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Zum Gedenken an Sergius Golowin

(31. Januar 1930 bis 17. Juli 2006)

Der erste der hier dokumentierten Nachrufe erschien in der Berner Zeitung "Der Bund" am 20. Juli 2006



Charles Cornu

Der Schamane, der ein Berner war

Der Schriftsteller und Mythenforscher Sergius Golowin ist in seinem 77. Lebensjahr gestorben

Die Liste seiner Publikationen ist lang, bereits im 1988 erschienenen Verzeichnis «Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart» nimmt sie eine ganze Spalte ein, doch ihr Stoff ist, in vielerlei Variationen, immer der eine: die Magie der Herkunft, des Werdens und Vergehens.

Je älter Sergius Golowin wurde, umso stärker – auch umso bewusster – bot er das Bild eines Schamanen, eines Menschen vertieften magischen und mythischen Wissens und von Autorität in Bereichen geistiger Zeugnisse und Bewegungen zwischen Himmel und Erde. Jetzt, da die Kunde seines Dahingehens kommt – Sergius Golowin, am 31. Januar 1930 in Prag geboren, ist am Montag gestorben –, taucht einem seine Gestalt unwillkürlich vor Augen auf: gross und stattlich, lange Haare, Hakennase; mit Vorliebe in eine Lederjacke gekleidet, pflegte er gemessenen Schrittes einherzugehen, übrigens bis vor kurzem gerne über Land in Allmendingen, wo er in einer etwas heruntergekommenen Villa aus den Zwanzigerjahren mit seiner Familie lebte.

«Nur für den oberflächlichen Betrachter verschwindet die Vergangenheit spurlos im gähnenden Abgrund des Vergessens. Mögen Reiche der früheren Jahrhunderte durch Hader und Eigennutz im Innern und durch Barbarenstürme von aussen von den geografischen Karten gefegt werden – falls ihrer Gründung ein grosser Gedanke voranging, besitzen sie unzählige Nachwirkungen in den Träumen der Menschen.» Diesen Gedanken hat Golowin 1984 in einem Buch festgehalten, das den bezeichnenden Titel «Magie der Berge» und den nicht minder bezeichnenden Untertitel «Lebensenergie aus dem Ursprung» trug, und dieser Idee, diesem Suchen nach den Ursprüngen ist im Grunde sein ganzes Werk gewidmet.

Die Anfänge

Golowin, das mag mitgespielt haben bei seinem Forschen nach den nährenden Wurzeln, war der Sohn einer Bernburgerin und eines russischen Künstlers. Aufgewachsen ist er in Bern, hat den soliden Beruf eines Bibliothekars erlernt (wobei ihn allerdings beizeiten schon die alten Bücher nicht nur als Sammelgut beschäftigten, sondern ihm Quelle waren fürs eigene Denken und Studieren), hat dann bald einmal kleine Bändchen mit Gedichten veröffentlicht, die man, zurückblickend auf diese Produktionen aus den Fünfzigerjahren, romantisierend nennen könnte, hat später aber anderseits Fuss gefasst in der Politik und sich als Grossrat des Landesrings der Unabhängigen für die Rechte der Fahrenden und anderer Aussenseiter sowie für Fragen des Umweltschutzes eingesetzt.

Der Kulturphilosoph
Sergius Golowin
kurz vor seinem
75. Geburtstag
in Bern.

Foto: Manu Friederich .............................

Halb Berner, halb Russe, Bodennähe und weit ausschweifende Geistesabenteuer, das sind die Lebensumstände, von denen aus Golowin geträumt, geschrieben, erzählt und doziert hat. «Es schreitet seit Ewigkeiten / Frau Sonne auf schimmernder Bahn. / Es schreitet durch Ewigkeiten / neben dem Enkel der Ahn.» Eine Strophe aus einem 1956 veröffentlichten Gedicht: Wegmarke bereits fürs spätere Schaffen.

