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Tages-Anzeiger, Zürich, 2. April 2003. Besprechung des Buchs: Thomas Huonker, Martin Schuppli, Fabian Biasio (Fotos): Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003. Preis 42 Franken, zu beziehen beim Werk- und Wohnhaus zur Weid, Rossau, CH-8932 Mettmenstetten, oder im Buchhandel (ISBN 3-9522643-0-X) oder hier.
Paula Lanfranconi
Von der Zwangsanstalt zur Heimat
In Mettmenstetten leisteten so genannt trunksüchtige Männer Zwangsarbeit. Jetzt hat der Historiker Thomas Huonker die 90-jährige Geschichte der Rossau aufgearbeitet.

Das herrschaftliche weisse Gebäude fällt sofort auf in der idyllischen Landschaft des Säuliamtes. Es ist umgeben von ausgedehnten landwirtschaftlichen Bauten. Ihre warmen Holz- und Ziegeltöne geben der kleinen Siedlung eine friedvolle Note. "Man atmet tiefer, man bewegt sich ungebundener, alles ist ist hier viel natürlicher, freier, leichter", schrieb Hedwig Boye, eine Expertin des Anstaltswesens, über die Rossau. Doch dieser erste Eindruck täusche, denn die Insassen dieses friedlichen Bauernhofes seien nicht aus freien Stücken hier, sondern eingewiesen durch die Behörden. Das war 1946.

Heim für "liederliche Personen"

Die Wurzeln des Männerheims Rossau reichen zurück an den Anfang des 20. Jahrhunderts. In Zürich war 1908 die Amtsvormundschaft eingeführt worden. Bestärkt durch das neue Zivilgesetzbuch, begannen die Beamten, immer mehr so genannt liederliche Personen in Heime zu versorgen. Doch die kantonalen Korrektionsanstalten schafften es selten, diese Leute zu "bessern". Zürich, das war klar, brauchte eine eigene, effizientere Anstalt! 1912 gelang es, für "Männer, die infolge pathologischer Minderwertigkeit oder unheilbarer Trunksucht ständig der Fürsorge bedürfen", in Mettmenstetten ein "hübsch arrondiertes Gut von zirka 70 Jucharten Umfang in schöner Lage" samt Stier und 16 Kühen zu erwerben.
Die 15 Plätze waren bald gefüllt - vom ehemaligen Polytechniker und Kaufmann bis zum Gelegenheitsarbeiter waren alle Berufe vertreten. Die Kräftigeren mussten in der Landwirtschaft und bei der Trockenlegung des Rifferswiler Rieds Hand anlegen, die Schwächlicheren in Haus, Garten und Schreinerei. Als Entgelt gabs 1.50 Franken Sackgeld pro Woche und eine Ration Tabak. Alkohol war tabu, doch hielten sich die Männer beim sonntäglichen Ausgang schadlos. Wenn ein Internierter nicht den sittlichen Vorstellungen der Obrigkeit entsprach, riskierte er die Sterilisation: Im Fall Hermann B. zum Beispiel empfahl Anstaltspsychiater Charlot Strasser 1938, es sei dafür zu sorgen, dass "dieser asoziale Mensch nicht immer neue Nachkommen in die Welt setzt, die dann der Gemeinschaft zur Last fallen".

Aus dem Leben eines "Vaganten"

Der Fall des Lumpensammlers Alfred H. zeigt, wie man in den 30er-Jahren mit Randständigen umging.
Alfred H. war 50 und arbeitete 1936 im Männerheim Rossau als Melker. Er musste diese Arbeit aber aufgeben, weil er Schmerzen hatte in der linken Hand. Dr. Graf in Mettmenstetten fasste seine Untersuchung so zusammen: "Es handelt sich bei H. um einen Psychopathen mit depressivem Einschlag. Körperlich ist ausser den Folgen früherer Verletzungen nichts Besonderes nachweisbar. Der Freiheitsdrang sowie die Suizidgedanken lassen es als dringend notwendig erscheinen, dass H. aus der offenen Anstalt Weid in eine geschlossene Anstalt verbracht wird. Ich erlaube mir, Ihnen für H. die Überbringung nach dem Asyl Littenheid vorzuschlagen. Die Überführung sollte baldmöglichst stattfinden können, da der Mann, der in Rossau ständig in der Streue liegt, überaus störend im Anstaltsbetrieb sich auswirkt."
Alfred H. war nicht freiwillig ins Männerheim eingetreten. Die Armenpflege der Stadt Zürich hatte ihn auf Grund des (1981 aufgehobenen) Gesetzes betreffend die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern eingewiesen.
Nach einem Unfall und der Scheidung hatte der frühere Bauhandlanger H. ohne feste Stelle und ohne festen Wohnsitz gelebt. Dies verfolgten die Behörden als "Vagantität" H. sammelte alte Lumpen und nächtigte in Scheunen. Zwischen 1927 und 1936 wurde er fünfmal wegen "Vagantität" verhaftet. Ins Männerheim eingewiesen wurde H. laut Polizei, weil er in einem Lagerschuppen schlafend angetroffen wurde: "Fraglicher Schuppen gehört der schweizerischen Volksbank. Dieselbe hat wegen H. schon verschiedentlich reklamiert und duldet es nicht, dass H. sich dort wohnlich einrichtet."
Vom Asyl Littenheid aus bat H. 1938 um seine Freilassung: "Habe ja nichts verbrochen und bin kein Zürcher, das sind nur falsche Verleumdungen, so wahr ein Gott im Himmel lebt." Nach seiner Freilassung wurde der Lumpensammler von der Zürcher Fürsorge ständig überwacht und noch mehrmals wegen "Vagantität" verhaftet und versorgt, bis er 1941 an Krebs starb.

