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Spirig-Zünd, Jolanda

Widerspenstig

Zur Sterilisation gedrängt: Die Geschichte eines Pflegekindes


Erscheinungsjahr 2006. Erscheinungsort Zürich. 192 Seiten.
Mit einem Vorwort von Regierungsrätin Heidi Hanselmann (St. Gallen) und einem Nachwort von Thomas Huonker (Zürich). Gebunden, mit 31 SW-Fotos. CHF 29.80 / EUR 19.80
Buch bestellen: Chronos Verlag Zürich

Das Buch der Journalistin und Autorin Jolanda Spirig-Zünd schildert die Lebensgeschichte von Bernadette G., einer Frau aus dem schweizerischen Rheintal (Kanton St. Gallen). Sie wurde als 18jährige im Jahr 1972 zwangssterilisiert, als eine der vielen Tausend Frauen, welche dieses Schicksal in der Schweiz seit 1890 und in ungebrochener Kontinuität auch nach 1945 im Umfeld einer "eugenisch" und "rassenhygienisch" argumentierenden Medizin und Psychiatrie erlitten.


Hier einige Bilder der Referierenden an der Buchvernissage am 22. September 2006 im Museum Prestegg in Altstätten (Fotos von Willi Keller) und weiter unten auf dieser Seite als Leseprobe das Nachwort von Thomas Huonker zu diesem Buch.



Bernadette Gächter,
Jolanda-Spirig-Zünd

lic. iur. Peter
Baumgartner

Regierungsrätin
Heidi Hanselmann
Bernadette Gächter beim Signieren des Buchs

Nachwort von Thomas Huonker

Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen in der Schweiz:

Unkontrollierte Experten, ungesühntes Leid der Opfer


Dieses Buch und die darin dargestellte Lebensgeschichte von Bernadette G. weisen auf eine Seite der jüngeren und jüngsten Schweizer Geschichte hin, die lange fast nur den Tätern, einem Netzwerk mehrheitlich männlicher Experten und Fachpersonen, sowie den Opfern, vorwiegend Frauen, und deren nächstem Umkreis bekannt war. Die Geschichte der sogenannten „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ in der Schweiz mit ihrem Ziel, die Bevölkerung in angeblich „erblich höherwertige“ oder aber „erblich minderwertige“ einzuteilen, in der Absicht, die als „minderwertig“ Abgestempelten mittels Zwangsmassnahmen daran zu hindern, Kinder zu bekommen, ist jedoch nicht die Geschichte eines Geheimzirkels. Die schweizerischen „Eugeniker“ und „Rassenhygieniker“ waren in öffentlichen Ämtern tätig und publizierten ihre Ansichten, meist im akademischen Umfeld. Doch bestand seitens der breiten Öffentlichkeit kein allzu grosser Wille, diesen Vorgängen auf den Grund zu gehen. Denn es ist ein trauriges Thema, dem auszuweichen auch ein Mechanismus des Selbstschutzes ist. Wer sich diesem Thema stellt, wird mit empörenden Schicksalen von Opfern übermächtiger gesellschaftlicher Konstellationen konfrontiert, sowie mit einer selbstgewissen Tätergruppe, die ihr Vorgehen vielfach arrogant verteidigte und die für ihre zerstörerischen Aktivitäten nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Nicht anders als viele andere wuchs ich, wie Bernadette G. 1954 in der Schweiz geboren, mit der Vorstellung auf, Zwangskastrationen und Zwangssterilisationen seien typische Auswüchse diktatorischer und rassistischer Staatsformen. Mein erstes Gewahrwerden solcher bevölkerungspolitischer medizinischer Eingriffe war mit den nationalsozialistischen Greueltaten verbunden, die ich über Jugendbücher, durch Hinweise meiner Eltern sowie aus erster Zeitungslektüre im Primarschulalter als einzelne düstere Schreckensbilder wahrnahm.