Brauchtum und Weisheiten

Golowins Schreiben und vielleicht noch mehr sein Referieren vor Leuten, die auf einer Art Sinnsuche sind, haben bald einmal grosse Beachtung gefunden; so ist er u. a. schon 1974 mit einem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet worden, und weitere Ehrungen sind nicht ausgeblieben. Mehr und mehr hat sich Golowin von der puren Dichtung der Anfänge fortbewegt und sich immer stärker den Sagen, Mythen, Träumen und Weisheiten des «Volkes» anheim gegeben, wobei, das lässt sich nicht verschweigen, das Herbeizitieren des «Uralten», seien das Bäume, Steine, Fluren oder weise Frauen, manchmal etwas Repetitives und Beschwörendes angenommen hat. Doch umgekehrt sind bei Lesern und Hörern die Sinne geweckt worden für Phänomene und Geschehnisse, die die Banalität des Alltäglichen reicher machen, wenn man sie erkennt und einzuordnen vermag in den Lauf der Zeit. Das ist sicher Golowins grosses Verdienst.
«Man lebt so lange, wie man sich nicht in seiner Welt langweilt, dies lehrte meinen Vater um 1920 der alte Bergler an der Grenze der abendländischen und asiatischen Kulturen, wie ich es schon mehrfach als Kind hörte, ganz genau so lange, wie man Freude an allen Wesen und Dingen um sich herum hat.» Auch dies eine Aufzeichnung Golowins. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Freude in ihm erloschen war. Wohl aber kann es geschehen, dass die Allmacht von Leben und Sterben stärker ist als das eigene Wollen. Golowin war es sicher wesensgemäss, dies zu akzeptieren.


(erschienen in: Der Bund, 20.Juli 2006)


Am Tag darauf erschien, ebenfalls im "Bund", ein Artikel über Familie Minster auf ihrem Standplatz bei Bern. Sonja Minster spricht darin Sergius Golowin ihren Dank aus für die Stärkung des Selbstbewusstseins der Fahrenden und insgesamt der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz.


Rainer Schneuwly

«Es ist auch in den Bürgerlichen»

Das Oberhaupt der Sinti-Familie in der Eymatt erkennt auf dem Camping nebenan ein Stück weit das Zigeunertum

Durch einen Zaun vom Campingplatz getrennt, lebt seit fast 30 Jahren eine grosse Sinti-Familie in der Eymatt. Dass die Leute in den Ferien gern in der freien Natur zelteten, zeige, dass jeder Mensch ein Stück weit Zigeuner sei, sagt die Familienälteste.

Wer von der Kantonsstrasse Bern-Wohlen her dem Strässchen folgt, das dem TCS-Campingplatz entlang in Richtung Bremgartenwald führt, stutzt bei diesem Anblick: Der Zaun, der das grosse Rechteck des TCS-Areals abgrenzt, macht plötzlich einen Knick. Und spart ein Gelände aus, auf dem wie auf dem Zeltplatz ebenfalls Wohnwagen stehen. Sind das auch Camper?, fragt man sich. Die Antwort lautet nein: Hier leben seit Anfang der 80er-Jahre Minsters, eine Familie aus dem Stamm der Sinti. Aus etwa 25 Personen, aufgeteilt auf vier Generationen, besteht sie.
Auf der anderen Seite des Zauns:
Sonja Minster vor ihrem Häuschen neben dem Campingplatz Eymatt.
Foto: Valérie Chételat

Das älteste Familienmitglied, die 72-jährige Sonja Minster, ist das Oberhaupt. Sie empfing gestern den «Bund» vor ihrem schmucken, kleinen Häuschen, eines von etlichen auf dem Gelände, und sagte, wie seit vielen Jahren lebten die Minsters auch heute noch vom Hausieren und Handeln – nicht mehr vom Scherenschleifen und Korbmachen wie früher, sondern beispielsweise von kleinen Reparaturarbeiten bei Hausbesitzern im In- und Ausland. Nach wie vor betrachte sich die Familie nicht als sesshaft, sondern als fahrend. «Die Jungen sitzen auch heute noch im Frühling zusammen und beraten, wohin es gehen soll. Wie Vögel, wenn sie zum Ausflug ihre Federn schütteln.» Allerdings seien in diesem Sommer wegen eines Todesfalls nicht alle ausgeflogen.

