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Thomas Huonker

VORGESCHICHTE, UMFELD, DURCHFÜHRUNG UND FOLGEN DES "HILFSWERKS FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE"


FE-Auftrag 302-87-2

I. EINLEITENDES

Dieser Bericht entstand als Erfüllung eines Auftrags des Bundesamts für Kulturpflege, zuhanden des EDI (Eidgenössisches Departement des Innern) aufgrund wissenschaftlicher Kriterien die Entstehung des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" sowie chronologisch den Ablauf von dessen Tätigkeit unter Berücksichtigung der Mitbeteiligung von Bund, Kantonen, Stiftung Pro Juventute sowie eventuell weiterer Instanzen zu untersuchen. Ein Beirat mit Vertretern der Jenischen, der Kantone, des Bundes und der Pro Juventute begleitete den Auftrag.

Als Direktquellen standen dem Beauftragten die vorhandenen und zugänglichen Verwaltungsakten des Bundes und der Betroffenen zur Verfügung. Es musste von vornherein klar sein, dass im Lauf der für diesen Auftrag zur Verfügung stehenden 3 Monate diese immensen Quellenbestände nur zum kleinsten Teil aufzuarbeiten waren. Bei der Durchsicht kantonaler Quellenbestände im Rahmen dieses Auftrags beschränkte ich mich auf Stichproben aus den Akten einer Justizdirektion, die ungenannt bleiben will. Die Durchsicht der einschlägigen Bundesakten begann bei den vom EDI ans Bundesarchiv abgegebenen Stiftungsaufsichtsakten bezüglich der Pro Juventute.
Es folgte die stichprobenweise Durchsicht von Akten, welche das EJPD (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement) dem Bundesarchiv übergeben hat, um unter Registraturen wie "Vaganten", "Zigeuner", "Heimatlose" etc. Hinweise auf die Rolle des Bundes bei der Bekämpfung der "Vagantität" im fraglichen Zeitraum zu finden. Die riesigen Bestände des EPD (Eidgenössisches Politisches Departement) im Bundearchiv wurden im Rahmen des Auftrags nach einem oder mehreren Briefen von Bundesrat Motta an die Stiftung Pro Juventute abgesucht.
Im Lauf des Auftrags dokumentierte sich der Beauftragte auch in der Bibliothek der Pro Juventute, in der Bibliothek des Seraphischen Liebeswerkes Solothurn sowie in der Dokumentationsstelle des Amtes für Polizeiwesen (früher Polizeiabteilung), ohne aber deren Archivbestände durchsehen zu können.

Neben die zeitliche Einschränkung des Auftrags, welche die Akteneinsicht notwendigerweise auf Teilbestände beschränkte, trat noch der Umstand, dass der hauptsächlichste Quellenbestand zur Thematik dieses Berichts, die Akten des "Hilfswerks Kinder der Landstrasse" selbst, aufgrund von deren sitftungsaufsichtlicher Versiegelung für den Beauftragten nicht einsehbar waren.
Die in diesem Umstand begründete Methodik des vorliegenden Berichts, ausgehend von gedruckten Quellen, staatlichen Aktenbeständen und mündlichen Zeugnissen die Aktivitäten des "Hilfswerks" ohne Einsicht in dessen Akten darzustellen, zwang den Verfasser zur Aufstellung von nicht restlos gesicherten Hypothesen, was übrigens in jeder historischen Arbeit nicht nur statthaft, sondern schlichtweg unumgänglich ist. Die im Vergleich zur vorgesehenen Gesamtstudie über Ursprünge, Verlauf und Folgen der Tätigkeit des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" zweifellos höhere Rate an mittels Hypothesen überbrückten Forschungslücken in der vorliegenden Kurzstudie enstpricht zwangsläufig deren zeitlicher und quellenmässiger Einschränkung. Diese Darstellung kann nur eine lückenhafte Vorarbeit zur Gesamtstudie auf breiterer Basis sein.

In erster Linie soll der Bericht jedoch der "Arbeitsgruppe Kinder der Landstrasse" von Bund und Kantonen zur Vorbereitung und Begründung einer Verwaltungsvereinbarung der betroffenen Kantone als Informationsgrundlage für die Antragstellung dienen.

Ob der Bericht in der einen oder anderen Zweckbestimmung der Oeffentlichkeit übergeben wird, liegt in der Hand des Auftraggebers. Der Beauftragte ist der Meinung, dass das grosse öffentliche Interesse an der behandelten Thematik eine Geheimhaltung dieses Berichts weder erfordert noch duldet.



II. FAHRENDES VOLK IN DER SCHWEIZ. EIN GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK

Es ist klar, dasss die Darstellung sehr langer Zeiträum in wenigen Zeilen nur unter Zuhilfenahme eines vergröbernden Rasters vorgenommen werden kann. Ein solcher Ueberblick scheint dennoch geboten.


ALLGEMEINES ZUM KULTURBEGRIFF. SESSHAFTIGKEIT UND NOMADISMUS

Es dürfte nicht einfach sein, ein klares Verständnis und tragfähige Regelungen interkultureller Konflikte zu finden jenseits der Einsicht in die Notwendigkeit, "die verschiedenen Kulturen in einer von Monotonie und Einheitlichkeit bedrohten Welt zu erhalten" (Claude Lévi-Strauss, Race et histoire, Paris 1961, p.84) Ganz in diesem Sinn legitimiert auch die Schweiz ihre historische Einheit, Daseinsberechtigung und Staatsform mit ihrer kulturellen Vielfalt.

Auf der Suche nach ethischen und juristischen Massstäben menschlichen und staatlichen Denkens und Handelns, welche einerseits über der weltweiten staatlichen und kulturellen Vielfalt stehen, diese aber gleichzeitig garantieren, sind die siegreichen Repräsentanten des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Grundsätze des Naturrechts übereingekommen, wie sei dem Internationalen Haager Gerichtshof und dem Genfer Völkerbund zugrundegelegt wurden und wie sie in der UNO-Charta oder in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind. Die Kernpunkte solcher Menschenrechtsdeklarationen sind das Völkerrecht auf der Basis der Selbstbestimmung aller Völker sowie die Rechte des Individuums und der Familie. Es sind diese aus dem Naturrecht abgeleiteten Menschenrechte, welche als ethische und juristische Massstäbe auch über der wechselnden Rechtssetzung und Rechtspraxis im sogenannten "Zeitgeist" einzelner Staaten stehen, ganz abgesehen davon, dass ein solcher "Zeitgeist" im strengen Sinn einer einheitlichen Geisteshaltung während einer bestimmten Zeit nur in totalitären Staaten zu finden sein dürfte, wobei selbst diese mit der völligen Ausschaltung alles abweichenden Geistes glücklicherweise nie vollständig zum Ziel gekommen sind.

Das Verhältnis zwischen nomadischen und sesshaften Kulturen und Kulturelementen erweist sich als diffiziler und subtiler Prüfstein der Anwendung, Pflege und Entwicklung des positiven Rechts im Licht solcher Ansprüche und Normen, gerade auch in der Schweiz.

Unsere aus der revolutionären Umwälzung von 1848 hervorgegangene, 1874 revidierte Bundesverfassung beginnt mit der Anrufung Gottes des Allmächtigen. Der in der schweizerischen Verfassungspräambel genannte Gottesbegriff ist nomadischen Ursprungs. Er entstand auf der Wanderung durch die Wüste, im Exodus, jenseits der Lokalgötter der Sesshaften, seien das die babylonischen Götzentürme, die ägyptischen Gottkönige, das Goldene Kalb, der Beel Zebub oder Mammon.

