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Ein Zürcher Stadtspaziergang mit Gustav Huonker

Zürich, wo Tucholsky seine Nuuna fand

Das bittere Los des Emigranten erfuhr Kurt Tucholsky zuerst im «gottverfluchten» Zürich. Knapp 65 Jahre danach ein Rundgang auf seinen Spuren.

Gustav Huonker - man kann ihn nicht verfehlen. Der Mittsiebziger mit seiner weissen Mähne ist nicht nur eine der markantesten Figuren aller Tagungen der Kurt - Tucholsky - Gesellschaft. Er ist auch auf Zürcher Pflaster unübersehbar. Wir haben uns vor dem Kunsthaus verabredet, lassen aber die berühmte Galerie mit ihren Sammlungen vom Sturm-und-Drang-Genie Füssli bis hin zu den Dadaisten, Chagall und Baselitz ebenso links liegen wie das Schauspielhaus, das während der Hitlerbarbarei europaweit die einzige freie deutschsprachige Bühne war. Wir wandern hinüber zur Florhofgasse 1, einem wohlerhaltenen Bürgerhaus im Grünen. «Hier oben, im 2. Stock», erzählt uns Gustav Huonker, «wohnte Tuchos Nuuna, mit bürgerlichem Namen Hedwig Müller, und hier verbrachte er die schicksalhaften Monate von August 1932 bis September 1933.» Dies war bis in die 70er Jahre hinein völlig unbekannt, und ohne den Spürsinn des Publizisten Huonker würde diese wichtige Episode der letzten Jahre des deutschen Schriftstellers vielleicht bis heute im Dunkeln liegen. Ständige Nasen-und Kopfschmerzen hatten Tucholsky zu dem Zürcher Neurologen Dr. Erich Katzenstein, einem Aktivisten der Münchner Räterepublik, geführt. Über dessen Bekanntenkreis lernte er alsbald die Ärztin Hedwig Müller kennen. Und es blieb nicht lange beim „Sie» – «Nuuna» muss voll auf den grossen Charmeur geflogen sein, meint Huonker. Seit 1990 erinnert eine von Huonker angeregte Gedenktafel an dieses Zürcher Intermezzo Tucholskys. Huonker, 20 Jahre lang sozialdemokratischer Kommunalpolitiker in der Stadt der Gnome, ist ein blendender Stadtführer. Als wir uns dem Hirschengraben am Zugang zur Altstadt nähern, beschwört er gestenreich den genius loci: Hier, an dieser Ecke, trafen zwei Welten aufeinander: «die Welt der Emigration und die des Nazismus.» Er deutet auf ein grosses Bürgerhaus, in das der Schweizer Verleger Dr. Emil Oprecht Thomas Mann, Therese Giehse und viele andere deutsche Exilsuchende einlud. Und direkt gegenüber das deutsche Konsulat, Sitz auch der Gestapo, die aus nächster Nähe die Emigranten ausspionieren konnte. In den Tagen nach Reichstagsbrand und Bücherverbrennung hatte Nuuna für Tucholsky ein Treffen im Oprecht-Haus arrangiert. Der Verleger schien nicht abgeneigt, das «Pyrenäenbuch» oder «Schloss Gripsholm» herauszubringen. Aber Tucholsky, der Oprecht nicht besonders schätzte, liess den Briefwechsel darüber einfach einschlafen, berichtet Huonker kopfschüttelnd. Oprecht ist längst gestorben, aber sein Name ist nicht aus dem Stadtbild verschwunden: An einem Buchladen unten am Zürichsee prangt er in grossen Lettern. Von dem Verlag indes blieb nur ein Schatten. Zwar hat Tucholsky seine Zürcher Tage am liebsten in der Florhofgasse verbracht, aber den Weg vom Hirschengraben hinunter zur Spiegelgasse ist er gewiss etliche Male gegangen. Die Spiegelgasse – wahrlich ein Ort europäischer Geschichte: Hier hat Georg Büchner gewohnt, und von hier zog Lenin im plombierten Zug via Deutschland gen Oktoberrevolution - Lenin, den Tucholsky trotz zunehmend kritischer Äusserungen über die Sowjetunion bis zuletzt sehr schätzte. Noch wenige Tage vor seinem Tod am 21. Dezember 1935 schrieb er Arnold Zweig: «Sehn Sie sich Lenin in der Emigration an: Stahl und die äusserste Gedankenreinheit.» Eine ganz andere Revolution schwebte den Dadaisten vor, die zu Lenins Zeiten nur ein paar Häuser weiter im Café Voltaire ihren künstlerisch-ästhetischen Protest gegen die alte Welt hinausschrien. In anderer Form tun dies heute die Macher des «Theaters am Neumarkt», die im Saal des alten Gewerkschaftshauses untergekommen sind, just da, wo sich vor 120 Jahren die von Bismarcks Sozialistengesetz vertriebenen Urgrossväter Lafontaines und Schröders zur Gegenoffensive gesammelt hatten. Das Neumarkt-Ensemble bietet aktuelles politisches