[2] Schliesslich, und da nähern wir uns schon der Thematik, gibt es Fälle von Schweizern, die damals in deutschen und österreichischen Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren. Einige von ihnen wurden rechtzeitig in die Schweiz zurückgebracht, andere wurden mit ihren Mitinsassen an Stätten wie Hadamar, Grafeneck oder Hartheim im Zug der sogenannten „Euthanasie“, dem Massenmord an Hunderttausenden von Geisteskranken und Behinderten, als sogenanntes „unwertes Leben“ umgebracht.[3]

Ich habe in meinem Buch zur „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ in der Schweiz einen solchen Fall näher dokumentiert.[4] Es handelt sich um den Basler Friedrich M., der in der Anstalt Stetten lebte. Deren Pflegebefohlene wurden am 13. September 1940 „auf Veranlassung des Württembergischen Innenministeriums in eine andere Anstalt verlegt“, wie die offizielle Angabe lautete. In Wahrheit waren sie in die Gaskammer von Schloss Grafeneck auf der schwäbischen Alb abtransportiert worden. Aus Grafeneck erhielt der schweizerische Konsul in Stuttgart am 31. Januar 1941 folgendes Schreiben: „Betrifft: Friedrich M., ohne Beruf, geboren am 6. Mai 1877 in Basel/Schweiz. Wir teilen Ihnen mit, dass der Obgenannte am 28. September 1940 an einem Hirnschlag in der hiesigen Anstalt verstorben ist. Da in den Krankenakten keine Anschrift von Angehörigen angegeben war, war es uns leider nicht möglich, Anverwandte von dem Verstorbenen zu unterrichten. Wir bitten Sie, dies nun veranlassen zu wollen. Heil Hitler! Unterzeichnet: Dr. Ott.“ Die schweizerische Bundesregierung war durch Berichte ihres Konsuls in Köln, Franz Rudolph von Weiss, über die deutschen Massentötungen an Psychiatriepatienten und Behinderten ebenso auf dem Laufenden gehalten worden wie betreffend der Verfolgung und Vernichtung von Juden, Sinti, Roma und andern Opfergruppen, worüber sie auch aus anderen Quellen nähere Kenntnis hatte. Konsul Weiss hatte insbesondere auch den Protestbrief des evangelischen Landesbischofs von Württemberg, Bischof Wurm, vom 19. Juli 1940 an den Bundesrat weitergeleitet.

Wurm hatte darin geschrieben: „Seit einigen Monaten werden auf Anordnung des Reichsverteidigungsrates Geisteskranke, Schwachsinnige oder epileptische Pfleglinge staatlicher und privater Heilanstalten in eine andere Anstalt verbracht. Die Angehörigen erhalten wenige Wochen später die Mitteilung, dass der Pflegling einer Krankheit erlegen sei, und dass aus seuchenpolizeilichen Gründen die Einäscherung hatte stattfinden müssen“. Bischof Wurm schätzte, es dürften „schon mehrere hundert Anstaltspfleglinge allein aus Württemberg sein, die auf diese Weise den Tod gefunden haben.“ Im „Schloss Grafeneck, in welches die Pfleglinge eingeliefert werden, und zwar in Autobussen mit undurchsichtigen Fenstern“, seien „ein Krematorium und ein Standesamt eingerichtet worden“, und obwohl es in einem wenig bevölkerten Landgebiet liege, bringe der aus dem Krematorium aufsteigende Rauch die Bevölkerung der Umgegend dazu, sich ihre Gedanken über die Vorgänge im Schloss zu machen, zumal dort keine Besuche gestattet seien.

Trotz dieser Kenntnisse waren die Berner Behörden in solchen oder ähnlichen Fällen keineswegs darauf erpicht, die Opfer in die Schweiz zurückzuholen, und sie verzögerten solche Rückschaffungen durch Hinweise auf angesichts der Bedrohungslage unangemessene formalistische Ausflüchte. In der ersten Phase, als es noch um die Rückschaffung von Schweizern ging, denen der Vollzug des deutschen Zwangssterilisationsgesetzes von 1933 drohte, hatte ein hoher  Beamter der obersten Schweizer Polizeibehörde namens Ernst Scheim in einer „Notiz zur Frage der Heimnahme von Schweizern, die in Deutschland sterilisiert werden sollen“, sogar geschrieben, „die Sterilisation Anormaler ist nicht das Dümmste, was im Dritten Reich gemacht werde. Wir müssen jedenfalls die Sache ruhig betrachten und uns nicht, wie ich es anfangs auch getan habe, aufregen.“

Denn die Rückschaffung verursache Kosten:

„Im Falle der Heimnahme wäre die Gemeinde gezwungen, den Krüppel dauernd auf ihre Kosten zu versorgen.“  Und:

„Da wohl 90% der für die Sterilisation Vorgesehen arbeitsunfähige Krüppel sind, dazu meist in jüngeren Jahren, weil ja nur fortpflanzungsfähige Individuen sterilisiert werden, so hätten die Gemeinden das zweifelhafte Vergnügen, die Betreffenden in Dauerversorgung zu übernehmen.“ [5]

Die näheren Umstände dieser Fälle sind bisher noch  nicht aufgearbeitet worden.