Im Münzwesen des Schweizer Bundesstaats, das vielleicht geläufiger ist als Rechtsphilosophie und Theologie, spiegeln sich diese Betrachtungen auf prägnante Weise. Wilhelm Tell auf dem Fünfliber allegorisiert das Widerstandsrecht gegenüber menschenrechtsverletzenden Gewalten. Und Mutter Helvetia auf den übrigen Schweizer Münzen verweist auf den Mythos vom nomadischen Ursprung des Schweizervolks,wie ihn z.B. Bundesrat Philipp Etter überlieferte:
"Eine alte Volkssage erzählt uns von einer wandernden Sippe, die von einem Ort und von einem Land zum andern zog und nirgends eine bleibende Heimstätte finden konnte. Da starb die Ahnfrau und wurde zur Erde bestattet. Und da geschah das Unerwartete. Die Sippe, die vordem, von einem inneren Wanderdrang getrieben, sich nirgends festsetzen konnte, siedelte sich um das Grab der Mutter an, nahm den Boden in Besitz, verteidigte ihn gegen nachdrängende Völkerschaften und entwickelte sich zum sesshaften Volk, das sich nie mehr vom Grab der Ahnfrau verdrängen liess." (Philipp Etter: Schweizerische Demokratie und Kultur, in: Schweizerische Demokratie 1848-1948, Murten 1948, pp.247-252, p.247)

So wie Etter diesen Mythos weitererzählt, ist er allerdings jenem "falschen Evolutionismus" erlegen, den Claude Lévi-Strauss in seiner bereits zitierten, von der UNESCO zur Bekämpfung des Rassismus herausgegebenen Schrift gründlich widerlegt. Etter - und mit ihm die überwiegende Mehrheit der damaligen politischen Repräsentanten der Schweiz - fasste die nomadische Lebensweise als primitive Vorstufe der sesshaften Art zu leben auf, der allein er kulturellen Wert zumass. Er erzählt weiter:
"In der Stunde, in der das wandernde Volk am Heiligtum des mütterlichen Grabes sich in ein bodenständiges, sesshaftes Volk verwandelte, wurde auch der Grundstein gelegt für die Kultur dieses Volkes. Denn was wir gemeinhin Kultur nennen, ist doch wohl im Grunde nichts anderes als der Besitz an geistigen Gütern und Werten, die in der Verbundenheit eines Volkes mit seiner heimatlichen Erde und in der Kontinuität der Geschlechter geschaffen worden sind." (ebda.)

Genau dieser vom Besitzdenken geprägte, abweichende Lebensarten anderer Völker in ethnozentristischer Überheblichkeit als kulturlos abwertende Kulturbegriff hat den Schweizer Staat in den ersten zwei Dritteln unseres Jahrhunderts nicht nur daran gehindert, die Kultur und Lebensweise der Nomaden als gleichwertig anzuerkennen. Er stand auch hinter dem damaligen Versuch, die nomadische Lebensweise innerhalb der Schweizer Grenzen gänzlich zu verunmöglichen.
Im übrigen ist es unter anderem das Fortwirken eben dieses Kulturbegriffs, der die heute noch weitverbreitete Blindheit gegenüber dem Umstand erklärt, dass unsere gegenwärtige sesshafte Lebensweise von nomadischen Elementen durchsetzt ist, die viel mehr in unser Alltagsleben eingreifen als die verfassungsmässige Anrufung des allmächtigen Nomadengottes. Halbjährlicher Kündigung ausgesetzte Mieter wechseln ihre Wohnung häufiger als manche Fahrende ihren Wohnwagen, immer grössere Teile der sesshaften Bevölkerung wechseln gewohnheitsmässig ihren Wohnsitz sogar an jedem Wochenende, ganz abgesehen von der Völkerwanderung des internationalen Tourismus, bei deren Aufkommen die Schweiz eine Pionierrolle spielte.


KURZER ABRISS DES VERHÄLTNISSES ZWISCHEN FAHRENDEN UND SESSHAFTEN IN DER SCHWEIZ BIS ZUM BUNDESSTAAT

Ohne Etters Darstellung der nomadischen Ursprünge in diesem Rahmen näher ausführen zu wollen, soll doch ein Hinweis auf die von Cäsar überlieferte kollektive Abwanderung der Helvetier aus ihrer Heimat im Zusammenhang dieses Berichts ebensowenig fehlen wie die Konstatierung der Überlagerung jener von den Römern zwangsweise wieder sesshaft gemachten keltischen Bevölkerungsgruppe durch die ebenfalls wandernden germanischen Alemannen im Frühmittelalter.

Die Geschichte jener Schweizer, welche der nomadischen Lebensweise von Mutter Helvetia am treuesten geblieben sind, die Geschichte der Jenischen, ist noch nicht geschrieben worden. Es besteht hier eine grosse Forschungslücke. Soviel ist gewiss: Es hat in der Schweiz immer Fahrende gegeben, und die zahlreichen Massnahmen zwischen Privilegierung, Duldung, Schikanierung, Bekämpfung und Gleichschaltung mit den Sesshaften druch Behörden und Private haben den Weiterbestand dieser kulturellen Minorität zwar häufiger gefährdet als gefördert, aber infolge der zähen Widerstandskraft der Fahrenden nie ganz verunmöglicht.

Eine weitverbreitete Theorie besagt, die Schweizer Jenischen seien Abkömmlinge von Flüchtlingen aus den Schlachtfeldern des Dreissigjährigen Kriegs oder von noch später eingewanderten Ausländern. Dem ist entgegenzuhalten, dass bereits die Abschiede der eidgenössischen Tagsatzungen des 15. Jahrhunderts von wandernden Schweizer Kesselschmieden berichten, deren Gewerbe und Lebensweise jener der jenischen Spengler, Kupferschmiede, Glockengiesser, Hausierer, Messer- und Scherenschleifer der jüngeren Vergangenheit entsprach. Dass diese Kessler Fahrende waren, geht aus dem Abschied der Tagsatzung vom 18.Juni 1489 in Baden hervor, wo es heisst: "Auf diesen Tag ist abermals eine Botschaft der Kessler erschienen mit der Bitte, ihne ihre Freiheit zu bestätigen und ihnen zu ihrem Schirm einen Obern zu geben. Darauf wird beschlossen, man wolle dermalen ihre Freiheiten weder auf- noch absetzen, sondern es bei den zu Luzern und anderwärts gefassten Beschlüssen der Eidgenossen verbleiben lassen, wonach ein Jeder mit feilem Kauf in der Eidgenossenschaft fahren mag, wohin es ihm beliebt."

In den folgenden Jahrhunderten sind aufgrund der bereits konstatierten Forschungslücke diese Kesselschmiede nicht mehr leicht auszumachen unter dem Fahrenden Volk in der Schweiz. Dazu gehörten Spielleute, fahrende Schüler und Ärzte, Pilger, Wegelagerer, Bettler und seit dem 15.Jahrhundert auch die als Zeginer oder Aegypter bezeichneten Nomaden indischer Herkunft, die sich selber Roma nennen. Spielleute, Scholaren, Wanderärzte und Pilger wurden von den Obrigkeiten in der Regel nicht nur toleriert, sondern auf ihren Reisen auch mit Speise, Trank und Geld unterstützt. Bettler mussten ihre Notlage ausweisen können und durften nicht im Übermass auftreten, sonst wurden sie mittels "Betteljagden" - das waren institutionalisierte regionale Razzien - abgeschoben. Falls auf diesen Betteljagden auch "Zeginer", d.h. Roma, aufgegriffen wurden, wurden sie gebrandmarkt, gestäupt und des Landes verwiesen, "bei Strafe des Hängens, falls sie selbes wieder betreten" (Abschied der Tagsatzung vom 20. September 1510 in Zürich). In den Protokollen dieser Betteljagden finden sich öfters auch Hinweise auf Wandersippen mit jenischen Kulturelementen. Ihre Behandlung war unterschiedlich, in einigen Fällen wurde ebenfalls die Brandmarkung und Verbannung vollzogen.