Das Nazireich hatte ja, zeitgleich zu den Misshandlungen und Ermordungen von Oppositionellen in den frühen Konzentrationslagern, sofort nach der Machtübernahme Hitlers schon im Juli 1933 als eine seiner ersten spezifischen Gesetzgebungen das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, das die Einrichtung von Erbgerichten und die Zwangssterilisation Hunderttausender als „erblich minderwertig“ Abgestempelten zur Folge hatte.1 Dass Verfahren zur massenweisen Zwangssterilisation, beispielsweise durch Röntgenstrahlen, mittels grausamen Experimenten in Lagern wie Auschwitz getestet und angewandt wurden, war in der Nachkriegszeit durch die laufenden Prozesse gegen Nazifunktionäre immer wieder in den Medien präsent. Namen wie Mengele und Eichmann waren als Chiffren für das Böse auch in der Schweizer Kinderwelt der 1960er Jahre präsent. In Umrissen bekannt war auch die Tötung von Hunderttausenden von Geisteskranken und Behinderten durch Naziärzte im Zug der sogenannte „Euthanasie“.2 Dieser Begriff war damals noch nicht so salonfähig war wie heute in Kreisen von „Exit“ oder ähnlich Gesinnten. Im Zug meines frühen Engagements für die armen Länder des Südens erfuhr ich in den 1970er Jahren auch von Zwangssterilisationen in angeblich „überbevölkerten“ Ländern Lateinamerikas und Asiens.3 In meiner Dissertation von 1982 erwähnte ich jene Sätze, mit denen sich Auguste Forel in seinem Werk „Die sexuelle Frage“ rühmt, die ersten Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen in Europa schon um 1890 an Insassen der psychatrischen Klinik Burghölzli in Zürich veranlasst zu haben.4 Die weltweit ersten Operationen dieser Art wurden in den USA schon in früheren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durchgeführt, meist an Fürsorgezöglingen, Angehörigen der Unterschicht und Nicht-Weissen. Sehr früh und lange bevor dies etwa in Deutschland mit dem jeweiligen ärztlichen Standeskodex vereinbar wurde, kam es auch an der psychiatrischen Klinik in Wil im Kanton St. Gallen zu solchen Eingriffen.5