 

Drittens hat sich die Schweiz durch die Rückweisung und Abschreckung Zehntausender von Flüchtlingen aus dem Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten, welche diesen teilweise direkt übergeben wurden, [6] an der nazistischen Vernichtungspolitik gegen die rassisch Verfolgten mitschuldig gemacht.[7]

Ich habe den Fall eines 17jährigen Sinto aus Waldshut dokumentiert, der 1944 zwecks Zwangssterilisation ins dortige Spital eingeliefert wurde. Er konnte entkommen und schwamm über den Rhein, wurde aber von den Schweizer Behörden noch im Herbst 1944 ins Deutsche Reich zurückgeschafft. Dort wurde er in ein KZ eingewiesen und schliesslich in den letzten Kriegstagen, am Ostersamstag 1945, vom SS-Mann Ernst Hauger erschossen.[8]

 

Viertens haben Schweizer Psychiater, darunter Auguste Forel, Eugen und Manfred Bleuler sowie Hans Wolfgang Maier, vor allem aber der Forel-Schüler aus St. Gallen, Ernst Rüdin, einen grossen Teil jener Ideen teilweise selber produziert, teilweise sehr aktiv propagiert, welche in die Zwangssterilisation und die Massentötung Hunderttausender Geistesgestörter und Behinderter mündete.[9]

 

Ein anderer deutscher Flüchtling vor der Zwangssterilisation, der kein Sinto war, sondern als KPD-Mitglied auch politische Fluchtgründe geltend machen konnte, wurde immerhin nur in einem Schweizer Arbeitslager interniert. Er überlebte den Krieg und wurde auch nicht zwangssterilisiert.[10] Doch er gab einem anderen hohen schweizerischen Polizeibeamten namens Simmen Anlass zu einem siebenseitigen Aktenbericht über die Frage, ob die Bedrohung mit Zwangssterilisation von den Schweizer Instanzen als Fluchtgrund anerkannt werden solle. Simmen verneinte dies aus zwei Gründen.

Zunächst deshalb, weil sich sonst die Zahl der unerwünschten Flüchtlinge, die nicht zurückgewiesen werden könnten, noch erhöhe. Simmen schrieb: „Es bleiben uns genug dieser unerwünschten Gäste in der Schweiz hängen, ohne dass jetzt noch Platz für eine neue Kategorie eröffnet wird aus pseudohumanitären Gründen. Zudem sprechen sich in Emigrantenkreisen solche Dinge manchmal mit unbegreiflicher Schnelligkeit herum, und die nicht nachkontrollierbare Bedrohung mit Sterilisation als Begründung für die Emigrantenqualität wäre ein gefundenes Fressen für diese Kreise und eine nicht abreissende Kette von Schwierigkeiten für die Fremdenpolizeibehörden.“

Sodann argumentierte Simmen aber noch in dem Sinn, dass die „Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger“ in der Schweiz ebenfalls üblich sei. Ja die Schweiz habe auf diesem Gebiet in Europa sogar eine Pionierrolle inne. Simmen schrieb zur „Eugenik“: „Die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine bahnbrechende Rolle gespielt. Sie war das erste Land in Europa, in dem dieses Problem praktische und gesetzliche Form angenommen hat. Der Pionier, der schon im letzten Jahrhundert für die Verwirklichung sich eingesetzt hat, war Professor Auguste Forel. Seit 1905 hat im Burghölzli eine reiche und systematische Kastrations- und Sterilisationspraxis die Zustimmung der Verwaltungsbehörden gefunden. Die Schweiz ist auch das erste Land Europas, in dem eine gesetzliche Regelung dieses Problems getroffen wurde, die nicht das Einverständnis des zu Sterilisierenden voraussetzt, sondern dieses durch den Entscheid eines Gesundheitsrates ersetzt.“ Simmen meinte damit die einschlägige Gesetzesbestimmung im Kanton Waadt vom 3. September 1928; die entsprechenden Regelungen in Skandinavien und Deutschland folgten erst einige Jahre später.

 

Mit dem Hinweis des Polizeibeamten auf den „Pionier“ Auguste Forel und auf die „reiche und systematische Kastrations- und Sterilisationspraxis“ der Zürcher Irrenanstalt Burghölzli, wo nacheinander die Direktoren Auguste Forel, Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier wirkten, welch letzterem dann Eugen Bleulers Sohn Manfred Bleuler nachfolgte, betreten wir jenen Abschnitt und jenen Ort der Psychiatriegeschichte, wo die im Titel des Referats stehenden Diagnosen „Schizophrenie“ und „moralische Idiotie“ respektive „moralischer Schwachsinn“ in die Wissenschaft eingeführt wurden. Im Fall der Diagnose „Schizophrenie“ war die neue Etikettierung alter Leiden ein medizinhistorischer Grosserfolg des Labeling, und der Begriff Schizophrenie wurde zu einem der erfolgreichsten Neologismen des letzten Jahrhunderts. Umgekehrt hat sich die  Etikettierung von Menschen, deren Lebensführung den damaligen gesellschaftlichen Normen nicht entsprach, mit der Diagnose „moralische Idiotie“ oder „moralischer Schwachsinn“ nur einige Jahrzehnte lang halten können; diese Diagnose wird in der modernen klinischen Psychiatrie, im Unterschied zur Diagnose „Schizophrenie“, nicht mehr verwendet. Beides hat verschiedene Gründe, auf die ich weiter unten eingehe.

 

Zunächst verweile ich noch beim „eugenischen“ respektive „rassenhygienischen“ Hintergrund und Personengeflecht rund um das Zürcher Burghölzli an der Wende vom 19. zum zwanzigsten Jahrhundert.

 

Es ist in den Standardwerken zur Geschichte der „Eugenik“ respektive „Rassenhygiene“ nachzulesen,[11] dass Zürich jener Ort ist, wo diese Bewegung zur gezielten genetischen Manipulation der Menschheit Richtung „Übermensch“ von ihren allerersten Vordenkern, die Biologen wie Charles Darwin und dessen Vetter Francis Galton oder Philosophen wie Friedrich Nietzsche waren, auf die Psychiatrie übergriff. Die Übernahme „eugenischer“ und „rassenhygienischer“ Theoreme war allerdings nicht nur in der Psychiatrie allein auszumachen, sondern betraf auch andere universitäre Disziplinen wie die Gynäkologie, Chirurgie, Radiologie, aber auch die Rechtswissenschaft, Gerichtsmedizin und Kriminalistik sowie die Anthropologie und die damals an vielen Universitäten dozierte „Rassenlehre“.