Seit der Wende vom l8. zum l9.Jahrhundert wurde die Verwaltung auch der ländlichen Gebiete der Schweiz immer mehr systematisiert. Die periodischen Betteljagden zur Säuberung der Landstrassen von unwillkommenen Nichtsesshaften werden ersetzt durch die kontinuierliche Kontrolle aller Landstreicher durch die Landjäger. Graubünden unterhielt ab l813 ein Corps von anfängich 30 Landjägern, welches der neuen sozialen Kontrolltechnik mit Pässen und Heimatscheinen Nachachtung verschaffen sollte. Der Artikel 1 des Reglements für die Bündner Landjäger von 1813 hielt fest: "Sie sind zum Polizei- und Kriminaldienst, namentlich zur Arretirung von Verbrechern und Landstreichern und zu deren Fortschaffung bestimmt." Dem entsprechen auch die Landjägerinstruktionen anderer Kantone.
Im gleichen Zeitraum begann die Reorganisation des Strafvollzugs und des Armenwesens mit Hilfe von Anstalten. Die Verbannungsstrafen, welche auch gegenüber Sesshaften ausgesprochen worden waren und damit Heimatlosigkeit sowie Unkontrollierbarkeit verursacht hatten, wurden ersetzt durch Zuchthausstrafen. Das Prinzip des privaten und kirchlichen Almosens zum Unterhalt der Erwerbsunfähigen wurde seit der Reformation immer konsequenter ersetzt durch die amtliche, über Steuern finanzierte Armenfürsorge bis hin zur Einweisung ins Arbeitshaus. Im Mass der Durchsetzung dieser neuen Verwaltungstechniken wurden jene Heimatlosen, die von Kriegen, Justizwesen, Glaubenskämpfen und Industrialisierungsprozess entwurzelte Sesshafte waren, allmählich ins System integriert, obwohl neue Krisen immer wieder neue Entwurzelte hervorbrachten.


DAS HEIMATLOSENGESETZ VON 1850 UND DIE FAHRENDEN IN DER SCHWEIZ

Helvetik, Mediation, Restauration und Regeneration sind aus verschiedenen Gründen nicht dazu gekommen, das Problem der Heimatlosigkeit zu lösen. Nach verschiedenen fehlgeschlagenen Anläufen in der ersten Hälfte des l9.Jahrhunderts, die Heimatlosigkeit auf dem Weg des Konkordats zu beseitigen, brachten erst das vom Bundesstaat am 3.12.1850 erlassene "Gesetz die Heimatlosigkeit betreffend" und die Folgegesetze in den Kantonen wirkliche Veränderungen. Artikel 1 des Bundesgesetzes definierte in heute ungewohnter und während des zweiten Weltkrieges von staatenlosen Flüchtlingen vergeblich in Anspruch genommener Grosszügigkeit die Menge der mit gültigen Schweizer Papieren zu versehenden Personen: "Als heimatlos sind alle in der Schweiz befindlichen Personen zu betrachten, welche weder einem Kantone als Bürger noch einem auswärtigen Staate als heimatberechtigt angehören."

Aufgabe der zuständigen Vollzugsorgane war es nun, diese Heimatlosen, soweit sie nicht aufgrund sicherer Beweise als Ausländer ausgeschafft werden konnten, einem Kanton zuzuweisen. Die Kantone wiederum verfuhren ähnlich: Als Heimatlose eines Kantons galten jene im Kanton befindlichen oder dem Kanton vom Bund zugewiesenen Personen, welche kein Gemeindebürgerrecht besassen. Die zuständigen Kantonsorgane wiesen diesen Heimatlosen Heimatgemeinden zu. In diesem Zusammenhang ist mit Berechtigung, sogar in einem doppelten Sinn, oft von Zwangseinbürgerung die Rede. Zwang zur Einbürgerung gerade auch solcher Personen, denen irgendwann das Bürgerrecht abgesprochen worden war, wurde vom Bund gegenüber den Kantonen und von den Kantonen gegenüber den Gemeinden ausgeübt. Zwang war aber auch insofern mit im Spiel, als kein Heimatloser das Recht auf die kostenlose Einbürgerung in jenem Ort hatte, wo er selbst beheimatet sine wollte.

Neben dem Zwangscharakter der Gesetze zur Einbürgerung der Heimatlosen waren auch Mängel in deren Vollzug von Nachteil: Reichere Gemeinden verfehlten nicht, ihnen missliebige Heimatlose zur Einbürgerung in ärmere Dörfer abzuschieben gegen Bezahlung von nicht allzuhohen Summen in deren magere Gemeindekassen.
Solche Vorgänge sind aktenkundig.
Es waren aber weniger die Probleme des Vollzugs - obwohl auch diese dabei mitspielten - sondern des grundsätzlichen Gedankens des Heimatlosengesetzes von 1850, welch es für die Fahrenden, die ja nur ein Teil der einzubürgernden Heimatlosen waren, zu einer zweischneidigen Neuerung machte.

Wohl ermöglichte es jenen Fahrenden, welche zu einer sesshaften Lebensweise übergehen wollten, de jure diesen Kulturwechsel, wenn er auch beispielsweise in Berggemeinden, die ihre Neubürger vom Bürgernutzen an Allmenden und Waldungen ausschlossen, de facto an Unmöglichkeit grenzte, ganz abgesehen von sozialen Abstossungsmechanismen, wie sei etwa Meinrad Lienert in seiner Erzählung "Ping Hüser" oder Gottfried Keller in "Romeo und Julia auf dem Dorfe" darstellten.

Aber das Bundesgesetz über die Heimatlosigkeit enthielt nicht nur jene Bestimmungen betreffs die Einbürgerung der Heimatlosen, die nach dem Einbürgerungsprozedere hinfällig wurden, sondern, in zweifelhafter Einheit der Materie, auch Bestimmungen, welche die Lebensweise der Fahrenden, das Landfahren im Sippenverband, nicht nur erschwerten, sondern für alle Sippen mit Kindern im schulpflichtigen Alter - und das waren naturgemäss alle fahrenden Sippen in einer langdauernden Phase der natürlichen Generationenfolge - unter Strafe stellten. Art.19, Abs.1 des Heimatlosengesetzes hielt sowohl für die nun beheimateten Fahrenden wie auch für jene Fahrenden, welche schon längst vorher in irgendeiner Schweizer Gemeinde heimatberechtigt waren, fest:
"Personen, welche in verschiedenen Kantonen auf einem Berufe oder Gewerbe herumziehen, bedürfen der erforderlichen Ausweisschriften. Denselben ist das Mitführen von schulpflichtigen Kindern sowohl im Heimatkantone als ausserhalb desselben verboten. Uebertretung dieser beiden letztern Bestimmungen ist mit einer Geldbusse oder mit Verhaft oder Zwangsarbeit zu bestrafen."

Es sind diese Bestimmungen, teilweise noch durch kantonale Vorschriften verschärft, welche den hergebrachten Lebenswandel der Fahrenden im Schweizer Bundesstaat seit l850 trotz der verfassungsmässig anerkannten Gewerbefreiheit und Niederlassungsfreiheit juristisch prekär machten. Diese prekäre Rechtssituation dauert fort, denn es gibt heute noch keine gesetzliche Regelung des Rechtes auf Bildung für die Kinder der Fahrenden innerhalb ihrer angestammten Lebensweise, Kultur und Tradition, sowohl was die Schulpflicht als auch was die Ausbildung zu den typischen Gewerben der Fahrenden betrifft. Letztere leiden zudem unter von Kanton zu Kanton verschiedenen gewerbepolizeilichen Bestimmungen, welche dem Geschäftsgang in den strukturell gefährdeten, aber keineswegs subventionierten Haupterwerbszweigen der Jenischen erschweren.


DIE SCHWEIZ UND DIE INTERNATIONALEN POLIZEILICHEN MASSNAHMEN GEGEN DIE ROMA

Der Bundesstaat befasste sich nicht nur mit der gesetzlichen Regelung und rigorosen Eingrenzung des Landfahrens der jenisch sprechenden Schweizer Fahrenden. Er ging auch an die behördliche Regelung der Ein- und Durchreisebegehren der als Zigeuner bezeichneten - unter dieser stigmatisierenden Bezeichung wurden und werden allerdings auch die Jenischen oft subsumiert -, Romani sprechenden Sippen, von denen aufgrund der bereits erwähnten systematischen Vertreibung seit dem l6.Jahrhundert nur ganz wenige Sippen über längere Zeiträume hinweg in der Schweiz lebten.