Dass Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen in der Schweiz bis in die 1970er Jahre gängig waren, hätte ich 1978 in einem Zeitungsartikel lesen können, den Fritz Muri zu Zwangssterilisationen Minderjähriger in der Psychiatrischen Klinik St. Urban, Luzern, geschrieben hat.6 Doch die vorübergehenden Schlagzeilen, welche dieser Bericht auch in anderen Zeitungen machte, überlas ich. Konkretes erfuhr ich erst durch meine Kontakte mit Jenischen seit Eröffnung des Standplatzes in Zürich-Nord im Jahr 1985. In den Leidensgeschichten der von der Stiftung Pro Juventute und dem Seraphischen Liebeswerk in enger Kooperation mit vielen Behörden verfolgten Schweizer Jenischen war nicht nur von Kindswegnahmen, vom Leben und der Ausbeutung als Heimkinder und als Verdingkinder, von vielfach lebenslänglichen Anstaltsinternierungen, von psychiatrischer Begutachtung und polizeilicher Verfolgung, sondern auch von sexuellem Missbrauch und von Sterilisationen die Rede. Weiteren Nachforschungen dazu wurde damals noch oft entgegengesetzt, das seien „Greuelgeschichten“ und „Schauermärchen“ Verworfener, denen man keinen Glauben schenken dürfe. Ich lernte nun auch Sergius Golowin kennen, der schon 1966 darauf hingewiesen hatte, dass Alfred Siegfried, der Gründer und Leiter des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“, noch 1964 Literatur von deutschen und österreichischen Naziwissenschaftern wie Robert Ritter und Friedrich Stumpfl als valable Fachliteratur über die Jenischen empfahl.7 Im Zug meiner Recherchen stiess ich auf Schweizer Dissertationen, Zeitschriftenartikel und wissenschaftliche Sammelwerke, die mir einen ersten Blick freigaben auf die hiesigen Theoretiker und Praktiker von „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ in der Nachfolge Forels. Ich erkannte, dass ein leitender Funktionär der nazistischen „Rassenhygiene“ der St. Galler Psychiater Ernst Rüdin war. Rüdin amtete vor seiner endgültigen Auswanderung ins Nazireich, dessen höchste Auszeichnung für Wissenschaftler er 1944 verliehen bekam, als Direktor der Basler psychiatrischen Klinik Friedmatt.8 Es wurde mir klar, dass der Cheftheoretiker der schweizerischen Jenischenverfolgung, der Psychiater Josef Jörger, seine Darlegungen der angeblichen „erblichen Minderwertigkeit“ der Jenischen, 1905 erstmals in einer deutschen Zeitschrift publiziert hatte, die von Alfred Ploetz, Erfinder des Begriffs „Rassenhygiene“ und Vorkämpfer der nazistischen „Rassenlehre“, herausgegeben wurde.9 Ich hielt auch erstmals das Sammelwerk „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in den Händen, welches den Stand der „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ in der schweizerischen Wissenschaft im Jahr 1938 dokumentiert.10 1991 entging mir wieder ein Artikel, der darauf hinwies, wie aktuell die Thematik war. Es ist der im Buch beschriebene Artikel von Marianne Fehr über Bernadette G.11 Ebenso war mir der Film von Bruno Moll entgangen, der 1982 das Leben der Mutter von Bernadette G. dokumentierte, die sowohl sterilisiert als auch kastriert worden war.12 In der universitären Forschung, etwa in der Medizingeschichte, erschienen derweil reihenweise Publikationen, die führende psychiatrische Vertreter „eugenisch induzierter Unfruchtbarmachungen“ zur „Verhinderung minderwertigen Nachwuchses“ wie Eugen und Manfred Bleuler oder Hans Binder, Direktor der psychiatrischen Klinik Rheinau im Kanton Zürich, unter Ausblendung ihrer Propagierung der „Eugenik“ als Galionsfiguren der schweizerischen Psychiatriegeschichte feierten. Dazu passte, dass in den 1980er und 1990er Jahren August Forel, Pionier der europäischen „Rassenhygiene“, als grosser Gelehrter und Ameisenforscher auf der schweizerischen 1000-Franken-Note einen Ehrenplatz erhielt. Der erklärte „Eugeniker“ Adolf Zolliker, Direktor der psychiatrischen Anstalt Münsterlingen im Thurgau, wirkte ebenso bis zu seiner Pensionierung unangefochten weiter wie der ärztliche Direktor der psychiatrischen Klinik Wil in St. Gallen, Fred Singeisen, der bei der Sterilisation von Bernadette G. die Fäden zog, oder Benedikt Fontana, Leiter der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, der noch in seiner Dissertation aus dem Jahr 1968 die Lehren Josef Jörgers und der Pro Juventute über die „Vagantität“ der Jenischen verfocht.13 Die Forderung der jenischen Schriftstellerin Mariella Mehr, Fontana den Doktortitel abzuerkennen, wurde von der Universität Bern 1988 abgelehnt, während sich der Jurist Rudolf Waltisbühl 1987, kurz vor seinem Tod, immerhin noch dafür entschuldigte, dass er in seiner Zürcher Dissertation von 1944 die Sterilisation „erbkranker Landfahrertypen“ empfohlen hatte.

Erst spät wurden in der Schweiz universitäre Forschungsarbeiten zur kritischen Aufarbeitung der Thematik begonnen. Im Kanton Waadt war 1928, nach US-amerikanischen Vorbildern, das erste Gesetz auf europäischem Boden erlassen worden, das auch die Zwangssterilisation unter gewissen Bedingungen ausdrücklich erlaubte, während dies in allen anderen Kantonen in einer Grauzone ohne gesetzliche Regelung erfolgte. 1985 hob der Kanton Waadt dieses Gesetz auf, und einige Forscherinnen und Forscher der Universität Lausanne arbeiteten anschliessend die Geschichte der „Eugenik“ in der Romandie auf.14 Während diese Arbeiten publiziert wurden, blieben die ersten Arbeiten von Zürcher Historikerinnen zur Thematik als Lizentiatsarbeiten unveröffentlicht.15 Von der Erkenntnis ausgehend, dass in der Schweiz vor allem Frauen Opfer „eugenisch“ begründeter Unfruchtbarmachungen wurden, engagierten sich die Basler Professorin Regina Wecker und Beatrice Ziegler in dieser Thematik; ihr beim Nationalfonds eingereichtes Forschungsprojekt wurde jedoch zunächst abgelehnt.