 

Der sogenannte „Zürcher Kreis“ umfasste nebst Auguste Forel, Direktor des Burghölzli von 1878 bis 1898, dem Dichter Gerhart Hauptmann und dessen Bruder, dem aus St. Gallen stammenden Ernst Rüdin und dessen Schwester Paula sowie deren Gatten Alfred Ploetz auch den Nachfolger Forels und Erfinder des Begriffs „Schizophrenie“, Eugen Bleuler, Burghölzli-Direktor von 1898 bis 1926, sowie den Hauptpropagandisten der Diagnose „moralischer Schwachsinn“, Hans Wolfgang Maier, Direktor des Burghölzli von 1927 bis 1941.

 

Die ersten Opfer der neuen Einteilung der Menschheit in „erblich minderwertige“ und „erblich höherwertige“ Menschen in Europa waren Insassen der Irrenanstalt Burghölzli. In den USA hatten die Sterilisationen an diesen sogenannt „kakogenen“ Menschen, die dort oft zu dunkelhäutigen oder spanischsprechenden Minderheiten gehörten, schon vorher begonnen, der dortige Pionier der „Eugenik“ war der Erfinder der Vasektomie, Dr. Sharp. Bei den Frauen setzte sich die Eileiterabbindung nach Dr. Madlener nach einigen anderweitigen Versuchen als Standardmethode durch. In der Schweiz wurden während Jahrzehnten auch Sterilisationen und Kastrationen mittels hoher Röntgenbestrahlung durchgeführt, ein Verfahren, das dann auch die Nazis aufgriffen und welches auch das Erbgut der bestrahlenden Arzte und Krankenschwestern selber schädigte.

 

Augste Forel, der bereits im Jahr 1910 den Begriff „Untermensch“ verwendete,[12] litt an seiner Tätigkeit als Direktor einer Irrenanstalt. Da er mit seinen Methoden wie Hypnose und Deckelbad seine Patienten nicht heilen konnte, erklärte er ihre Leiden für erblich und postulierte die Menschenzucht; die genetisch gesäuberte Menschheit sollte dann ohne solche Institutionen auskommen. Er selber beschäftigte sich ohnedies lieber mit Ameisenforschung, in welcher er bleibende wissenschaftliche Leistungen erbrachte.

Forel formulierte seine Weltsicht im Jahr 1904 wie folgt:

„Wir lassen in grosser Sorglosigkeit den erblichen Wert der Individuen unserer Gesellschaft sinken, indem wir millionenweise den Keim zu konstitutionellen Krankheiten und Minderwertigkeiten legen und dann diese entarteten Früchte unserer Kulturgeschwüre durch die feinste und höchste Kunst der Medizin am Leben erhalten, damit sie recht viele weitere Entartete zeugen können. Zu gleicher Zeit schicken wir die Tüchtigsten als Kanonenfutter in den Krieg oder überlasten sie mit Arbeiten, die ihnen keine Zeit lassen, ihre guten Keime zur Vermehrung zu bringen. Wenn dann die schlechteste Menschenware Dutzende von Dummköpfen, Verbrechern, Krüppeln, Tuberkulösen und sonstigen Missgestalten erzeugt hat, bauen wir überall Irrenanstalten, Siechenhäuser, Korrektionshäuser, Idiotenanstalten, Epileptikeranstalten, Altersasyle und Zuchthäuser, um die schlimmsten Früchte der Entartung auf unsere Kosten zu versorgen. Und wir merken nicht, dass diese Art Humanität die Kulturmenschheit allmählich zugrunde richtet!“ [13]

Forel baute in seine Menschenzüchtungsideale auch den Pazifismus, später die Bahai-Religion, den Anti-Alkoholismus und den Sozialismus ein und blieb diesen Idealen, welche ihn der politischen Rechten ungeheuer machten, lebenslang treu. Dies im Unterschied zu Alfred Ploetz und Ernst Rüdin, welche zwar Anti-Alkoholiker blieben, jedoch nach einer kurzen Phase, noch im 19. Jahrhundert,  als sozialistische Kommunarden und naturnahe Gesundheitsapostel auf einer Farm in den USA, sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nach rechts wendeten und schliesslich im kriegsorientierten Hitler-Regime die Verwirklichung ihrer Menschenzüchtungsvorhaben an die Hand nahmen.

Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier, die Nachfolger Forels am Burghölzli, hatten gar nie sozialistische Neigungen, sondern waren solide im Besitzbürgertum verwurzelt.

Eugen Bleuler war aber ebenfalls der Meinung, seine Tätigkeit als Arzt und Direktor einer Heil- und Pflegeanstalt begünstige noch jene, welche eigentlich überflüssig seien. Bleuler sah, ganz parallel zu Forel, bei seinem Rücktritt als Anstaltsdirektor die pflegerische Seite seiner Tätigkeit in den Anstalten Rheinau und Burghölzli als Sünde wider den Sozialdarwinismus. Bleuler sagte rückblickend, es

„sei hier herausgehoben, was ich gerade durch meine Arbeit auf medizinischem Gebiet gesündigt habe (und was in analoger Weise jeder Arzt sündigt): Gab ich mir doch in der Pflegeanstalt zwölf Jahre lang eine verzweifelte Mühe, Idioten und unheilbare Halluzinanten am Leben zu erhalten, erstere den anderen Leuten, letztere sich selber zur Qual! Im Burghölzli wiederum strengte ich mich an, möglichst viele Schizophrene so weit zu beruhigen oder zu erziehen, dass ein Teil derselben heiraten konnte und so sich, den Gatten und kommende Generationen unglücklich zu machen Gelegenheit bekam.“ [14]