Nach einer kurzen Phase liberalen Stolzes auf die Bewegungsfreiheit aller Weltbürger fiel der Bundesstaat zurück in jene jahrhundertealte "Zielvorstellung einer möglichst zigeunerfreien Schweiz" (Franz Egger, Der Bundesstaat und die fremden Zigeuner in der Zeit von l848 bis l914, in: Studien und Quellen, hg.vom Schweiz. Bundesarchiv, No.8, Jg.1982, pp.49-71, p.71), welche gegenüber dem Volk der Roma logischerweise nur durch diskriminierende Verwaltungsrichtlinien und Polizeimassnahmen durchgesetzt werden konnte.

Als in einer Eingabe vom l4.10.1872 der Kanton Uri vom Bund verlangte, die Durchreise von Zigeunerfamilien und Bärentreibern durch geeignete Massnahmen an den Grenzposten einzuschränken, antwortete das EJPD am 21.20.1872,soche Massnahmen gegen "ganze Klassen von Personen" würden "im Widerspruch sein mit dem allseitig und zumal in der Republik anerkannten Grundsatz der freien Zirkulation der Individuen" (zitiert nach Egger, a.a.O, p.52f.).
34 Jahre später jedoch hatte sich die Schweizer Republik, auf wiederholte Begehren verschiedener Kantone hin, der einschlägigen Praxis der umliegenden Monarchien nicht nur angepasst, sondern sie noch verschärft. In einem Kreisschreiben, dessen Erlass der Bundesrat in seiner Sitzung vom 11.Juli 1906 beschlossen hatte, hiess es u.a.:
"Das vermehrte Auftreten von Zigeunerbanden an unserer Landesgrenze veranlasst uns im nachstehenden uns über die Massregeln auszusprechen, welche geeignet erscheinen, unser Gebiet von diesen lästigen Eindringlingen freizuhalten. Nach wiederholten Versuchen, die Zigeunerfrage durch kantonale Vereinbarungen zu regeln, ist im Jahre l887 von einer Konferenz kantonaler Polizeidirektoren in St.Gallen der Grundsatz aufgestellt worden, den Zigeunern ohne Ausnahme die schweizerische Grenze zu verschliessen, und wir haben in unserem Geschäftsberichte pro 1887 dieses Verfahren allgemein zur Nachachtung empfohlen mit dem Hinweis, dass die Regierungen von Preussen und Bayern in analogem Sinne vorgegangen seien. (...)
Um gegen Einwanderung und Durchzug der Zigeuner noch eine weitere Garantie zu schaffen, haben wir nunmehr, gestützt auf Art.2, Ziffer 3 des Bundesgesetzes vom 29. März 1893 betreffend den Transport auf Eisenbahnen und Dampfschiffen und in Anwendung von Art.102, Ziffer 10 der Bundesverfassung den schweizerischen Transportgesellschaften die Beförderung von Zigeunern ohne Ausnahme untersagt." (zitiert nach Egger, a.a.O., p.58f.)

Zu dieser diskriminierenden Auslegung der Bundesverfassung und des Transportgesetzes schrieb Bundesrat Eduard von Steiger 44 Jahre später, am 30.8.1950, folgendes an die Bundeskanzlei:
"Dieser Bundesratsbeschluss ist seinerzeit auf Antrag unseres Departements gefasst worden, um Einwanderung und Durchzug von Zigeunern nach Möglichkeit zu verhindern, und bildete eine Ergänzung der übrigen damals notwendigen Massnahmen zur Bekämpfung der Zigeunerplage. Diese Vorkehren sind heute jedoch nicht mehr erforderlich. Der Bundesratsbeschluss ist tatsächlich gegenstandslos. Polizeiliche Ueberlegungen stehen seiner Weglassung aus der bereinigten Gesetzessammlung nicht entgegen. Formell ist er aber nie aufgehoben worden." (BAR, E 4260 (C), 1974/34).
Im übrigen hiess es noch in einem Kreisschreiben der Fremdenpolizei an die Grenzposten vom 17.10.1960: "Sämtliche Zigeuner sind deshalb an der Grenze zurückzuweisen". (Original in der Dokumentationsstelle des Amtes für Polizeiwesen)

Das zitierte Kreisschreiben von 1906 hatte mit folgenden Gedanken geendet:
"Wir geben uns gerne der Hoffnung hin, dass es der gemeinsamen Tätigkeit der beteiligten Organe und Behörden gelingen werde, unser Land von der lästigen Zigeunerplage möglichst freizuhalten. Übrigens kann man sich der Überzeugung nicht verschliessen, dass zu einer gründlichen Sanierung des Zigeunerunwesens es eines gemeinsamen Vorgehens der verschiedenen Staaten bedarf, und wir beabsichtigen daher, bei den benachbarten Regierungen eine internationale Konferenz zur Behandlung dieser Frage anzuregen." (zitiert nach Egger, p.60)

Am 2.Juli 1909 beschloss der Bundesrat, seinen vier Nachbarländern eine solche Konferenz vorzuschlagen. Dem entsprechenden Schreiben an die Botschaften dieser Länder wurde gleich ein detaillierter Programmentwurf beigelegt, "der ein Zwangseinbürgerungsverfahren für alle in den vertragsschliessenden Staaten auftretenden Zigeuner, die Schaffung einer ständigen internationalen Kommission und den Informationsaustausch unter den nationalen Zigeunerregistraturen vorgeschrieben hätte". (Egger, a.a.O., p.64)

Dieser Vorschlag wurde allerdings von den Anliegerstaaten der Schweiz abgelehnt, worauf sich die Schweiz auf rein nationale Massnahmen beschränkte. "Im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement wurde eine Zigeunerregistratur geschaffen, in der alle Personalien der Zigeuner gesammelt wurden." (Egger, a.a.O., p.67)
Der federführende Beamte bei diesen Bestrebungen, Eudard Leupold, Adjunkt der Polizeiabteilung des Justiz- und Polizeidepartements von 1905 bis 1915, hatte schon nach einem Besuch in der Münchner Zigeunerzentrale vom 11. bis 14. Dezember 1907 "auch für unser Land die Errichtung einer Zigeunerregistratur nach dem Muster der bayrischen" vorgeschlagen. (zitiert nach Egger, a.a.O., p.62)

Franz Egger fasst seine Publikation in der Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs, welche den Zeitraum von 1848 bis zum 1.Weltkrieg umfasst, folgendermassen zusammen: "Auf ideeller Ebene ging es um die Vernichtung des Zigeunertums, auf praktischer Ebene um die Fernhaltung der Zigeuner vom Gebiet der Eidgenossenschaft." (Egger, a.a.O., p.71)

In der Zwischenkriegszeit wurde die seinerzeit von der Schweiz aus angeregte "gründliche Sanierung des Zigeunerunwesens" (Kreisschreiben von 1906, s.o.) auf internationaler Ebene wieder aufgegriffen. Am 17. April 1936 übersandte der Schweizer Vertreter in der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission, Heinrich Zangger vom Gerichtsmedizinischen Institut in Zürich, dem Vorsteher des EJPD, Bundesrat Johannes Baumann, ein Schreiben dieser Kommission vom 18. 3. 1936 an Zangger, worin ihm geheissen worden war, "das Inslebentreten der 'Internationalen Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens' auch zur Kenntnis Ihrer vorgesetzten hohen Regierung zu bringen." (BAR E 4260 (C) 1974/34). Die Schaffung dieser Zentralstelle war von der 11. Tagung dieser Kommission in Kopenhagen beschlossen worden.
Donald Kenrick und Grattan Puxon, die britischen Erforscher des Massenmords an den Nomaden im Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus, schreiben über diese Zentralstelle: "Wahrscheinlich auf deutschen Druck hin wurde von der Internationalen Polizeilichen Kommission (später Interpol) im Jahr 1936 in Wien eine 'Internationale Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens' errichtet. Die deutsche Polizei hatte Anweisung, dieses Zentrum auf jede mögliche Art zu unterstützen." (D.Kenrick / G.Puxon: Sinti und Roma. Die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat. Göttingen 1981, p.60)

Bereits am 18. April 1936 hatte der Bundesrat beschlossen, Zangger als Delegierten des Bundesrates auch an die 12. Tagung der Kommission nach Belgrad zu schicken. Die "Richtlinien für die Anlage und Führung der Internationalen Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" sowie ein Musterformular "über nach Zigeunerart umherziehende Personen", welche dem Schreiben vom 18.3.1936 beilagen, gingen an die Polizeiabteilung des EJPD. In den "Richtlinien" heisst es, es gelte "hinsichtlich der einzelnen Personen einen verlässlichen Stammbaum anzufertigen und über diese Stammbäume eine besondere Sammlung anzulegen." Punkt 6 des Musterformulars verlangte eine "Angabe, ob Zigeuner oder sonstiger Nomade". (BAR, a.a.O.)