Da in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in Skandinavien die dortige Geschichte der „rassenhygienisch“ begründeten Zwangssterilisationen aufgearbeitet wurde,16 ebenso in den USA17 und in weiteren demokratisch-rechtsstaatlich organisierten Ländern, und da in der Schweiz, ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, die Geschichte der Kooperation zwischen der Schweiz und den faschistischen Staaten zur Zeit des zweiten Weltkrieges – allerdings erst auf ausländischen finanziellen Druck hin – auf breiter Basis angegangen wurde,18 befanden 1999 die zuständigen Gremien der Wissenschaftsförderung endlich, die Zeit sei nun auch in der Schweiz reif, das Thema im Rahmen eines allerdings erst 2003 gestarteten nationalen Forschungsprogramms in mehreren Projekten gründlich zu untersuchen.19 Unabhängig davon waren schon zuvor wichtige Forschungsarbeiten zum Thema „Eugenik“ in der Schweiz erschienen.20 Vor allem im Raum Zürich erkannten auch politische Verantwortliche, dass diese düstere Seite der schweizerischen Medizin- und Institutionsgeschichte der wissenschaftlichen Erhellung bedurfte, und gaben konkrete Studien in Auftrag. Diese ergaben, dass allein im Kanton Zürich, und zwar ohne gesetzliche Grundlage, Tausende von Betroffenen, überwiegend Frauen, zwangssterilisiert worden waren.21

Auf nationaler politischer Ebene hatten die Organisationen der Jenischen nach jahrzehntelangem Kampf erreicht, dass sich Bundespräsident Alfons Egli am 3. Juni 1986 für das ihnen angetane Unrecht entschuldigte. Ab 1988 erhielten die noch lebenden Betroffenen eine so genannte „Wiedergutmachung“ im Betrag von zwischen 2000 und 20'000 Franken pro Person; darunter waren auch mehrere zwangssterilisierte Jenische. Alt-Bundesrat Egli hat selber mehrfach ausgedrückt, dass ihm diese Summen als „minimal“ erschienen; sie wurden als „symbolische Geste“, nicht als ordentliche Schadenersatz – und Genugtuungsleistungen gemäss geltendem Recht deklariert, denn solche hätten angesichts der multiplen Schädigungen der Opfer um ein Vielfaches höher liegen müssen.

1999 brachte Nationalrätin Margrith von Felten (SP) eine parlamentarische Initiative durch, die ein Gesetz zur Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen vorsah. Die ersten gesetzgeberischen Beratungen sahen Zahlungen von 80'000.- Franken pro Opfer vor.22 In einem würdelosen Akt politischer Zermürbung wurde in den folgenden Parlamentsdebatten gesagt, das sei zu viel, schliesslich hätte man den Jenischen weit weniger ausbezahlt. Vergeblich wiesen die Befürworter einer höheren Entschädigung darauf hin, dass die wegen Fahrlässigkeit der Zuständigen durch Bluttransfusionen mit AIDS infizierten Bluter in der Schweiz vom Parlament mit Beschluss vom 25. Juni 1995 pro geschädigte Person 100'000.- Franken erhielten. Christoph Blocher (SVP) übernahm 2003 den Posten der abgewählten Justizministerin Ruth Metzler (CVP) und empfahl dem ebenfalls neu gewählten Parlament, den Opfern von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen gar keine Zahlungen zuzusprechen. Sonst würden, so Justizminister Blocher, auch die Verdingkinder und die psychiatrisch Internierten ähnliche Ansprüche formulieren. Dem gelte es vorzubeugen. Dieser Argumentation leistete die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament Folge.23

Trotz Ablehnung selbst minimalster symbolischer Zahlungen an Zwangssterilisierte durch die rechtsbürgerliche Mehrheit erliess das Parlament ein Sterilisationsgesetz. Die Ziele der Initiantin, die nicht mehr im Parlament sass, und alle ursprünglichen Verlautbarungen wurden in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht nur erhalten die Opfer laut dem nun geltenden Gesetz gar kein Geld. Vielmehr legalisiert dieses neue Gesetz die Zwangssterilisation geistig Behinderter unter gewissen Voraussetzungen.24