Theater, es war letztes Jahr bereits zum dritten Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Nicht weit von der Spiegelgasse die spanische Weinstube «Bodega», in der sich Tucholsky gelegentlich ein Gläschen genehmigte. Er mag sich da an seine Pyrenäenreise erinnert haben, und vielleicht traf er just hier mit einem der damals nach Zürich strömenden Emigranten zusammen. So mit den Schriftstellerkollegen Ernst Toller und Walter Mehring oder seinem Verleger Ernst Rowohlt. Die «Bodega» hat ihr iberisches Interieur seit den 30er Jahren kaum verändert, und bei einem Glas Sangria lässt sich trefflich fabulieren. Von da ist es nur ein Katzensprung zum Zürcher Grossmünster, dem doppeltürmigen Wahrzeichen der grössten Stadt der Schweiz. In der Krypta eine Begegnung der besonderen Art: Neben dem Steinkoloss Karls des Grossen die schlanken Stelen einer Ausstellung des Leipziger Bildhauers Jürgen Strege. Der 33jährige Sachse hat sich in der Nachwendezeit aus einer Konstanzer archäologischen Fundstelle tausendjährige Eichenhölzer besorgt und daraus nachdenkliche Plastiken mit Titeln wie «Sitz des Auges» oder «Glaubenssuche» geschnitten. Sie reflektieren, so heisst es auf einem schlichten Faltblatt, „das Orientierungsproblem, das 1989 in Streges Welt eingebrochen ist. Nebenan im einstigen Wohngebäude des Schweizer Reformators Zwingli weitere Überraschungen. Hier, in der «Helferei» genannten christlichen Begegnungsstätte, laden nicht nur ein Dritte-Welt-Laden und eine offene Bibliothek zum Schauen und Nachdenken, sondern auch Vortragsreihen, Seminare und ungewöhnliche Stadtrundgänge ein. Beim Seminar «Arbeit im nächsten Jahrhundert» entdecken wir unter den Veranstaltern auch die «Religiös-Sozialistische Vereinigung», just jene christliche Reformgruppe, deren damaliger Leiter Leonhard Ragaz von Tucholsky sehr geschätzt wurde. Aber auch die beiden «Helferei»-Stadtrundgänge – «Orte der Armut – gestern und heute» hätten sicher Tucholskys Interesse gefunden. Schliesslich hatte er noch drei Jahre zuvor in «Münzenbergs-Arbeiter Illustrierten Zeitung» zornig gedichtet «Sie liefern euch einen Armen-sarg.../Das ist der Pfennig. Aber wo ist die Mark?» – Orte der Armut – und das ausgerechnet in einer der reichsten Städte der Welt? Für die Helferin Christine Voss, die die Situation von Erwerbs- und Obdachlosen, von Drogenabhängigen, verarmten Ausländern oder alleinstehenden Müttern bestens kennt, eine bittere Realität. Im Kanton Zürich müssen heute für ständig mehr Betroffene rund 500 Millionen Franken Unterstützungsgelder ausgegeben werden, Tendenz steigend. Von unserem Stadtrundgang ermattet, lassen wir unsere Blicke von einem Restaurant am Limmatufer über die Stadt schweifen. Gegenüber, im Rabenhaus, bedeutet uns Huonker, wohnte der Schriftsteller Rudolf Jakob Humm, der Mann, dessen Memoiren den entscheidenden Hinweis auf die Existenz von Nuuna gaben. Huonker hat Hedwig Müller noch treffen können, und sie übergab ihm über 300 mehrseitige Briefe und Q-Tagebücher, ohne die das Bild der letzten Jahre Tucholskys äusserst dürftig wäre. Huonker ist bis heute von Nuuna angetan: «Eine aussergewöhnliche Frau, hochgebildet, gescheit und witzig, Tucholsky menschlich und charakterlich überlegen. Überdies eine zornige, unbeirrbare Hitlergegnerin.» Gewiss hätte es Tucholsky auch in der heutigen Schweizer Raubgolddebatte nicht an bissigen Bemerkungen fehlen lassen. Huonker beschäftigt aber vor allem die Flüchtlingsfrage. Als der 1933 auf der ersten Liste von den Nazis ausgebürgerte Tucholsky im Sommer 1934 ein zweites Mal für einige Wochen nach Zürich kam, musste Nuuna eine Kaution von 2000 Franken stellen, damit er wieder ausreist. Vielen anderen deutschen Juden erging es an den Schweizer Grenzen wesentlich schlechter. 30 000 Aufgenommenen stehen 30 000 Abgewiesene gegenüber, beziffert Huonker betrübt. Die Schweizer Flüchtlingspolitik war restriktiv, grausam, urteilt er. Aber, so Huonker, man dürfe auch nicht vergessen, wie, wo und warum das alles begann...

Jochen Reinert

Aus der Zürcher Zeitung vorwärts

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