Die Abwehr des "Zigeunertums" durch den Bundesstaat gehört zur Vorgeschichte und in den historischen Zusammenhang der Bekämpfung der "Vagantität" in der Schweiz, weil die beiden Zielrichtungen in Bezug auf die Geringschätzung der nomadischen Kulturen gemeinsame Wurzeln haben und wegen der gelegentlichen Vermischung dieser Begriffe auch im Sprachgebrauch der zuständigen Stellen.

Ein anderer breiter, vielschichtiger und sich häufig überlappender Komplex gesellschaftlicher und behördlicher Meinungen und Massnahmen im schweizerischen und internationalen Vor- und Umfeld der Bekämpfung der "Vagantität" in den ersten drei Vierteln unseres Jahrhunderts ist jener der staatlichen und privaten Institutionen des Sozial- und Medizinalbereichs sowie der Administrativjustiz, in welchen die Aktivitäten des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" vor sich gingen.


PSYCHIATRIE, FÜRSORGE, EUGENIK, JENISCHE

Der Psychiater Josef Jörger, langjähriger Direktor der Psychiatrischen Klinik Waldhaus, der in Theorie und Praxis ganz im Zentrum dieses Komplexes stand, sagte dazu in einem auf Einladung des Bündner Regierungsrates am 3. November 1924 als Instruktionskurs für Armenpfleger gehaltenen Vortrag in Chur:
"Die Vagantenfrage bildet einen recht grossen Komplex in historischer, psychologischer, biologischer, wirtschaftlicher und polizeilicher Hinsicht." (Der Vortrag ist abgedruckt in: Der Armenpfleger, Zürich, Jg. 1925, No.2, pp. 17-21; No.3, pp. 25-30; No.4, pp. 33-36. Zitat: No. 2, p.17)

Josef Jörger, nicht zu verwechseln mit seinem Sohn, ebenfalls Psychiater in Graubünden, führte bei seinen Sippenforschungen jenen Code von Decknamen für die einzelnen jenischen Familien ein, der über 60 Jahre lang in Gebrauch blieb und der auch vom "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" verwendet wurde. Seine erste einschlägige Abhandlung erschien in der von Alfred Ploetz, "dem Altmeister der Rassenhygiene" (Widmung in Robert Ritters Buch "Ein Menschenschlag", Leipzig 1937) begründeten, später vom Schweizer Psychiater Ernst Rüdin geleiteten Zeitschrift "Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" (München, 2. Jg. 1905, p.404 ff.) unter dem Titel "Die Familie Zero." Die Wahl dieses Codenamens ist charakteristisch für die im folgenden referierten Bestrebungen Jörgers zur Nullifizierung seiner Forschungsobjekte, d.h. zur Auflösung der jenischen Familienverbände.

Jörgers zweiter kommentierter Stammbaum einer jenischen Familie erschien 1918 in der "Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie" (Berlin 1918, pp. 76-116) unter dem Titel "Die Familie Markus". Beide Aufsätze versammelte der Springer-Verlag in Berlin 1919 zum Buch "Psychiatrische Familiengeschichten".

Jörgers psychiatrische Familienforschungen sollten den Nachweis der Erblichkeit folgender "Abirrungen vom gewöhnlichen Familientypus" bei den jenischen Familien erbringen: "Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche und Geistesstörung, Pauperismus." (Psychiatrische Familiengeschichten, op.cit., p.1)

Zur Durchbrechung der von ihm über Jahrhunderte hinweg diagnostizierten Vererbung solcher Erscheinungen in den jenischen Familien schlug Jörger ein Vorgehen vor, das sowohl die milieubedingte als auch die genetische Vererbung ausschalten sollte, nämlich die Kindswegnahme als Verhinderung der Weitergabe von kulturspezifischen Traditionen einerseits und andererseits als Voraussetzung zur Vermischung des biologischen Erbguts der Jenischen mit der Erbmasse der Sesshaften. Jörger formulierte diesen Vorschlag folgendermassen:

"Die Markus (Codename einer jenischen Sippe, T.H.) holen ihre Gattinnen mit Vorliebe aus dem eigenen Geschlecht, oder aus befreundeten Sippen (...). Von rund 90 Ehen fallen auf das eigene Geschlecht 10, auf die Wolzer (Codename einer anderen jenischen Sippe, T.H.) 22, auf andere Vagantenfamilien ca. 48 und auf Bauern- und Handwerkskreise nur ca. 12 Ehen. Anpassung und Assimilation durch das gewöhnliche Volk liegt also noch in weiter Ferne. (...) Es dürfte wohl kein anderes Mittel des Ausgleiches geben, als die ganz frühe Entfernung der Kinder aus der Familie und eine möglichst gute Erziehung und Hebung auf eine höhere soziale Stufe, wenn die fahrenden Familien nach und nach in den Sesshaften aufgehen sollen." (Psychiatrische Familiengeschichten, op.cit.p.83)

Nachdem Jörger in seinem eingangs zitierten Vortrag vor Armenpflegern in Chur verschiedene Vorschläge zur Lösung der "Vagantenfrage" wie die Deportation oder die Heiratserschwerung besprochen hatte - erstere hielt er für undurchführbar und bei der zweiteren hielt er fest, dass dazu die rechtlichen Grundlagen fehlten - , kam er auf seinen alten Vorschlag der Kindswegnahme zurück. Unter Bezugnahme auf den 1923 vom Grossen Rat Graubündens erstmals (und 1978 letztmals) beschlossenen "Kredit zur Bekämpfung des Vagantentums" ("Vagantenkredit") führte er aus:
"In den Grossratsverhandlungen wurde ganz richtig die Erziehung der Spenglerjugend zu sesshaften, arbeitsamen und ehrbaren Menschen als das mögliche und erstrebenswerte Ziel hingestellt, und es wurden dafür Mittel in bescheidenem Masse zur Verfügung gestellt. Die Erziehung dieser Jugend ist nun allerdings eine schwierige Aufgabe, wie Sie aus eigener Erfahrung wissen und meinen Äusserungen entnehmen können. Es sind da innere und äusser Widerstände zu überwinden. Zumal werden sich die Eltern renitent zeigen, ihre Kinder nicht geben wollen oder sie aus den Erziehungsstätten weglocken. Der anererbte Wandertrieb der Jungen wird ihnen hierin zu Hilfe kommen. Aber unheilbar ist diese Krankheit nicht, und ihre Behandlung ist des Schweisses der Edlen wert. Mir ist doch eine Anzahl von Beispielen bekannt, wo Kesslerjugend in gutem Milieu zu sesshaften, ehrbaren Menschen aufwuchs. Da ist z.B. ein Mädchen, dessen Eltern das Zuchthaus aufnahm, das bei einer braven Bauernfamilie Unterkunft und Erziehung fand. Herangewachsen, ging es statt an einen Dienstplatz in ein Kloster und wurde eine glückliche Nonne. Es hat den Beweis erbracht, dass der Wandertrieb auch ins gerade Gegenteil gekehrt werden kann. Auch die Erfahrungen der Armenanstalt Obervaz sind, soviel mir bekannt, zu einem Drittel befriedigende gewesen." (a.a.O., p.35)
Es war allerdings nicht in erster Linie der Kanton Graubünden, der mit den Geldern aus dem "Vagantenkredit" teilweise andere Wege beschritt, als vielmehr das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" mit Sitz in Zürich, welche die Vorschläge Jörgers bald darauf in die Tat umsetzte.