Die im vorliegende Buch einfühlsam aufgearbeitete Geschichte einer ganz normalen Schweizer Frau aus dem St. Galler Rheintal zeigt, wie machtlos eine einzelne junge Frau dem eingespielten Netzwerk von Instanzen und Experten gegenüberstand. Dasselbe zeigte schon die Geschichte ihrer Mutter. In derselben Lage fanden sich auch unzählige andere Opfer solchen Denkens und Handelns in der ganzen Schweiz. Nicht alle hatten so viel Kraft zum Widerstand wie Bernadette G. Solcher Widerstand trägt Früchte, wie etwa dieses Buch. Anderen Opfern vergleichbarer Konstellationen von Machtarroganz und wissenschaftlich abgesegnetem ideologischem Ausmerzungseifer wird zur Zeit durch die historische Darstellung ihrer Schicksale ebenfalls eine gewisse Anerkennung und Würdigung zugesprochen, die sie in ihrer Lage weitgehender Rechtlosigkeit inmitten eines Rechtsstaats schmerzlich vermissen mussten.

Dass der Umgang mit Ausgegrenzten auch heute mit kritischer Wachsamkeit und Gerechtigkeitssinn begleitet werden sollte, gilt für viele tabuisierte Dunkelkammern gesellschaftlichen Handelns, nicht nur, aber auch in der Schweiz. Wie die oben geschilderten Brems- und Wendemanöver bei der kritischen Aufarbeitung dunkler Seiten der neueren Schweizer Geschichte zeigen, bedarf es steter Anstrengung, damit die Leiden der Opfer in der kollektiven Erinnerung bewahrt und nicht daraus verdrängt werden.

1 Arthur Gütt / Ernst Rüdin / Falk Ruttke: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen. München 1934. Zu den Folgen dieses Gesetzes vgl. Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Opladen 1986

2 Frühe Thematisierungen der Nazi-„Euthanasie“ waren z.B. Robert Poltrot: Die Ermordeten waren schuldig? Calw 1945; Alice Platen-Hallermund: Die Tötung von Geisteskranken. Nürnberg 1968; Alexander Mitscherlich / Fred Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt 1960

3 Siehe Stephen Trombley: The Right to Reproduce. A History of Coercive Sterilization. London 1988

4 Auguste Forel: Die sexuelle Frage. München 1913. S.444

5 Einige Fallgeschichten der in Wil / St. Gallen schon um 1905 sterilisierten (durch Eileiterunterbindung) oder kastrierten (durch Herausoperieren der Eierstöcke, oft auch der Gebärmutter) Frauen finden sich in der Dissertation des Zürcher Psychiaters Emil Oberholzer: Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz. Zürich 1910

6 Fritz Muri: Minderjährige sterilisiert. In: Luzerner Tagblatt, 28. August 1978

7 Sergius Golowin: Zigeuner-Geschichten. Bern 1966; Alfred Siegfried: Kinder der Landstrasse. Zürich 1964

8 Siehe Matthias M. Weber: Ernst Rüdin. Eine kritische Biografie. Berlin 1993

9 Josef Jörger: Die Familie Zero. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene, Jg. 2, Berlin1905, S.495-559

10 Stavros Zurukzoglu (Herausgeber): Verhütung erbkranken Nachwuchses. Basel 1938. Das Buch enthält auch einige Artikel, welche der „Eugenik“ kritisch gegenüberstehen.