 

Als Gegengewicht postulierten deshalb Forel wie Bleuler die „Eugenik“ im Sinne einer Verhinderung der Fortpflanzung von Menschen, die sie als „erblich minderwertig“ einstuften. In dieser Hinsicht sahen sie durchaus auch die Internierung ihrer Patienten in Anstalten als sinnvoll an, da diese dort an Heirat, Familiengründung und Fortpflanzung gehindert waren. Das Problem waren diejenigen, welche im fortpflanzungsfähigen Alter wieder entlassen werden mussten, sei es aus Platzmangel in den Anstalten, sei es, weil sie sich in der Anstalt erfolgreich an die gesellschaftlichen Normen angepasst hatten, wegen deren Verletzung sie eingeliefert worden waren.[15]

Vor diesem Hintergrund entwickelten Eugen Bleuler und sein Nachfolger Hans Wolfgang Maier ohne gesetzliche Grundlage jene „reiche Kastrations- und Sterilisationspraxis“ in Zürich, welche weit über das Burghölzli hinausging; nur die wenigsten dieser Operationen wurden dort durchgeführt.[16] Jedoch verweisen Statistiken über Sterilisationen und Sterilisationsgutachten aus verschiedenen medizinischen Abhandlungen der Zeit auf eine weit höhere Zahl von Zwangssterilisationen insbesondere an Frauen der Unterschicht, die sich schätzungsweise auf mehrere Tausend im Kanton Zürich beläuft.[17] Diese Operationen wurden zwischen 1892 und 1970 an verschiedenen Spitälern und Kliniken der Region durchgeführt, meist aufgrund psychiatrischer Gutachten.

 

Im wesentlichen ermöglichten drei Mechanismen eine so hohe Zahl von Sterilisationen mit Zwangscharakter auch ohne ein diesbezügliches Gesetz, wie es in der Schweiz einzig im Kanton Waadt erlassen worden war.

 

Erstens stellten psychiatrische Gutachter, Vormundschafts- und Fürsorgebeamte und Leiter von geschlossenen Anstalten, vom Krankenasyl bis zur Zwangsarbeitsanstalt, viele Menschen vor die Alternative: Zwangsinternierung oder Sterilisation. Dies war möglich, weil in der Schweiz bis zum Jahr 1981 im Rahmen der sogenannten Administrativjustiz Anstaltseinweisungen behördlich beschlossen und durchgesetzt werden konnten, ohne dass ein Gerichtsurteil vorlag, z.B. wegen „Liederlichkeit“, „Haltlosigkeit“ oder einfach zur „Besserung“. [18]  In dieser Lage wählten viele Opfer den Ausweg, sich, meist nach einer psychiatrischen Begutachtung, der Unfruchtbarmachung zu unterziehen. Die Einwilligung in solche Operationen konnte umgekehrt auch erfolgen, wenn damit bereits langjährig in Anstalten Internierte ihre Entlassung in die Freiheit erkauften.

 

Ein zweiter Mechanismus, der Druck Richtung Sterilisation erzeugte, war die zürcherische Regelung, dass Geisteskranke als angeblich „erblich Minderwertige“ mit einem „eugenisch“ begründeten Eheverbot belegt werden konnten, welches dank dem in Zürich bis 1970 durchgesetzten Konkubinatsverbot auch ein Verbot des Zusammenlebens in sexueller Partnerschaft war. Die Ehe wurde in solchen Fällen nur gestattet, wenn sich Braut oder Bräutigam – in den meisten Fällen war es die Braut – sterilisieren liessen. Diese „eugenisch“ orientierte Ehegesetzgebung war mit dem Zivilgesetzbuch von 1912 erlassen worden. Der „rassenhygienische“ Aspekt des Eheverbots für Geisteskranke war in der Gesetzesberatung, in Gesetzeskommentaren und in Entscheiden des höchsten Schweizer Gerichts ausdrücklich und mehrfach formuliert worden.[19] Das auf Grund dieses Gesetzes mögliche Eheverbot für „Minderwertige“ wurde aber nicht in der ganzen Schweiz gleich strikt angewendet wie in Zürich. Hier war es üblich, dass die ärztlichen Leiter von psychiatrischen Kliniken, so auch Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier, aber auch andere Psychiater oder Hausärzte, nach Lektüre der Eheverkündigungen ehemaliger Patienten die Stadtregierung aufforderten, gegen die Heiratsabsichten ihrer Patienten Einsprache einzulegen, mit dem Ziel, sie nach einem entsprechenden psychiatrischen Gutachten zur Sterilisation oder zur Ehelosigkeit zu zwingen.[20] Der städtische Fürsorgesekretär, der Jurist Ludwig Wille junior, hatte sich auf die Abfassung der entsprechenden Rechtsschriften spezialisiert; er war unverheiratet und kinderlos und als Sohn von Klinikdirektor Ludwig Wille in der Basler Irrenanstalt Friedmatt aufgewachsen.[21] 

 

Eine dritte harte Alternative, vor welche als „erblich minderwertig“ eingestufte Frauen gestellt wurden, war die Alternative Austragen der ungewollten Schwangerschaft oder Abtreibung bei gleichzeitiger Sterilisation. Dieses weitere erpresserische Dilemma war möglich  wegen des Abtreibungsverbots, das nur mit einem psychiatrischen Gutachten legal umgangen werden konnte. Diese Variante der Zwangssterilisation betraf vor allem ledige Müttern mit ungewollter Schwangerschaft, vor allem Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Serviererinnen oder Verkäuferinnen. War die Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten, erfolgte die Sterilisation nach der vom Zürcher Arzt Alfred Reist in den 1930er Jahren erfundenen Methode unmittelbar nach der Geburt.[22] 