Die Theorien Jörgers über die Jenischen waren eng verwandt mit ähnlichen Theorien, welche für andere als "erblich minderwertig" eingestufte Menschengruppen ähnliche oder auch noch schlimmere Verfahren vorschlugen.

Es sind dies nicht jene rassistischen Theorien, welche die sogenannte "arische Rasse" als "Herrenrasse" über alle übrigen Menschentypen gestellt haben wollte, insbesondere gegenüber den semitischen Rassen und den schwarzen Menschen. Diese Theorien konnten gegenüber den Romani sprechenden Roma ebensowenig ins Feld geführt werden wie gegenüber den Jenischen, weil das Romani der arischen Ursprache, dem Sanskrit, näher steht als das Lateinische oder gar das Deutsche und weil die Jenischen gerade vom Valser Jörger als typische Germanen geschildert wurden: "Ihrer germanischen Herkunft zufolge trifft man unter ihnen recht viele hochgewachsene, schlanke Gestalten in aufrechter, gerader Haltung, vom blonden, germanischen Typ." (Psychiatrische Familiengeschichten, op.cit., p.77)

Vielmehr stehen die Theorien von Jörger, welche die Jenischen als ganze Bevölkerungsgruppe diffamierten, in weit engerer Nachbarschaft zu den Auffassungen der sogenannten "Eugenik" oder auch "Rassenhygiene" - diese Begriffe sind schwer klar zu trennen -, mit welchen hauptsächlich gesellschaftliche Randgruppen als "erblich minderwertig" betrachtet und behandelt wurden. In der Schweiz waren das in den zwanziger, dreissiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts vor allem einzelne alleinstehende Mütter und ihre Kinder, oft auch Arbeitslose oder sonstwie Erwerbsunfähige sowie Obdachlose. Auch sie waren während dieser Zeit in zahlreichen Einzelfällen Opfer von fürsorgerischen und administrativjustitiarischen Massnahmen wie Kindswegnahmen, Verwahrung und Sterilisierung. Allerdings wurden gegen diese Menschengruppen, die nicht kulturspezifisch eingrenzbar sind, in der Schweiz nie eine ähnlich systematische Kampagne wie gegen die Jenischen durchgeführt.

Ein ähnliches Spektrum von Menschengruppen, jedoch mit Ausnahme der alleinstehenden Mütter und unter Einschluss der als "Erbkranke" eingestuften Geisteskranken und Behinderten, wurde im nationalsozialistischen Deutschland als "Asoziale", "Schwachsinnige", "Erbkranke" und "lebensunwertes Leben" im Sinne der sogenannten "Eugenik" bis hin zur "Euthanasie" verfolgt.
Die Nationalsozialisten haben diese Theorien samt ihren krausen Zusammenhängen und Differenzierungen nicht selbst erfunden; sie versuchten sie jedoch zu systematisieren und haben sie schliesslich am konsequentesten, im grössten Massstab und auf die grausamste Weise praktiziert.

Es ist nur wenigen Deutschen und wohl noch weniger Schweizern bewusst, dass einer der drei Autoren jenes "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom l4. Juli 1933, mit welchem die nationalsozialistische Praktizierung dieser Theorien begann, ein Schweizer Bürger war: Der weiter oben bereits erwähnte Ernst Rüdin, seit 1912 schweizerisch-deutscher Doppelbürger, aber noch von 1925-1928 Direktor der Psychiatrischen Universitäts-Klinik Basel.
Dieses Gesetz ist im internationalen Umfeld der Verfolgung der Jenischen (es gibt nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Frankreich, Oesterreich, Deutschland und Holland jenische Bevölkerungsgruppen) deshalb von zentraler Bedeutung, weil es eine der gesetzlichen Grundlagen zur Sterilisierung, Internierung und schliesslich zur weitgehenden physischen Ausrottung der deutschen Jenischen bildete.
"Die Verfolgung diese Gruppe basiert hauptsächlich auf zwei schon 1933 erlassenen Gesetzen, dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14.7.1933 und den "Massregeln zur Sicherung und Besserung" vom 24.11.33. (...) Man kann annehmen, dass ausser einer Minderheit von sesshaften Familien die Mehrzahl der Erwachsenen als "Asoziale" in die Konzentrationslager und ihre Kinder in Waisenhäuser geschickt wurden." (D.Kenrick / G.Puxon: Sinti und Roma. Die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat, op.cit., S.64. Vgl. auch Ernst Klee: "Euthanasie" im NS-Staat, Frankfurt 1983, insbesondere pp. 34-75)

Manche jenische Familien in der Schweiz haben deutsche Verwandte in Konzentrationslagern, hauptsächlich in Dachau und Flossenbürg, verloren.


III. DIE BEKÄMPFUNG DER "VAGANTITÄT" VON 1926 BIS 1973.

DAS "HILFSWERK FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE"


Der im vorhergehenden Abschnitt ansatzweise geschilderte zeitgenössische Komplex von Psychiatrie und Fürsorge-, Vormundschafts- sowie Polizeiwesen zeigt, dass es auch in diesem Teil keineswegs um die isolierte Darstellung des "Hilfswerks" losgelöst von seinem gesellschaftlichen Umfeld gehen kann.


DIE ANFÄNGE DES "HILFSWERKS FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE"

Der promovierte Romanist Alfred Siegfried (1890-1972), von 1924 bis 1959 als Leiter der Abteilung Schulkind Mitarbeiter des Zentralsekretariats der Pro Juventute, einer hauptsächlich vom Vertrieb postalisch gültiger Sondermarken mit Wohltätigkeitszuschlag finanzierten privaten Stiftung für die Schweizer Jugend, überlieferte selber verschiedene Versionen der Entstehung seines "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" (1926-1973). Siegfrieds früheste Publikationen darüber sind zwei Artikel in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 13.6.1926 und vom 8.9.1926, beide unter dem Titel "Vagantenkinder". Im ersten dieser Artikel schrieb er:
"Seit Wochen liegt unter meinen (...) Papieren ein ganzer Stoss von Briefen, Zeugnissen, Polizeirapporten, Eingaben an weltliche und kirchliche Behörden, die alle mit dem Stichwort "Graf" bezeichnet sind. Schon seit Wochen verfolgen mich die traurigen Bilder, die den zum Teil nicht allzu saubern Blättern entsteigen (...). Es gibt in der Schweiz eine ganze Anzahl nomadisierender Familien, die, in irgendeinem Graubündner oder Tessiner Dorfe heimatberechtigt, jahraus, jahrein das Land durchstreifen, Kessel und Körbe flickend, bettelnd und wohl auch stehlend, wie es gerade kommt; daneben zahlreiche Kinder erzeugend, um sie wiederum zu Vaganten, Trinkern und Dirnen heranwachsen zu lassen. Vagantentum, Trunksucht, Unsittlichkeit und unbeschreibliche Verwahrlosung sind bei ihnen heimisch; von Zeit zu Zeit erscheint der Name eines oder mehrerer ihrer Glieder unter der Rubrik 'Unglücksfälle und Verbrechen' in der Tagespresse; Armen- und Polizeibehörden zählen sie zu ihren besten Kunden. (...) Man unterstützt, bestraft, versorgt wohl auch einmal, und daneben lässt man das Unkraut fröhlich weiter ins Zeug schiessen; die Nachkommen müssen auch noch was zu sorgen haben."
Siegfried postuliert abschliessend, es müsse "trotz Geldmangel, trotz Angst vor erblicher Anlage versucht werden, wenigstens die Kinder zu retten. (...) Mag auch der eine oder andere später, den schlimmen Anlagen folgend, die er von seinen Voreltern geerbt hat, wieder auf Abwege geraten, so darf uns das nicht ganz entmutigen. Kommen solche Verirrungen nicht auch bei Sprösslingen ganz guter Familien vor? Dr. Jörger hat in seiner Abhandlung über die Familie Markus (...) gezeigt, dass die Glieder eines ähnlichen Vagantenstammes, die durch besonderes Glück frühzeitig in eine gesunde Umgebung kamen, oder deren Mütter aus braven Familien stammten, zum grössern Teil den Weg zur menschlichen Gemeinschft wieder gefunden haben."
Die "Neue Zürcher Zeitung" liess diesem Artikel Siegfrieds folgende redaktionelle Anmerkung folgen:
"Möge der mutigen Tat ein voller Erfolg beschieden sein, denn Vorsorgen ist besser als Heilen und Strafen, letzten Endes auch billiger. Spenden für dieses interessante Hilfswerk nimmt unsere Abteilung 'Fürsorge' gerne entgegen; wir bitten, sie mit der Bezeichnung 'Vagantenkinder' zu versehen und auf Postcheck VIII/5602, Abt. Fürsorge der 'N.Z.Z.' einzubezahlen, wenn man nicht vorzieht, sie direkt der Stiftung Pro Juventute (VIII/3100, Vagantenkinder) zu überweisen."