11 Marianne Fehr: Massnahmen für ‚ein schwieriges Mädchen’. Bernadette G. – die Geschichte eines Pflegekindes. In: Wochen-Zeitung, Zürich, 21. Juni 1991

12 Bruno Moll: Das ganze Leben. Dokumentarfilm, 1982

13 Benedikt Fontana: Nomadentum und Sesshaftigkeit als psychologische und psychopathologische Verhaltensradikale: Psychisches Erbgut oder Umweltsprägung. Ein Beitrag zur Psychopathie. In: Psychiatria Clinica, Jg. 1, 1986, Nr. 6, S. 340-366

14 Jacques Gasser / Geneviève Heller: Les débuts de la stérilisation légale des malades mentaux dans le canton de Vaud. Lausanne 1997; Geneviève Heller / Gilles Jeanmonod / Jacques Gasser: Rejetées, rebelles, mal adaptées. Débats sur l’eugénisme, pratiques de la stérilisation non volontaire en Suisse romande aus XXe siècle. Genève 2002 

15 Anna Gossenreiter: Psychopathen und Schwachsinnige. Eugenischer Diskurs in Psychiatrie und Fürsorge: Die Sterilisaton von weiblichen Mündeln in der Vormundschaftsbehörde Zürich 1918-1933. Unpublizierte Lizentiatsarbeit. Zürich 1992; Roswitha Dubach: Die Verhütung ‚minderwertiger’ Nachkommen über den Zugriff auf den Frauenkörper. Sterilisationsdiskurs und –praxis in der Deutschschweiz bis 1945. Unpublizierte Lizentiatsarbeit. Zürich 1999

16 Gunnar Broberg / Nils Roll-Hansen: Eugenics and the Welfare State: Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway and Finland. East Lansington 1996

17 Daniel J. Kevles: In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human Heredity. Cambridge 1995

18 Die 25 Bände Forschungsarbeiten sowie der Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg erschienen 2001-2002 in Zürich.

19 Fragen der „Eugenik“ und der Psychiatriegeschichte behandeln insbesondere folgende Unterprojekte des NFP 51: Béatrice Ziegler / Gisela Hauss: Städtische Fürsorge im Kräftefeld von Eugenik, Geschlecht und medizinisch-psychiatrischen Normalisierungsdiskursen in Bern und St. Gallen (1918 bis 1955); Regina Wecker / Bernhard Küchenhoff: Eugenische Konzepte und Massnahmen in Psychiatrie und Verwaltung am Beispiel des Kantons Basel-Stadt, 1880 bis 1960; Jakob Tanner: Internieren und Integrieren. Zwang in der Psychiatrie. Der Fall Zürich, 1870 bis 1970

20 Christian Mürner (Hg.): Ethik – Genetik – Behinderung. Kritische Beiträge aus der Schweiz. Luzern 1991; Willi Wottreng: Hirnriss. Wie die Irrenärzte August Forel und Eugen Bleuler das Menschengeschlecht retten wollten. Zürich 1999; Magdalena Schweizer: Die psychiatrische Eugenik und Deutschland und der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern 2002; Carlo Wolfisberg: Heilpädagogik und Eugenik. Zürich 2002

21 Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, ‚Eugenik’ und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich 2002. Diese Arbeit entstand im Auftrag der Stadt Zürich. Eine erweiterte Fassung unter Einbezug weiterer schweizerischer Regionen ist: Thomas Huonker: Diagnose ‚moralisch defekt’. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890 bis 1970, Zürich 2003. Im Auftrag des Kantons Zürich erschien: Brigitta Bernet / Gisela Hürlimann / Marietta Meier: Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie. Zürich 2002. Zu den Zahlen der Zwangssterilisierten und –Kastrierten im Kanton Zürich siehe die S. 130, 193-199 und 145-150 dieser drei Publikationen. Vgl. ferner die im Auftrag der lokalen Vormundschaftsbehörde erstellte Abhandlung von Thomas Huonker: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Adliswil zwischen 1890 und 1970. Basel 2006. Sie enthält die ausführlichen Fallgeschichten von zwei zwangssterilisierten Schwestern aus dieser Zürcher Gemeinde.

22 Parlamentarische Initiative Zwangssterilisationen. Entschädigung für Opfer (von Felten). Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2003

23 Protokoll der Debatte des Nationalrats vom 10. März 2004. Die endgültige Ablehnung jeglicher Entschädigung für Zwangssterilisierte und Zwangskastrierte beschloss der Nationalrat am 15. Dezember 2004.

24 Bundesgesetz über Voraussetzungen und Verfahren bei Sterilisationen (Sterilisationsgesetz) vom 17. Dezember 2004. Es trat am 1. Juli 2005 in Kraft.