Historiker Huonker geht auch auf die besondere Stellung des Männerheims Rossau ein. Im Unterschied zu andern Zwangsinstitutionen wie Witzwil, Bellechasse oder Kalchrain sei die Rossau keine geschlossene Anstalt gewesen und somit auf die Kooperation ihrer Insassen angewiesen. "Dennoch", schreibt Huonker, "geisterte von Anbeginn an auch der Begriff der Arbeitstherapie durch die Akten rund um das Männerheim." Der Stadtrat liess sich dabei von W. Pauli, Vorsteher des Statistischen Amtes des Kantons Bern, über die Arbeitsproduktivität verschiedener Zwangsarbeitsformen beraten.

Haus zum Werken und Wohnen

Waren die Insassen der Rossau tatsächlich Zwangsarbeiter? Huonker meint klar ja: Die Arbeit jener Männer, die dort nicht einfach einen Pflegeplatz fanden - also die grosse Mehrheit - sei so lange Zwangsarbeit, als sie nicht entlöhnt wurde, "nicht einmal mit Kost und Logis, denn dafür mussten ja die einweisenden Zahlstellen aufkommen".
Es war ein weiter Weg von der Zwangsanstalt zum heutigen Werk- und Wohnhaus zur Weid. Heute erhalten die Beschäftigten für ihre Arbeit 12 bis 28 Franken Entschädigung pro Tag, je nach Behinderung und Leistung. Alle haben ein eigenes Bankkonto und einen eigenen Briefkasten. Überhaupt ist seit 1994, mit dem Eintritt des jetzigen Verwalters Hansruedi Sommer, fast alles anders in der Weid. Von den rund 55 Bewohners sind heute rund zehn Frauen. Fast alle erwischten einen schwierigen Start ins Leben, haben seit Jahren Alkohol- oder andere Suchtprobleme, psychische, körperliche oder soziale Beeinträchtigungen. Nach Aufenthalten in diversen Spezialinstitutionen sollen sie hier mit der Sucht umgehen lernen. Die Weid will ihnen dabei eine Heimat sein. "Heimat", zitiert Sommer Max Frisch, "ist dort, wo mich jemand erwartet." Und sei's ein Kälbchen, ein Büsi oder die schöne Landschaft.
Das Konzept hat Erfolg. Es gibt Wartelisten für die geschützten Arbeitsplätze im Bio-Landwirtschaftsbetrieb, in der Gärtnerei und der Schreinerei, Lehren und Anlehren in der Hauswirtschaft und im Landwirtschaftsbetrieb. Um der Nachfrage besser gerecht zu werden, will die Stadt Zürich als Trägerin der Weid jetzt die 55 Plätze um 10 bis 15 erweitern und die Zweier- in Einerzimmer umwandeln.
Auf dieses vielfältige heutige Leben im WWW geht der zweite Teil des Buches "Wandlungen einer Institution" ein. Martin Schuppli (Text) und Fabian Biasio (Fotos) stellen die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Betreuenden hautnah vor. Entstanden ist ein Mosaik unterschiedlichster Schicksale. Und man merkt bald: Auch wenn viele Bewohner ihr Herz nicht auf der Zunge tragen - die Weid ist den meisten wirklich zur Heimat geworden.
Malertrupp
im Werk- und Wohnhaus:
Kehtheeswaran (links)
Giuseppe (Mitte)
und Thomas (rechts)
Foto:
Fabian
Biasio