Im zweiten, kürzeren diesbezüglichen Artikel vom 8. 9. 1926 konstatierte Siegfried:
"Seit einigen Wochen sind nun zwei 'Korberkinder' in einer Anstalt untergebracht und es geht ihnen vortrefflich."
Ferner verdankte er den Eingang von rund 1100 Franken an Geldspenden.

Die Wegnahme und Versorgung seiner ersten jenischen Zöglinge schildert Siegfried in verschiedenen Varianten. In der zweiten Auflage seines Buches "Kinder der Landstrasse" (Zürich 1964, p. 7) beschreibt Siegfried das diesbezügliche Vorgehen der Pro Juventute auch im Hinblick auf die juristische Ausgangslage wie folgt:
"Aus der Umgebung von Locarno kam die Meldung, ein völlig dem Alkohol verfallenes Ehepaar hause dort in unglaublichen Verhältnissen mit sechs minderjährigen Kindern, von denen die beiden ältesten, ein 13- und ein 11-jähriger Knabe, mit ihrem Betteln und Stehlen den Schreck der ganzen Gegend bildeten. Nachdem es sich zeigte, dass die Verhandlungen mit den zuständigen Behörden kein Ergebnis erbrachte (die lockere Gesellschaft hatte ihre Bretterbaracke am Grenzpunkt von drei Gemeinden aufgeschlagen und wechselte, das einemal freiwillig, das anderemal durch die Ortspolizei aufgefordert, ihr 'Domizil', sobald irgendetwas gegen sie vorgekehrt werden sollte), begab sich ein beherzter Mitarbeiter des Zentralsekretariates kurzerhand an Ort und Stelle, unterhandelte mit den Eltern und kehrte am gleichen Abend mit den beiden Strolchen zurück."

Diese beiden Buben sind die ersten, welche das Zentralsekretariat der Pro Juventute einer jenischen Familie wegnahm. Gemäss einer früheren, literarisierenden Darstellung dieses Vorgangs im anonymen, vermutlich von Siegfried verfassten Text "Maria findet eine Heimat" (im ersten Heft "Kinder der Landstrasse", herausgegeben von der Pro Juventute, Zürich 1927, pp. 9 - 16), das sowohl die Wegnahme der beiden älteren Brüder als auch der vier jüngeren Geschwister aus der Perspektive des weggenommenen Korberkindes Maria beschreibt, soll es sich dabei um einen Tausch von Naturalien gegen Kinder gehandelt haben. Der Bericht, dessen Wahrheitsgehalt nicht abzuschätzen ist, nennt in diesem Zusammenhang "Schokolade" (p.11) und "Zuckerstengel" (p.12) für dei Kinder sowie "ein schönes Brot und ein Pack Maccaroni" für die Mutter (p.11). Was der "beherzte Mitarbeiter des Zentralsekretariates" dem alkoholsüchtigen Familienvater gab, wird in keinem der Berichte überliefert; das für die Eltern ausschlaggebende Angebot sei aber "etwas" gewesen, "das ihnen gefiel". (p. 12)

Bei allen quellenkritischen Vorbehalten geht aus diesen Berichten über die erste "Sanierung" einer jenischen Familie durch die Pro Juventute einiges relativ klar hervor, während anderes ohne Einblick in den ersten Stoss von Akten, den Siegfried in seinem NZZ-Artikel schildert, unklar bleibt. Einmal hat es sich hier vermutlich wirklich um einen Einzelfall von Alkoholismus und Kindsverwahrlosung gehandelt, was bei der jenischen Bevölkerungsgruppe wie in jeder anderen Bevölkerungsgruppe leider auch vorkam und vorkommt. Dennoch oder gerade deshalb scheint diese erste, relativ detailliert überlieferte Kindswegnahme auf illegalem Weg vor sich gegangen zu sein, indem es ja nicht die zuständige Behörde war, die einschritt.

Aus diesen Schriftstücken der Entstehungszeit geht zudem klar hervor, dass das Verhältnis zwischen der Pro Juventute und den Anfängen des "Hilfswerks" sehr eng war. Es wird auch aus der weiteren Darstellung ersichtlich werden, dass das "Hilfswerk" zeit seines Bestehens organisatorisch gänzlich ins Pro-Juventute-Zentralsekretariat integriert war und stets als mehr oder weniger wichtiger Zweig von dessen Tätigkeiten galt, abgesehen von einigen Distanzierungsversuchen seitens der Pro Juventute nach 1972. In der Festschrift zu ihrem 25jährigen Bestehen (Otto Binder: 25 Jahre Pro Juventute, Zürich 1937, p.99) trägt demzufolge der Titel des Abschnitts über das "Hilfswerk" den lapidaren Titel: "Pro Juventute entvölkert die Landstrasse". Auch finanziell waren "die besonderen Massnahmen für Kinder aus vagabundierenden Schweizer Familien (...) anfänglich teilweise aus den regulären Stiftungsmitteln bestritten" worden (Otto Binder: 17 Jahre Pro Juventute, Zürich 1929, p.74), daneben aus Spenden von Privaten (vgl. NZZ vom 8.9.1926, a.a.O.).


DER BUND UND DAS "HILFSWERK FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE". UNKLARHEIT DER ROLLE MOTTAS. DAS SUBVENTIONSGESUCH

Es muss festgehalten werden, dass in den frühesten Berichten über die Anfänge des "Hilfswerks", insbesondere in Siegfrieds NZZ-Artikeln über die "Vagantenkinder" (a.a.O.), noch von keinem Mitwirken oder Auftrag des Bundes bei der "Sanierung" der "nomadisierenden Familien" (ebda.) durch die Pro Juventute die Rede ist. Erst spätere Zeugnisse bringen den Bund schon mit den Anfängen des "Hilfswerks" in einen näheren Zusammenhang, als er bereits durch die Doppelrolle von Pro-Juventute-Stiftungsratspräsident (1924 - 1937) und Bundesrat Heinrich Häberlin gegeben war. Häberlin hatte 1927 ein Vorwort zum ersten Heft "Kinder der Landstrasse" geschrieben, wo es u.a. heisst:
"Eine neue Aufgabe hat sich Pro Juventute gestellt (...). Wer von uns kennt nicht die eine oder die andere der grossen Vagantenfamilien, deren Glieder zu einem grossen Teil unstät und zuchtlos dem Wandertrieb frönen und als Kessler, Korber, Bettler oder Schlimmeres einen dunklen Fleck in unserm auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerlande bilden? (...) Wir wollen uns ja nicht verhehlen, dass die Aufgabe eine riesenschwere ist und dass wir uns auch durch erstmalige Rückschläge nicht zu früh beirren lassen dürfen. Nur dann wird es auch den Gemeinde- und kantonalen Behörden möglich sein, die in unserer Gesetzgebung bereits vorhandenen Schutzmittel gegen Missbrauch der Elternrechte mit Erfolg anzuwenden. So sollen sich Rechtsstaat und freiwillige gemeinnützige Hilfstätigkeit auch auf diesem Gebiete ergänzen und in die Hände arbeiten". (op.cit., p. 3 - 4)

In seinem Rückblick aus dem Jahr 1964 (op.cit., p.8) schreibt Siegfried allerdings noch von einer andern Querverbindung zwischen dem Bundeshaus und den Versorgungen von "Vagantenkindern" durch die Pro Juventute: "Ungefähr zur gleichen Zeit (Sommer 1926, T.H.) erhielten wir, diesmal sogar aus dem Bundeshaus, ein dringendes Schreiben über die Verhältnisse einer Schirmflickerfamilie in Basel."
In anderen Selbstdarstellungen der Pro Juventute und des "Hilfswerks", beispielsweise in der Festschrift zum 40jährigen Bestehen der Stiftung (Armin Peter: Gründung, Organisation und Tätigkeit der 'Schweizerischen Stiftung Pro Juventute' 1912 bis 1952, p. 49) heisst es in einer Zeittafel sogar: "1926: Gründung des 'Hilfswerkes für die Kinder der Landstrasse', angeregt durch einen grundsätzlichen Briefwechsel mit Bundesrat Motta."

