Thomas
Huonker
A rchiv
Texte
A nderes
www.thata.ch
Inhalt
- Liste aller thata-Seiten
- Histodrom
- Dokumente - Bilder
- Jenische in der Schweiz
- Jenische in Europa
- Roma in der Schweiz
- Sinti und Roma in Europa
- Roma in der Welt
- Der Umgang mit Fahrenden in der Schweiz bis 1798 - Auszüge aus Chroniken
- Fahrende und Bürgerrechte - Zwangseinbürgerung 1851
- Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" (1926-1975)
- "Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz
- Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen
- Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus
- Der Sammler, Historiker und Flüchtling Eduard Fuchs (1870-1940)
- Menschenrechte und Minderheitsrechte - Texte von Thomas Huonker - Pressespiegel
- Bilder und Objekte von Thomas Huonker - Ausstellungen - Vita - Publikationen
- Literaturverzeichnis - Service - Animalorama - Sitemap/Index - home

index



links



mail

Zum Schweizer Antiziganismus.
Eine von vielen Formen der Stereotypisierung und Diskriminierung.


(In: Monatsmagazin MoMa, Zürich, Nr.6 / Juni 2000, p. 19-21. Mit einer Illustration von Yves Netzhammer. Hier leicht überarbeitet wiedergegeben.)

Von Thomas Huonker*

Stereotypisierung von Menschengruppen, die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften auf alle Zugehörigen der Gruppe und deren wertende Einstufung gegenüber Angehörigen anderer Menschengruppen, ist ein zentraler Mechanismus insbesondere hierarchisch aufgebauter Gesellschaften. Selbst wo Hierarchien, wie beim Häuptling oder bei der Medizinperson in Stammesgruppen, in Gestalt einzelner Individuen wirken, gibt es auch die gegenseitige Stereotypisierung der Geschlechter, Clans und Altersklassen; ferner unterliegen Andersstämmige der Stereotypisierung. Diese archaischen Grundmuster wirken auch in Klassengesellschaften weiter. Modernere Stereotypisierungen erscheinen gern in funktionalem Gewand, enthalten aber auch diskriminatorische Brisanz. Adel, Priesterschaft oder andere durch Herkunft, Besitz oder Bildung sowie daraus abgeleitete ständische Vorrechte als Gruppenzugehörige einheitlich Definierte, spezifischen Rechtsstatuten Unterworfene wie Bevormundete, Gefangene, Niedergelassene, Jahresaufenthalter, Kurzaufenthalter, Invalide, Arbeitslose, Papierlose, aber auch in Lohnklassen oder Bezügerklassen von Sozialversicherungen Eingeteilte sind moderne stereotypisierte Gruppen. Archaische stereotypisierende Einstufungen wie Sklaverei, Unberührbarkeit oder Ehrlosigkeit haben in den letzten 150 Jahren viel Kraft verloren, wirken aber noch nach.
Im Zeichen zunehmender Individualisierung bilden Konglomerate und Kombinationen archaischer und moderner stereotypisierender sozialer Strukturelemente, in steter Wechselwirkung mit dem aktuellen Handeln der einzelnen Individuen, die lokalen sozialen Konstellationen auf unserem Planeten. Die einzelnen Individuen stehen dabei jeweils im Kräftefeld mehrerer Stereotypisierungsmuster, wobei sich gleichgerichtete Kräfte verstärken.
Stereotypisierungen können negativ, also abwertend, oder positiv, also aufwertend sein. Oft sind sie ambi- oder plurivalent, also mehrdeutig, wenn auch meist von entweder überwiegend negativer oder positiver Gesamtwertung. Positive, aufwertende stereotype Zuschreibungen, etwa der Nimbus von Ärzten als "Götter in Weiss", der Kapitalbesitzer als "Arbeitgeber" oder der Priesterschaften als Mittler zu höheren Mächten bringen diesen im allgemeinen gesellschaftliche Vorteile, unterliegen aber auch der Kritik, sei es seitens konkurrierender sogenannter Eliten oder sei es im Namen des im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte zunehmend als universal gültig akzeptierten Grundprinzips der Gleichwertigkeit aller Menschen.
