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Der Baggersee


Von Thomas Huonker

Ich fuhr heim. Dahin, wo ich herkam.
Es ist lange her.

Rittingen heisst der Ort. Es gibt Leute von dort, die heissen Rittinger. Der Lehrer hatte Rittinger geheissen. Er hat mir jeden Winkel des Kaffs verdorben mit seinen Erklärungen. Hier war ein Hünengrab. Dort ein Hochmoor. Da ein Drumlin. Ein Findling. Dort ging die Römerstrasse durch. Im Steinbruch am Nebelhang hatte es Versteinerungen. Der Goldhügel, wo die Reichen wohnten, war eine Moräne. Die Kirche war spätgotisch.
Es gab in Rittingen auch Meyers. Meyers Haus, die alte Schmiede, war ein Blockständerbau. Müllers Mühle Fachwerk. Das älteste Wohnhaus in Rittingen: Ein Flarzbau. In seinen feuchten Mauern wohnten die Tschinggen.

Das Flarzhaus ist nicht mehr da. Müllers Mühle wurde zum Ortsmuseum. Die Ausländer wohnen jetzt in Gellertshausen. Gellert ist der Pionier des Plattenbaus in unserer Region. Er hat in der Flugschneise 200 Wohnungen hochgezogen. 10 Stockwerke, 5 Blocks. Macht pro Stockwerk 4 Wohnungen. Hinter Meyers Fachwerk Industriegebiet. Rechtwinklige Erschliessungsstrassen. Lastwagenrampen. Maschendraht. Stapel von Betonröhren. Ein Möbelhaus, bunt beflaggt. Gellerts Kranlager. Dutzende Krane, flachgelegt. Die Konjunktur ist schwach. Die rotgestrichenen Metallteile und die gläsernen Kabinen sehen aus wie eine zusammengestauchte Achterbahn. Mittendrin ein McDonald. Drive-In.

Ich fahre ein. Die Stimme aus dem Blechkasten: Willkommen. Was wünschen Sie? Ich sage: Hi Heimat. Die Stimme: Was wünschen Sie? Ich wünsche: Ein Burger, eine Cola. 10 Meter weiter der Kassenschalter. Ein kahlgeschorener Junge mit schnellen Fingern. Noch fünf Meter: Essensausgabe. Eine asiatische Frau mit dem Ami-Käppchen. Ich verstaue Kartonbecher und Styroporbehältnis auf dem Nebensitz.

Lehrer Rittinger ist jetzt im regionalen Altersheim in Tattlingen und hält Diavorträge, denke ich beim Ausfahren. Oder begraben. Meine Grosseltern sind hier begraben. Nein, kremiert. Und die Gräber sind aufgehoben. Das hat ihm die Mutter noch geschrieben, bevor all ihre Klagen und Beschwernisse sich in Alzheimer auflösten.

Hier links hinter dem Kranlager muss der Baggersee sein. Ja. Die Kiessortieranlage. Ein Ungetüm aus Beton und Stahl. Plastikfetzen hängen von den Kiesfärderbändern herab. Ich kurve in die Einfahrt. Das Kieswerk ist tot. Eine Industrieruine. Die Fenster des Werkzeughäuschens eingeschlagen. Ich parkiere, steige aus, balanciere Burger und Cola, setze mich auf einen Betonblock.

Der Baggersee muss in den letzten Tagen aufgefüllt und planiert worden sein. Zwei Bagger stehen da, eine Walze. Weiter hinten ein Sandhügel, darauf der dritte Bagger. Am Montag wird er das verbliebene Dreieck aus Wasser und Binsen auffüllen, das am Ende des wiedererstandenen Erdbodens noch verblieben ist.

Ach, der Baggersee. Ich wage es noch nicht, mich an alles zu erinnern.

Ich esse den Hamburger.