5000 unterschrieben für Minsters

Minsters haben eine bewegte Geschichte hinter sich. Der «Bund» widmete ihnen 1997 eine ganze Seite. Als in den 80er-Jahren der TCS den Campingplatz in der Eymatt erweitern wollte, sollten die Minsters weggewiesen werden – nachdem sie nach immer wieder neuem Suchen nach Standplätzen 1979 dort endlich einen gefunden hatten. Unter dem Eindruck der damals publik gewordenen Aktion «Kinder der Landstrasse» – die Pro Juventute trennte jahrelang Fahrenden-Kinder von ihren Eltern – bildete sich ein Unterstützungskomitee.

5000 Personen setzten sich mit einer Petition für den Verbleib der Familie in der Eymatt ein. Die Stadt Bern, der der Boden gehört, einigte sich in der Folge mit dem TCS auf folgende Lösung: Bern gewährte dem Touring-Club einen Baurechtsvertrag über 50 statt wie ursprünglich geplant 30 Jahre. Im Gegenzug verzichtete der Club auf eine Entschädigung. Stadt und Kanton erschlossen dann das Gelände; Minsters mieten es seither. Der «Bund» berichtete im Herbst 1988, dass das Eröffnungsfest des Standplatzes bei Spanferkel und Gitarrenklängen zu einem Versöhnungsfest geworden sei. Minsters sind heute sogar TCS-Mitglieder. Aus Dankbarkeit, sagt das Familienoberhaupt, aber auch, um bei allfälligen Problemen mitsprechen zu können.

Sinti machen keine Ferien

Die Familie fühle sich heute wohl in der Eymatt, sagt die freundliche Frau. Das Einvernehmen mit den Camping-Betreibern und den Bewohnern der Umgebung sei gut. Man versuche, mit allen in Frieden zu leben. Sicher, es gebe Leute, welche den Zigeunern nicht wohlgesinnt seien. «Die guten Leute sind aber in der Mehrheit.» Kürzlich musste die Familie vor ihrem Gelände ein Schild aufstellen. Darauf bat sie, keinen Kehricht mehr zu deponieren. «Man war der Meinung, dass man bei den Zigeunern einfach Abfall hinstellen könne.»

Mit den temporären Nachbarn auf der anderen Seite des Zauns, den Campern, ergibt sich hin und wieder ein Gespräch. Vor zwei Jahren hätten sich Feriengäste für die Minsters eingesetzt, als diese bei Musik und mit einem Feuer einen Geburtstag feierten und wegen einer Klage über Lärm die Polizei auftauchte. «Das war ein ganz gutes Erlebnis», erinnert sich die mehrfache Mutter, Gross- und heute auch schon Urgrossmutter.

Was hält sie von Leuten, die zwei Wochen pro Jahr auf Achse sind, ein temporäres Zigeunerleben führen? «Wir erkennen, dass das, was in uns konstant vorhanden ist, auch in den Bürgerlichen lebt. Auch der Bürgerliche empfindet zeitweise das Bedürfnis, sein Häuschen ans Auto zu hängen, in die Natur hinauszugehen und die Freiheit zu suchen», antwortet Sonja Minster. Machen auch Sinti Urlaub? «Ferien ist für den Sinto, wenn er am Freitagabend oder Samstag sagen kann: Jetzt ruhe ich bis Montag. Oder hopp, wir spannen an und fahren an diesen oder jenen Treff.» Zigeuner teilten das Jahr nicht in 47 Arbeits- und 5 Ferienwochen auf.