Pogrome und ähnliche Gewaltakte oder Verfolgungsmassnahmen gegen menschliche Individuen einzig aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ins Visier aggressiver Kräfte geratenen Gruppe resultieren meist aus einer vorangehenden, langdauernden negativen Stereotypisierung der Gruppe. Gewalt gegenüber vordem privilegierten Gruppen kann aber auch aus einem plötzlichen revolutionären Umschlag der bisherigen Stereotypisierungen vom Positiven oder Neutralen ins Negative resultieren.
Die Fahrenden in der Schweiz unterliegen seit Jahrhunderten stereotypen negativen Zuschreibungen, die oft auch staatlich kodifiziert waren, so in Tagsatzungsbeschlüssen (ab 1471 bis ins 18. Jahrhundert) mit Aufrufen zur "Ausrottung" der "Zeginer" und anderen "herrenlosen Gesindels". Sie wurden auch mitttels spezifischer Rechtssetzungen gegen Nichtsesshafte diskriminiert, von Landesverweis über Brandmarkung bis zu Galeerenstrafe und Erhängen. Auch nach der Einbürgerung eines Teils der Fahrenden ab 1851 unterlag die fahrende Lebensweise staatlichen Einschränkungen (Verbot des Fahrens mit schulpflichtigen Kindern, prohibitive Patentgesetze für Wandergewerbe, Wahrsageverbot, spezielle Kontrollverfahren gegen Nichtsesshafte und deren spezifische Registrierung). Das von der Tagsatzung über Jahrhunderte postulierte generelle Einreiseverbot für auswärtige Fahrende wurde im liberalen 19. Jahrhundert kurz aufgehoben, aber seit 1906, verschärft durch ein "Zigeunertransportverbot" auf staatlichen Eisenbahnen und Dampfschiffen, wieder eingeführt und bis 1972 konsequent durchgehalten. Die Personalien von Sinti, Roma und Jenischen, die dennoch Lebensunterhalt oder Zuflucht in der Schweiz suchten, wurden seit 1913 mit Fingerabdruck und Fotos in einem "Zigeunerregister" gesammelt. Während des langwierigen polizeilichen Identifikationsverfahrens wurden die Roma unter Familientrennung interniert und - auch im ersten und im zweiten Weltkrieg - konsequent ausgeschafft, was in verschiedenen erst seit kurzem dokumentierten Fällen zu deren Ermordung durch die Nazis führte. Die generelle Einreisesperre galt als fremdenpolizeiliche Vorschrift bis 1972; die Schweiz behielt damit lange eine antiziganistische Sonderstellung in Europa. Parallel lief die staatlich abgesegnete und mitfinanzierte, aber parastaatlich - von 1926 bis 1973 durch die Pro Juventute - koordinierte Verfolgung der eingebürgerten Jenischen, sowohl der Sesshaften wie der Fahrenden. Die prägenden Elemente dieser Verfolgung : Kindswegnahme, Familientrennung, Zwangssterilisation, Kinderarbeit und spätere Einzwängung in schlechtbezahlte Arbeitsverhältnisse sowie ein faktisches Kultur- und Sprachverbot. Hinzu kam eine psychiatrische Kollektiv- Diagnose der Jenischen als "erblich minderwertige", "kranke" Teile am "gesunden Volkskörper", mit ebenfalls erst seit kurzem dokumentierten Querverbindungen zu eugenisch-nazistischen Verfolgern der Fahrenden wie Friedrich Stumpfl und Robert Ritter.
Angesichts dieser weit über die anderweitige Zäsur von 1945 andauernden Verfolgungssituation kam es zur Selbstorganisation der Jenischen in der Schweiz erst über hundert Jahre nach ihrer Einbürgerung, nämlich in den 1970er Jahren. Die Gründung von Organisationen der als Saisonniers oder als Flüchtlinge, unter Verleugnung ihrer ethnischen Zugehörigkeit, eingereisten Roma aus Osteuropa in der Schweiz begann sogar erst Ende der 1990er Jahre.
Ein Wendepunkt in dieser Konstellation war das Gutachten Kälin zur Lage der Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo 1999. Nun kann es für Roma-Flüchtlinge in der Schweiz erstmals Vorteile bringen, den Behörden gegenüber zur eigenen ethnischen Identität zu stehen. Vorher war krasse Benachteiligung, oft die sofortige Ausschaffung, die Folge.