 

Die ersten Versuche und Vorschläge zur Installation einer solchen „rassenhygienischen“ Praxis hatte August Forel gemacht. Eugen Bleuler hatte mit seinem 1911 erschienen Buch „Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien“ [23] die von Emil Kraepelin noch unter dem Begriff „Dementia Praecox“ und von anderen unter dem Begriff „Paralyse“ zusammengefassten psychischen Störungen aus grammatikalischen Gründen mit seinem erfolgreichen Neologismus auf den Begriff „Schizophrenie“ umgetauft. Eugen Bleuler hatte auch gleich 75 Prozent seiner Anstaltsinsassen unter die neue Sammeldiagnose rubriziert.[24] All diesen Patienten schrieb er in seinem wirkungsmächtigen Werk ins Stammbuch, sie sollten nach Möglichkeit, da „Schizophrenie“ unheilbar und erblich sei, allesamt sterilisiert werden. Eugen Bleuler formulierte das so: „Sterilisation wird aber hoffentlich hier wie bei anderen koitusfähigen Trägern einer pathologischen Anlage aus rassehygienischen Gründen bald in grösserem Massstab angewendet werden können.“ [25] Oder wie es Bleuler andernorts formulierte: „Ist die Krankheit diagnostiziert oder vermutet, so ist vom Heiraten unter allen Umständen und mit möglichster Energie abzuraten.“ [26]

Fortan wurde die  Diagnose „Schizophrenie“ zu einer Zuschreibung, welche in Zürich, aber auch in andern Teilen der Schweiz sehr leicht und sehr oft eine Zwangssterilisation aus eugenischen Gründen nach sich zog. Auch in Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie, vor allem auch in der von Sohn Manfred Bleuler betreuten 6. und 7. Auflage von 1937 und 1943, hat die „Eugenik“ ihren Platz; in den genannten Auflagen ist der Rüdin-Schüler Hans Luxenburger mit einem eigenen Teil zur „Eugenik“ vertreten, der dann aus den Nachkriegs-Auflagen   dieses psychiatrischen Long-Sellers wieder entfernt wurde.

 

Eugen Bleulers Nachfolger und Manfred Bleulers Vorgänger am Burghölzli, Hans Wolfgang Maier, standardisierte zwischen 1920 und 1960 zusammen mit Alfred Glaus und Hans Binder, zwei anderen in Zürich wirkenden Psychiatern, die Zürcher Praxis von Eheverbot, Abtreibungsregelung, Sterilisation und Kastration. Die Ansichten Maiers wurden in Zürich und anderen Teilen der Schweiz unbeirrt weiter vertreten, auch als Maier im Gefolge eines Skandals – er hatte eine Patientin geschwängert –1941 den Direktorensessel im Burghölzli und die Professur an Manfred Bleuler abgeben musste. Manfred Bleuler hatte seine Habilitation über die Erblichkeit von „Schizophrenie“ 1941 in Leipzig publiziert. Ebenfalls in Deutschland, in Othmar Freiherr von Verschuers Zeitschrift „Der Erbarzt“, hatte Bleuler junior 1941 auch einen Aufsatz mit dem Titel “Erbanalytische Forschung“ publiziert, welcher die von Ernst Rüdin und Hans Luxenburger propagierte und mittels des deutschen Zwangssterilisationsgesetzes von 1933 gegenüber Hunderttausenden von Opfern durchgesetzte „empirische Erbprognose“ lobte. Manfred Bleuler schrieb in diesem Artikel, den er später aus der Bibliografie seiner Werke strich: „Rüdin und Luxenburger haben, nachdem sich die Mendel-Forschung im engeren Sinne für die Erkenntnis der Ursachen der grossen Psychosen unfruchtbar gezeigt hatte, vorerst ein neues Ziel gesetzt: Die empirische Bestimmung der Erbprognose. Die Kenntnis der Erbprognose gestattete es, unabhängig von der Kenntnis des Erbganges, die Notwendigkeit der Unfruchtbarmachung vieler Erbkranker festzustellen, und hat damit die allergrösste Bedeutung gewonnen.“ [27]

 

Weil Ernst Rüdin wie Eugen Bleuler von der Erblichkeit der Schizophrenie überzeugt war, nahm er sie in die Liste der Diagnosen auf, welche nach dem deutschen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 die Zwangssterilisation nach sich zogen. Dieser Konnex zwischen Zwangssterilisationen und der Diagnose Schizophrenie war also in der Schweiz zwischen 1911 und 1970, in Deutschland zwischen 1933 und 1945 gegeben. Umso fraglicher bleibt, weshalb  diese Diagnose, trotz ihres seit 1911 bestehenden und in der Nazizeit aufs Grausamste intensivierten Konnexes zu den unheilvollen Ideen der „Eugenik“ und „Rassenhygiene“, auch in der Nachkriegszeit und auch in der Sowjetunion [28] und ihren Satelliten- und Nachfolgestaaten sich derart grosser Beliebtheit erfreute und erfreut und auch heute noch weltweit stets neue Publikationen hervorruft mit variantenreichen Versuchen, sie klinisch zu validieren.