«Golowin gab mir das Rückgrat»

Als den Minsters in den 80er-Jahren in der Eymatt die polizeiliche Räumung drohte, setzte sich das «Initiativkomitee pro Fahrende in der Schweiz» für sie ein. Laut Sonja Minster gab aber der am Montag verstorbene Berner Schriftsteller und Mythenforscher Sergius Golowin der Familie den Anstoss, sich für den Standplatz zu wehren. Er sei auf der Suche nach einer Zigeunerkapelle in der Eymatt aufgekreuzt und habe ihr klar gemacht, dass Fahrende eine Minderheit mit Rechten seien. «Ihm verdanke ich, dass ich das Rückgrat hatte, zu widerstehen.» Leider gebe es auch heute noch viel zu wenig Winter-Standplätze für Fahrende in diesem Land. (ry)

(erschienen im Bund, Bern, am 21. Juli 2006)



Im Nachruf, der im Bieler Tagblatt vom 21. Juli 2006 erschien, wird vor allem auch das frühe, langjährig und wirkungsvolle Engagement erwähnt, mit dem Sergius Golowin die Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz und auch ausserhalb der Schweiz unterstützte.


Freitag, 21. Juli 2006

Publizist, Aktivist und «Asphalt-Schamane»

Sergius Golowin veröffentlichte über 100 Bücher, half den «Kinder der Landstrasse»-Skandal aufzudecken und propagierte die Wiedereinführung der Berner Fasnacht: Am Montag starb er 76-jährig in Bern.

sda. Sergius Golowins Staatsschutz-Fiche wies ihn als «prominentesten Nonkonformisten von Bern» aus. In den Strassen Berns war er jahrzehntelang schon von weitem an seinem wallenden Haupthaar als solcher zu erkennen. Ein «Asphalt-Schamane», wie er genannt wurde, war er nicht unbedingt. Da er unter anderem über Tarot, Hexen, Berner Hausgespenster und Alchimie publizierte und keinen akademischen Bildungsgang aufzuweisen hatte, galt er vielen als «Esoteriker». In erster Linie aber war der gelernte Bibliothekar ein enzyklopädisch belesener Kulturphilosoph.
Geboren wurde Sergius Golowin am 31. Januar 1930 in Prag als Sohn eines russischen Künstlers und einer Schweizer Lyrikerin aus dem noblen Berner Geschlecht der von Steiger. Mit drei Jahren kam er mit seiner Mutter nach Bern. Nach der Lehre in der Stadt- und Universitätsbibliothek veröffentlichte er romantisierende Gedichte. 1957 bis 1968 war er Archivar in Burgdorf, danach freier Publizist.
Schon vorher beteiligte er sich an freien geisteswissenschaftlichen Arbeitskreisen, so ab 1951 zusammen mit dem österreichischen Dichter H.C. Artmann. Im Rahmen der «Berner Dichter-Keller» organisierte Golowin von 1955 bis 1975 wöchentliche Veranstaltungen, an denen Menschen aus allen Schichten mündlich überlieferte Sagen und Bräuche erzählten. Bereits 1966 - sechs Jahre bevor Hans Caprez mit seiner «Beobachter»-Artikelserie den Skandal um die menschenverachtenden Praktiken des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» enthüllte - wies Golowin im Buch «Zigeunergeschichten» die rassistischen Wurzeln der Fahrenden-Verfolgung nach. Als Anerkennung gab ihm 1969 Friedrich Dürrenmatt einen Literaturpreis weiter.
Als Berner Grossrat für den Landesring (1971-80) setzte sich Golowin weiterhin für die Rechte der Fahrenden ein, aber auch für andere Randständige und für den Umweltschutz. 1974 wurde ihm für sein Engagement ein Preis der Schweizerischen Schillerstiftung verliehen. Golowins Grundthese lautete, dass in Mythen, Riten und Volksglauben uraltes Wissen um die Welt und das Leben aufgehoben ist, das in wissenschaftlicher Zeit entweder verloren ging oder entseelt wurde. Darin unterschied sich der Selfmade-Volkskundler nicht gross von der offiziellen Wissenschaft. Allein, Theorienbildung war weniger sein Ehrgeiz als das Sammeln.