Ein schwarzer Mercedes biegt ein. Der Mercedes hält. Ein weisshaariger Herr in blauem Anzug steigt aus, steifbeinig, entschlossen. Filmreife Szene. Der Herr wirft einen sichernden Blick auf mich und meinen alten Fiat. Dann schreitet er das Gelände ab. Wie einer, der darauf einen dieser glitzernden Paläste aus Alu und Spiegelglas hochziehen wird.

Ich nehme den Colabecher und schlendere hinter dem Weisshaarigen her. Wieder der sichernde Blick. Beult sich sein Jackett oder seine Hose irgendwo aus? Vielleicht ist es nur der Gemeindepräsident. Ein Mafiaboss wäre mit Body-Guards gekommen. Aber es ist ein schwarzer Mercedes, und der Blazer beult sich aus. Der Weisshaarige hat diesen Blick. Er geht über den planierten Baggersee, als ob er seinen Todfeind darin versenkt hätte. In einem Betonblock.

Leichen sind die Ecksteine grosser Konzerne.

Ja. Der weisse Blaue hat seine Millionen gewaschen, seinen Feind versenkt. Hier bauen ist günstig. Zentraleuropa, Nähe Autobahn, Flughafen.

Hier war der Baggersee. Ich habe ihn gefürchtet und geliebt als Kind. Er war eine unheimliche Erscheinung. Ständig veränderte er seine Form. Mal war er lang und schmal, mal quadratisch, dann hatte er neue Seitenarme. Ich wusste nie, ob die Enten und Blässhühner nicht auch ferngesteuerte Attrappen waren wie die ferngesteuerten Modellschiffchen der Bastelkapitäne mit ihren Funkgeräten.

Mein grosser Cousin hatte mir eingebläut: Im Baggersee ist ein riesiger Hecht. Ein Angler hat ihn ausgesetzt. Er frisst die jungen Enten. Er beisst vielleicht auch dich. Er ist länger als ein Meter. Beim Schwimmen blieb ich ständig in einem Plastikfetzen, einem Algengewirr oder einem Stück Draht hängen.

Aber der Baggersee war das Paradies meiner Jugend. Sonne. Erde. Wasser. Feuer hatten wir da gemacht. Brennende Vulkaninseln aus Autopneus und Oelkanistern hatten wir vom Stapel gelassen. Ich habe Weiden gepflanzt. Blei gegossen. Büchsen beschossen. Mit Gummischleudern und mit dem Flobertgewehr von Barbaras Bruder.

Ich lasse den Colabecher fallen.
Sie hatte ihren Slip nicht mehr gefunden nach dem ersten Mal. Vielleicht hat der Hecht ihn verschluckt. Barbara ist jetzt meine Ex-Frau.
Ich trete nach einem Kieselstein, verfehle ihn. Nur logisch, dass der Baggersee planiert ist.

Was aus dem Hecht geworden ist? Er hat die Knochen des versenkten Feindes abgenagt. Und als der Angler von der Planierung vernommen hat, hat der ihn zurückgeangelt. Der Hecht war ein Meter zwanzig lang. Sein Kopf hängt ausgestopft im Gasthof Kreuz.

Ganz hinten standen noch einige Weiden. Ja, das ist meine. Ich habe ihr ein Herz in die Rinde geritzt. Die Narbe ist noch da. Hinter den Weiden ein kleiner Rest Baggersee. Eine Tafel: Baden im Schlammsee verboten. Lebensgefahr. Was für Giftschlick ist hier abgelagert worden? Die Algen, die da wucherten, waren braunviolett. Aber in den Binsen nistet ein Entenpaar.

Auch der Glaspalast des Blauweissen wird irgendwann planiert werden.

Ich winke den Enten zu, spucke dem gelben Bagger auf die rostige Raupe, steige ein, fahre ab.

Der schwarze Mercedes ist nicht mehr da.



(geschrieben zwischen Zürich und Karlsruhe, 28. 4. 1998)