 

Eine andere Diagnose, die in Zürich vor allem zwischen 1908 und 1945 oft mit harten Zwangsmassnahmen, auch mit Sterilisationen und Kastrationen, verknüpft wurde, war die von Hans Wolfgang Maier in seiner Dissertation von 1908 präsentierte „moralische Idiotie“ respektive der  „moralische  Schwachsinn“ als Neuauflage der schon von James Cowles Prichard (1786-1848) geprägten Diagnose „moral insanity“. Maier definierte diese Form von angeblichem Schwachsinn wie folgt:

„Unter ‚moralischer Idiotie’ oder ‚moralischer Imbezillität’ ist ausschliesslich ein völliger oder teilweiser moralischer Defekt bei genügender intellektueller Anlage zu verstehen, wenn dabei Zeichen einer andern Psychose fehlen.“ [29]

Die als „moralische Idioten“ oder „moralisch Schwachsinnige“ Etikettierten waren also weder schwachsinnig noch psychotisch. Diese Diagnose war ganz simpel und klar eine Schublade für Leute, welche Normverstösse begingen, sofern diese von der bürgerlich-männlichen Doppelmoral als solche aufgefasst wurden, also vor allem bei Frauen, Angehörigen der Unterschicht sowie bei Menschen, die von der sexuellen Norm abwichen, was damals insbesondere auch für Homosexuelle galt. Die Diagnose „moralischer Schwachsinn“ war von Maier ebenso strikt an die Rassenhygiene angebunden worden wie die Diagnose „Schizophrenie“ durch Eugen Bleuler, Ernst Rüdin, Hans Luxenburger und den jungen Manfred Bleuler. Maier hielt die von ihm labelisierten Syndrome für erblich und plädierte für die Ausrottung der Träger solcher angeblicher Erbeigenschaften. Maier schrieb dazu: „Die direkte Heredität ist entschieden eine Hauptursache des krankhaften Zustandes. Es ist also sehr wichtig diese Kranken an der Fortsetzung zu verhindern. Da unter unsern heutigen Verhältnissen sowohl Gefängnis wie Anstalt hierfür keine absolute Garantie bilden, hätte die Gesellschaft nicht nur das Recht, sondern meines Erachtens auch die Pflicht, hier möglichst bald die zwangsweise Sterilisierung zu dekretieren.“ [30]

Entweder wegen ihrer offenkundig an gesellschaftliche Normen geknüpften diagnostischen Eckpunkte, oder wegen der Tatsache, dass Maier selber, nach seinen eigenen Kriterien, am abrupten Ende seiner Karriere als „moralischer Idiot“ dastand, oder aber wegen ihres starken Konnexes zu Rassenhygiene und Zwangssterilisation wird diese Diagnose, im Gegensatz zur Diagnose „Schizophrenie“, heute glücklicherweise nicht mehr verwendet.

 

War es nun einfach die gefälligere und wendigere Art der beiden Bleuler, welche der Diagnose „Schizophrenie“ trotz ihres ebenso klaren Konnexes zur „Rassenhygiene“ ihre bis heute anhaltende Faszination verlieh? Sicher auch, aber kaum allein. Ich bin der Meinung, der krasse Erfolg des Begriffs „Schizophrenie“ ungeachtet seiner düsteren geschichtlichen Hintergründe habe auch mit Folgendem zu tun:

 

Erstens hat Eugen Bleuer diesen Begriff ganz bewusst geprägt, um ihn als sprachlich leichter verwendbare Formel an die Stelle der Kraepelinschen Sammeldiagnose „Dementia Praecox“ zu setzen. Bleuler schrieb dazu: „Leider konnten wir uns der unangenehmen Aufgabe nicht entziehen, einen neuen Namen für die Krankheitsgruppe zu schmieden. Der bisherige ist zu unhandlich. Man kann damit nur die Krankheit benennen, nicht aber die Kranken, und man kann kein Adjektivum bilden, das die der Krankheit zukommenden Eigenschaften bezeichnen könnte, wenn auch ein verzweifelter Kollege bereits ‚präkoxe Symptome’ hat drucken lassen.“ [31]

 

Es war Bleuler zweitens völlig klar, dass durch den neuen Begriff „Schizophrenie“ der Umstand allzu häufig vergessen ging, dass darunter, wie bei der Vorläufer-Sammeldiagnose von Emil Kraepelin, eine grosse Gruppe von verschiedenen geistigen Störungen, von der Paranoia bis zum Mutismus, von der religiösen Wahnvorstellung bis zur Zwangshandlung, und je nach Normvorstellungen auch noch zahlreiche andere Abweichungen, subsummiert war. Dass Bleuler von der „Gruppe der Schizophrenien“ sprach, ist heute nur noch Spezialisten bekannt. Alle Welt sagt aber leichthin: „Der Schizophrene“ und „Die Schizophrenie“.[32]

 

Über Bleulers Absicht der fachsprachlichen Vereinfachung weit hinaus ging drittens der schnelle umgangssprachliche Erfolg des Neuworts, das sich diesbezüglich fast mit dem Automobil oder dem Helikopter messen kann. Bleuler hat mit einem Wort, das ebenso ungewohnt klang und so schwierig zu schreiben war, wie auch der Umgang mit den damit Diagnostizierten ungewohnt und schwierig ist, eine oberflächliche, aber suggestive Deckungsgleichheit des signifiants mit dem signifié geschaffen.