Schon am 19. Juli 2006 hatte das online-Portal der Tagesschau des Schweizer Fernsehens des Verstorbenen gedacht:


Mittwoch, 19. Juli 2006, 18:33; Letzte Aktualisierung: 23:18

Sergius Golowin gestorben

Autor, Mythenforscher und Publizist

Der Berner Autor, Mythenforscher und Publizist Sergius Golowin ist tot. Er starb am Montag im Alter von 76 Jahren in seinem Heim in Bern, wie die Familie am Mittwoch mitteilte.
Sergius Golowin kam 1930 in Prag zur Welt. 1933 kehrte seine Mutter, die Dichterin Alla von Steiger, mit ihrem Sohn in die Schweiz zurück; der Vater, ein russischer Bildhauer, lebte getrennt von der Familie in Paris.
Golowin arbeitete nach seiner Schulzeit zunächst als Bibliotheksassistent in Bern. In der Bundesstadt engagierte er sich in der Jugendbewegung. Zwischen 1971 bis 1981 setzte er sich als Grossrat des Landesringes der Unabhängigen (LDU) für die Rechte der Fahrenden und für Umweltanliegen ein.
Golowin ist Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel zu Themen der Volkskunde und der Esoterik. Für seine Verdienste um die Volkskunde und um Menschen am Rande der Gesellschaft erhielt er 1974 den Preis der schweizerischen Schillerstiftung.
(sda/wyse)

In der NZZ am Sonntag erschien am 06.08.2006 (Seite 14; Nummer 32) dieser Nachruf von Willi Wottreng, der sich selber auch intensiv mit den Fahrenden in der Schweiz beschäftigt.