Nachdem anfänglich nur eine kritische Öffentlichkeit die Anliegen der Fahrenden unterstützte, werden diese in den letzten Jahren, auch unter dem Druck neuer Rechtssetzungen des Europarats, von staatlichen Instanzen zunehmend, wenn auch noch nicht ausreichend, ernst genommen.
Auf internationaler Ebene war die Gründung autonomer Organisationen der Roma im Westen im Lauf der 1970er und 1980er Jahre erfolgt, parallel zur modernen Selbstorganisation der Indigenen in Amerika und Australien, gegen welche oft ähnliche Strategien angewendet worden waren (Kindswegnahmen, Zwangssterilisationen, Sprach- und Kulturverbote). Im Osten, wo die Roma etwa in Rumänien oder Ungarn einen grossen Anteil an der Bevölkerungszahl haben, gab es erst nach 1989 einen Gründungsboom von autonomen Roma-Organisationen.
Das Bestreben zur Anerkennung der selbst definierten Identität ist etwas anderes als die polizeilich definierte Identifikation und Registrierung oder die in parastaatlichen Aktenbergen und von einer rassistischen Wissenschaft mit Bienenfleiss summierten Diffamierungen einer Minderheit. Hier stehen die Schweizer Jenischen in Europa als Pioniere da. Dies in einem Umfeld, das solche menschenrechtliche, gruppenrechtliche, staatsrechtliche und völkerrechtliche Bestrebungen aus individualistisch-liberaler Sicht und mit dem gegen Mehrheitsethnien selten verwendeten dekonstruktionistischen Vokabular als unerwünschte "Ethnisierung" abtut. Die Schweizer Jenischen geben ihre eigene "Zeitung des jenischen Volkes - Scharotl" heraus imd fordern mit zunehmendem Erfolg Stand- und Durchgangsplätze sowie andere wichtige Grundlagen ihrer Existenz als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger mit eigener Kultur ein. Es gibt in Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien und - im Gefolge von Deportationen und Zwangsauswanderung - auch in Übersee insgesamt Hunderttausende von Jenischen. Ausser in der Schweiz haben die Jenischen keine Organisationen, und nur wenige Gruppenzugehörige stehen bisher im übrigen Europa nach aussen zu ihrer jenischen Herkunft und Identität. Denn sie laufen sonst das Risiko, in ihrem persönlichen Fortkommen eingeschränkt zu werden durch die bekannten stereotypen Vorurteile betreffend die unter den Phantombegriff "Zigeuner" Subsumierten: Sie seien "anders", "fremd", "unreinlich", "ungebildet", "diebisch", "unstet", "von der Hand in den Mund fröhlich in den Tag hinein lebend" ...
Neben und nach den Leistungen der Pionierinnen und Pioniere jenischer Selbstorganisation und der Rückeroberung der lange verbotenen fahrenden Lebensform zeichnet sich zunehmender Stolz auf die eigenen Wurzeln anstelle von Scham und Verleugnung neu auch bei wohlhabenden sesshaften Schweizer Jenischen ab, die Karriere beispielsweise als Akademiker machten. Anzustreben ist nun, nach langjährigen Forschungsblockaden, eine auch kritischen Kräften offenstehende Aufarbeitung der bisherigen Diskriminierung und Diffamierung der Roma, Sinti und Jenischen und öffentliche Trauerarbeit angesichts der Opfer dieser Politik. Nötig ist ferner die nicht paternalisierende Förderung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Existenz als gesellschaftlich akzeptierte Menschengruppen mit eigenen Kulturen, Traditionen, geschichtlichen Zeugnissen und Erinnerungen. Dafür sollten sie auch im gleichen Mass über Finanzmittel und Institutionen verfügen können wie andere Gruppen entsprechender Bevölkerungszahl in der Schweiz, etwa Urner, Rätoromanen, Walser, Juden, Jurassier oder Appenzeller.

*Thomas Huonker ist Historiker und seit anderthalb Jahrzehnten mit der Thematik befasst. Er verfasste als Mandatar der Bergier-Kommission einen Berichtsentwurf zum Umgang der Schweiz mit Roma, Sinti und Jenischen vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg, der nun schon seit anderthalb Jahren überarbeitet wird.