 

Aber nicht nur diese linguistischen und lautmalerischen Aspekte gaben Bleulers neuer Etikette ihren Schub. Es kommt ein vierter Aspekt hinzu. Ein neues Wort für die alte Heuchelei und Hypokrisie, die in der Zeit der Werbung und der Demokratie zunehmend auch den Konsum- und Politikbereich zu prägen begann, traf während und nach dem Ersten Weltkrieg den Nerv der Zeit. Die Bleichgesichter, welche so gerne, häufig und flexibel mit gespaltener Zunge reden, stürzten sich auf die neue Formel. Mit einem hochmodernen und äusserst schräg klingenden, aber dennoch eingängigen Fachwort Andere der Doppelzüngigkeit, der Verlogenheit, der Vermischung von Halbwahrheiten mit handfesten Lügen, kurz der permanenten Propaganda, Manipulation und Unehrlichkeit zu bezichtigen, und dabei die eigene Bildung und Normalität hervorkehren zu können, kitzelte die Eitelkeit der Sprechenden und traf gewissermassen den Kernspalt dieses sorgsam geschminkten und doch immer wieder seine grausamsten Fratzen zeigenden 20. Jahrhunderts. Deshalb hat wohl auch ein omnikritischer Geist wie der Dadaist Hugo Ball diesen neuen psychiatrischen Fachterminus so rasch aufgegriffen in seinen „schizophrenen Sonetten“.[33] Im umgangssprachlichen Sinn als Bezeichnung für Doppelbödigkeit und Widersprüchlichkeit wird das mittlerweile schon ältliche Neuwort wohl noch weiterhin verwendet werden. Die Verwaltungsräte werden noch lange schizophren bleiben, um mit Asmus Finzen zu sprechen.[34]

 

Ob jedoch die Wissenschaft von den seelischen Störungen weiterhin mit diesem nicht erblich, aber historisch belasteten Wort operieren soll, scheint mir fraglich zu sein.

Ich denke, auch zahlreiche kreative Autoren wie Gregory Bateson,[35]  Yrjö Alanen,[36] Christian Scharfetter,[37] Daniel Hell [38] oder Asmus Finzen,[39] die bislang noch nicht von diesem Begriff losgekommen sind, sondern ihn mit weiteren Büchern zwar stets kritisch hinterfragten und ihm neue Bedeutungsfelder erschlossen, ihn aber leider immer wieder ohne Anführungszeichen verwenden, sehen durchaus die verschiedenen Problematiken der Herkunft des Begriffs, der Stigmatisierung der damit Diagnostizierten, und vor allem aber seine mit jeder neuen Theorie noch problematischere Vieldeutigkeit, Schwammigkeit und Breite.

Lassen Sie mich diesen Vortrag mit der Hoffnung beschliessen, das 21. Jahrhundert könne auf die fachlich-klinisch nach wie vor nicht präzise und nachprüfbar fassbare, biologisch nicht erklärbare, je nach psychologischer Auffassung sehr breit oszillierende Sammeldiagnose „Schizophrenie“ des „Rassenhygienikers“ Eugen Bleuler demnächst definitiv verzichten.  

 

 

 

 

 

 

Literatur:

 

Yrjö Alanen: Schizophrenie. Entstehung, Erscheinungsformen und die bedürfnisangepasste Behandlung. Stuttgart 2001

Hugo Ball: Sieben schizophrene Sonette. In: Dada. 113 Gedichte, herausgegeben von Karl Riha, Berlin 2003

Gregory Bateson: Schizophrenie und Familie, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1992; ders: Ökologie des Geistes, Frankfurt am Main 1981

Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988

Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1916. Zahlreiche immer wieder abgeänderte Neuauflagen.

Manfred Bleuler: Erbanalytische Forschung. In: Der Erbarzt. Herausgegeben von Othmar Freiherr von Verschuer, Leipzig 1941, Band 9, S.12-16

Rudolf Debrunner: Alkoholabstinenz und Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts. Diss. med. Zürich 1961

August Egger: Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, Bd.II, Das Familienrecht, 2. Auflage Zürich 1936

Asmus Finzen: Der Verwaltungsrat ist schizophren. Die Krankheit und das Stigma. Bonn 1996

Auguste Forel: Alkohol, Vererbung und Sexualleben. Berlin 1904

Auguste Forel: Malthusianismus oder Eugenik. Vortrag gehalten im neomalthusianischen Kongress  zu Haag (Holland) am 29. Juli 1910. München 1911

Otto Forrer: Rassehygiene und Ehegesetzgebung im schweiz. Zivilgesetzbuch, Aarau 1913

Handbuch der Geiseteskrankheiten, Hg. Oswald Bumke, Neunter Band, Spezieller Teil V: Die Schizophrenie, Berlin 1932

Daniel Hell / Margret Fischer-Gestefeld: Schizophrenien. Verständnisgrundlagen und Orientierungshilfen. 2. Auflage, Berlin 1993

Christian Scharfetter: Schizophrene Menschen. 3. Auflage, München 1990

Schizophrenie. Multidisziplinäre Untersuchungen. Herausgegeben von A.W. Sneshnewski. Leipzig 1977

R.L. Spitzer / M.Gibbon / A.E. Skodol / J.B.W. Williams / M.B. First: DSM-III-R, Falldarstellungen. Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-III-R. Weinheim 1991

M. Vala: Sterilisation post partum. Diss. med. Zürich 1961

Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt 1992

Mathias M. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biografie. Berlin 1993

Willing, Matthias: Das Bewahrungsgesetz. Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 42). Tübingen 2003

 



[1] Vgl. dazu die Publikationen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, den sogenannte Bergier-Bericht, Zürich 2001-2003

[2] Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti, Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. (Band 23 des Bergier-Berichts), Zürich 2001, S.86-91

[3]  Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebesnunwerten Lebens“. Frankfurt am Main, 1983; Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997

[4] .Thomas  Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie, Zürich 2003,  S.142-144.

[5] Zitiert nach .Thomas  Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie, Zürich 2003,  S. 139f.

[6] Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich 2003

[7] Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus (Band 17 des Bergier-Berichts). Zürich 2001

[8] Thomas Huonker/Regula Ludi: Roma, Sinti, Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. (Band 23 des Bergier-Berichts), Zürich 2001, S.81-84

[9] Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt 1992; Paul Weindling: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870-1945. Cambridge 1989: Matthias M. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biografie. Berlin 1993

[10] Thomas  Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie, Zürich 2003,  S.140 ff.