Nachrufe

Von Feen und Fahrenden

Sergius Golowin, Berner Mythenforscher, ist 76-jährig gestorben

Willi Wottreng

Alles andere als ein fahrender Gesell war er: ein Bücherwurm und sesshafter Bibliothekar. Doch wer den Kosmos denkend bereist, ist auch ein Fahrender, fand er. Dem Staatsschutz, der ihn beäugte, galt er als «prominentester Nonkonformist von Bern».
«Das wahre Urvolk der Gebirge» - jedenfalls den Sagen nach - seien Feen, Bärglütli, Härdlütli, Heiden und Sarazenen und wie man sie immer nenne. Und wenn er eine Sage über sie erzählte oder sich erzählen liess, pflegte er schmunzelnd anzufügen: «S cha si, s cha nid si, s cha ou ganz andersch si.» Es kann sein, vielleicht ist es auch ganz anders.
In Prag kam Sergius Golowin 1930 zur Welt als Sohn einer Berner Patrizierin. Die Mutter aus dem Geschlecht der von Steiger war Dichterin und las dem Bub manchmal östliche Weisheiten vor. Die Linie des Vaters, eines russischen Bildhauers, führte zurück nach Odessa; seine Grossmutter - so erzählte Golowin später - sei eine Zigeunerin gewesen. - S cha si.
Nach der Ausbildung in Bern wurde Golowin 1957 Stadtbibliothekar von Burgdorf. Er begnügte sich nicht, Bücher aus den Regalen zu holen - man erinnert sich, wie er sie mit schrägem Oberkörper unter dem einen Arm zu schleppen pflegte. Er versenkte sich selbst darin. «Bücher waren für ihn fliegende Teppiche», sagt sein Freund Xeno Zürcher. Der Bibliothekar sammelte Fabeln und Sagen und veröffentlichte sie in einer Buchreihe.
Ende der fünfziger Jahre entstand in Berns berühmten Kellern eine eigenwillige Szene von Literaten, Querdenkern und Lebenskünstlern. Man traf sich bei den «Kaminfeuer-Lesungen», dann im Zirkel «Tägel-Leist», dann im Kellerlokal «Junkere 37», wo Golowin über «Bänkelsänger im Bernbiet» sprach oder «die Geheimwissenschaft des fahrenden Volkes».
Als 1961 die Nationalstrasse 1 zwischen Zürich und Bern gebaut werden sollte, wurden im Grauholz zwei Findlinge versetzt, die an den Riesen «Botti» erinnerten. Golowin trat an die Öffentlichkeit. «Grabschändung» rief er und veranstaltete einen Fackelzug. Dinge wie die «Botti»-Steine seien für ein Volk «lebensnotwendig». Damit läutete er seinen Kampf gegen den «Fortschrittswahn» ein.
Golowin, ein grosser Mann mit hakiger Nase, langen Haaren und gern in Lederjacke, zog die Fäden in der Szene. Er galt bald als prominenter Nonkonformist und hatte ein dickes Päckli Fichen beim Staatsschutz. Er machte sich unbeliebt: Seinen Posten als Stadtbibliothekar hatte er aufgeben müssen, nun betätigte er sich als freier Schriftsteller. Die Titel seiner Bücher, die nach und nach erschienen, spiegeln seine Mythensuche: «Magische Gegenwart», «Lustige Eidgenossen», «Zigeunermagie im Alpenland», «Die Welt des Tarot».
Als der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt 1969 den «Grossen Literaturpreis des Kantons Bern» in Empfang nehmen sollte, kam es zum Kulturskandal. «Die Preise kommen, wenn man sie nicht mehr braucht», sagte der Dichterfürst in seiner Rede, und verteilte das Geld an drei Junge. Darunter Sergius Golowin, «der die Geschichte des nicht offiziellen Bern erforscht», wie Dürrenmatt sagte. «Sein Herz gehört den Vogelfreien unseres Rechtsstaates.» - Immer mehr wandte sich dieser Junge den «Fahrenden» zu - den Roma, den Jenischen, den Sinti. Es ging ihm nicht um die Abgrenzung dieser Gruppen, er vermischte sie gern. Von ihm aus gehörten auch die Hippies und die sogenannten Gammler dazu. Alle waren für ihn fahrend, die es begriffen hatten. Es - dass nichts fest ist im Leben und alles kommt und vergeht. Und dass Geschichten für die Seele wichtiger sind als Börsenkurse. Solches verkündete er in der «Kritischen Untergrunduniversität» - die er mit andern gründete -, liebevoll «Kuss» genannt.
Manche belächelten ihn. Denn Golowin blieb dabei, auch als die Hippiezeit verblühte und die Nonkonformistenszene ergraute. Sein Anliegen blieb die Pflege der geistigen Artenvielfalt im Land. In seinen Büchern, die er weiter publizierte, bürstete er die ganze Schweizergeschichte quer. Er machte die Fahrenden zu den wahren Ureidgenossen. Erzählte, dass die tapferen Schweizer Hirtenkrieger nur dank magischen Künsten und Kräutern über ihre Feinde siegten. Entdeckte noch im Volkslied vom «Vreneli ab em Guggisbärg» Hinweise auf den Drogenkonsum der Vorfahren (auf die Substanzen «Muschgate» und «Nägeli»). - S cha si.
Manche leibhaftigen Fahrenden hörten ihn gerne, sie nahmen ihn auf in den Verwaltungsrat ihrer Organisation, die Radgenossenschaft.
Selbst die Sage vom Igel, der jeden Wettlauf mit dem Hasen gewann, sei eine jenische Sage, erzählte er dem Autor. «Der Igel konnte seinen Sieg nur erreichen dank der Igelsippe», so Golowin, «die an jedem Posten einsprang» - bombastisches Lachen. Und wenn man so zwei Stunden verhockt hatte, verabschiedete sich Golowin mit sanftem Lächeln und dem Gruss: «Tschou Liebä».



Über diesen Link gelangen Sie zu einer Besprechung des letzten Buches von Sergius Golowin über die Jenischen.