[11] Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygien in Deutschland. Frankfurt 1992; Paul Weindling: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870-1945. Cambridge 1989: Matthias M. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biografie. Berlin 1993

 

[12] August Forel: Malthusianismus oder Eugenik. Vortrag gehalten im neomalthusianischen Kongress  zu Haag (Holland) am 29. Juli 1910. München 1911. S.8

[13] Auguste Forel: Alkohol, Vererbung und Sexualleben. Berlin 1904 S. 13

[14] Zitiert nach Debrunner 1961, Alkoholabstinenz, S.28

[15] Eugen Bleuler: Die ärztlichen Anzeigen für frühe Entlassungen. In: H.Roemer/G.Kolb/V.Faltlhauser: Die offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten, Berlin 1927. Zur Diskussion dieser Frage und generell zum Konnex von „Rassenhygiene“ und „Schizophrenie“ vgl. auch A. Wetzel: Die soziale Bedeutung, in: Handbuch der Geiseteskrankheiten, Hg. Oswald Bumke, Neunter Band, Spezieller Teil V: Die Schizophrenie, Berlin 1932, S. 612-666, insbesondere S.624ff.

[16] Vgl.  zu den am Burghölzli selber durchgeführten Operationen dieser Art: Florence Droz: Praxis der Sterilisation und Kastration am Burghölzli zwischen 1937 und 1944: 17 Fallbeispiele, Diss. med. Zürich 2003; Jakob Tanner/Marietta Meier/Gisela Hürlimann, Brigitta Bernet: Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870-1970, Zürich 2002; Daniel Hell: Klinische Psychiatrie – woher? – wohin? In: Psychiatrie im Aufbruch. Festschrift 100 Jahre Universitäts-Klinik für Psychiatrie Innsbruck, Innsbruck 1993, S.53-62

[17] Thomas  Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie, Zürich 2003, S 194-199

[18] Ähnliche Regelungen galten auch in Deutschland vor und nach der Nazizeit in gewissen Ländern und Zeiträumen.Vgl. Matthias Willing: Das Bewahrungsgesetz. Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 42). Tübingen 2003

[19] Vgl. dazu den Bundesgerichtsentscheid vom 11. April 1922; Otto Forrer: Rassehygiene und Ehegesetzgebung im schweiz. Zivilgesetzbuch, Aarau 1913; August Egger: Kommentar zum Zivilgesetzbuch, 2. Auflage, Zürich 1936

[20] Beispiele solcher Anzeigen der eigenen Patienten durch Eugen Bleuler und Hans Wolfgang Maier in Thomas Huonker: Diagnose "moralisch defekt", Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik, Zürich 2003, S.177

[21] Thomas   Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie, Zürich 2003, S 194-199

[22]  M. Vala: Sterilisation post partum. Diss. med. Zürich 1961

[23] Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988

[24] Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988, S.273. Einen so hohen Anteil erreichte die neue Diagnose bald auch in deutschen Kliniken, so ermittelte A. Wetzel in Württemberg am Stichtag des 1. August 1929 einen Anteil von 69% der Klinikinsassen, welche als „schizophren“ diagnostiziert waren: A. Wetzel: Die soziale Bedeutung, in: Handbuch der Geiseteskrankheiten, Hg. Oswald Bumke, Neunter Band, Spezieller Teil V: Die Schizophrenie, Berlin 1932, S. 622

[25] Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988, S.382

[26] Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988, S.381

[27] Manfred Bleuler: Erbanalytische Forschung. In: Der Erbarzt. Herausgegeben von Othmar Freiherr von Verschuer, Leipzig 1941, Band 9, S.12-16

[28] Schizophrenie. Multidisziplinäre Untersuchungen. Herausgegeben von A.W. Sneshnewski. Leipzig 1977. Vgl. zur Verwendung der Diagnose „Schizophrenie“ zur Einsperrung regimekritischer oder anderweitig von den damaligen dortigen gesellschaftlichen Normen Abweichender die Fallgeschichte Gregor in: R.L. Spitzer / M.Gibbon / A.E. Skodol / J.B.W. Williams / M.B. First: DSM-III-R, Falldarstellungen, Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-III-R, Weinheim 1991, S.404-406

[29] Aus: Hans Wolfgang Maier: Moralische Idiotie, Zürch 1908, zitiert nach Arnold 1992, S.58

[30] Aus: Hans Wolfgang Maier: Moralische Idiotie. Zitiert nach Arnold, S. 79 f.

[31] Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Nachdruck der Originalausgabe Leipzig 1911, Tübingen 1988, S.4

[32] So bereits 1932: Handbuch der Geiseteskrankheiten, Hg. Oswald Bumke, Neunter Band, Spezieller Teil V: Die Schizophrenie, Berlin 1932

[33] Hugo Ball: Sieben schizophrene Sonette. In: Dada. 113 Gedichte, herausgegeben von Karl Riha, Berlin 2003, S.39 – 42

[34]  Vgl,. Asmus Finzens Buch zum Schizophreniebegriff: Der Verwaltungsrat ist schizophren. Die Krankheit und das Stigma. Bonn 1996

[35] Gregory Bateson: Schizophrenie und Familie, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1992; ders: Ökologie des Geistes, Frankfurt am Main 1981

[36] Yrjö Alanen: Schizophrenie. Entstehung, Erscheinungsformen und die bedürfnisangepasste Behandlung. Stuttgart 2001

[37] Christian Scharfetter: Schizophrene Menschen. 3. Auflage, München 1990

[38] Daniel Hell / Margret Fischer-Gestefeld: Schizophrenien. Verständnisgrundlagen und Orientierungshilfen. 2. Auflage, Berlin 1993

[39] Asmus Finzen: Der Verwaltungsrat ist schizophren. Die Krankheit und das Stigma. Bonn 1996