In den vom Beauftragten eingesehenen Akten des Bundesarchivs befand sich zwar kein diesbezüglicher Brief oder gar Briefwechsel Mottas mit der Pro Juventute, was aufgrund der ungenauen Angaben bezüglich des Datums und des Absenders nicht weiter verwunderlich ist und angesichts der immensen Aktenbestände, die nicht durchgesehen werden konnten, auch nichts heissen will. Es ist anzunehmen, dass dieses Dokument oder diese Dokumente spätestens anlässlich der Aufarbeitung der zur Zeit versiegelten Akten des "Hilfswerks" zum Vorschein kommen. Und es gibt schon in einem bereits aufgefundenen Originaldokument einen Hinweis auf die Rolle Mottas bei der Entstehung des "Hilfswerks". In dem an den Bundesrat gerichteten Subventionsbittbrief der Pro Juventute für das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" vom 25.2.1929 (BAR, E 3001(A)1, 11/22) heisst es:
"Die Massnahmen zur Sanierung einer Tessiner Schirmflickerfamilie, auf welche die Stiftung durch Herrn Bundesrat Motta aufmerksam gemacht worden war, liessen vor ca. drei Jahren den Plan zu einer besondern Aktion für die Kinder herumziehender Korber und Kesselflicker reifen."

Aufgrund von diesem Passus allein kann aber keineswegs behauptet werden, dass Bundesrat Motta die Pro Juventute mit dem "Plan zu einer besondern Aktion für die Kinder herumziehender Korber und Kesselflicker" beauftragt habe. Beim gegenwärtigen Wissensstand, also ohne Kenntnis von Form und genauem Inhalt des Hinweises auf die Schirmflickerfamilie aus dem Bundeshaus ist verschiedenes denkbar. Vielleicht beschränkte sich die Anregung auf ein Gespräch zwischen Bundesrat Motta und Bundesrat Häberlin. Vielleicht ist der "dringende Brief aus dem Bundeshaus" nicht von Motta persönlich verfasst worden, sondern von einem untergeordneten Beamten. Da Motta 1926 das EPD versah, könnte sich dessen innenpolitische Abteilung, die u.a. für das Armenwesen zuständig war, näher mit dieser Schirmflickerfamilie beschäftigt haben. Naheliegend wäre es, hier eine Aktivität des bereits erwähnten Bundesbeamten Leupold zu vermuten, der 1915 vom Adjunkten der Polizeiabteilung zum Chef der innenpolitischen Abteilung des Politischen Departements aufgestiegen war und dieses Amt bis 1926 versah.

So unklar die Rolle Mottas in diesem Zusammenhang vorerst noch bleibt, so klar wird nicht nur die Rolle der Bundesfinanzierung, sondern auch die ganze Konzeption des "Hilfswerks" aus dem bereits erwähnten Subventionsbittbrief der Pro Juventute an den Bundesrat vom 25.2.1929 samt Beilagen.
Er ist vom Pro-Juventute-Stiftungskommissionspräsidenten und Oberstdivisionär Ulrich Wille jun. (1877-1959) und vom Pro-Juventute-Zentralsekretär R. Loeliger unterzeichnet.
Das eigentliche Gesuch darin lautete, "es möchte der Stiftung Pro Juventute als Beitrag an ihre Fürsorgeausgaben für die Kinder vagabundierender Schweizerfamilien während der Dauer von mindestens zehn Jahren eine Subvention aus Bundesmitteln ausgerichtet werden. Für das Jahr 1930 wären Fr. 15'000.- in Aussicht zu nehmen."

Das EDI orientierte am 22.3.1929 den Gesuchsteller Wille, "dass wir die Angelegenheit so zeitig in Prüfung nehmen werden, um unsern Antrag auf den Zeitpunkt der Aufstellung des Voranschlags für 1930, d.h. im August nächsthin beim Gesamtbundesrat zu Handen der eidg. Räte einbringen zu können."
So geschah es auch, und die jährliche Bundessubvention an das "Hilfswerk" wurde bis 1967 regelmässig ausbezahlt. Aufgrund von generellen Sparmassnahmen wurde sie während der Krisen und Kriegsjahre um ca. ein Drittel gekürzt und später nicht wieder aufgestockt. Diese Kürzung des Bundesbeitrags hatte der Leiter des "Hilfswerks" bei einer ihm von Bundesrat Etter, dem Nachfolger Häberlins als EDI-Vorsteher, am 4.11.1936 gewährten Audienz nicht rückgängig machen können. Die Einstellung der Subvention erfolgte 1967 aus Spar- und Rationalisierungsgründen in der Folge des Berichtes Stocker in der Ära Tschudi.


GESAMTPLAN UND FINANZIERUNG DES "HILFSWERKS"

Der vom Bund dermassen positiv aufgenommene Subventionsbittbrief der Pro Juventute hatte folgende Beilagen (BAR, E 3001 (A) 1, 11/22):

- "Exposé Vagantität und Fürsorge"
- "Jahresrechnung und Tätigkeitsbericht 1928"
- "Umfang der Vagantität und Aufgaben der nächsten Jahre"
- "Stammbaum der Familie Fecco samt Erläuterungen"

Der beiliegende Stammbaum der Familie Fecco - das ist der Codename einer jenischen Sippe aus dem Tessin - misst ca. einen auf anderthalb Meter und ist von Siegfried selbst mit farbiger Tusche auf Planpapier gezeichnet worden. Dem Stammbaum beigeheftet ist folgender maschinenschriftlicher Vermerk:
"Stammbaum der Familie Fecco befindet sich schon in Bern, Bundeshaus."
"Bundeshaus" ist dabei handschriftlich unterstrichen, und handschriftlich ist noch beigefügt:
"Polizeiabt."

In den "Erläuterungen und Anmerkungen zum Stammbaum der Familie Fecco" heisst es:
"Wir haben als Beispiel die Familie Fecco gewählt, weil über sie ziemlich vollständige Angaben vorhanden sind und weil sie ohne Zweifel eine der schlimmsten Sippen unter den Fahrenden darstellt."

Die Beilage "Jahresrechnung u. Tätigkeitsbericht 1928" ist die gedruckte Nr.4 der "Mitteilungen des Hilfswerkes für die Kinder der Landstrasse".

Die Beilage "Exposé Vagantität und Fürsorge" ist der Separatabzug eines Artikels von Alfred Siegfried im "Armenpfleger" (Nr.2, Februar 1929) mit dem Titel "Vagantität und Jugendfürsorge". Dieser Separatabzug unterscheidet sich vom Originalbeitrag insofern, als er den Abschnitt weglässt, wo Siegfried in aller Klarheit alle jenischen Familien namentlich aufzählt, die für ihn das zu bekämpfende "Übel der Vagantität" waren. Im Originalbeitrag ("Vagantität und Jugendfürsorge", a.a.O., p.17-22) heisst es:

"Unter dem Übel der Vagantität leiden demnach vor allem die Kantone und Gemeinden, welche diese Leute zu Bürgern haben; nach dem uns vorliegenden Material insbesondere Graubünden (Familien Moser, Kollegger, Waser, Gruber, Gemperli, Stoffel, Mehr), Tessin (Familien Huser, Graff), Schwyz (Familien Kappeler, Kistler, Hürlimann, Tschudi, Gerzner, Rütimann), St.Gallen (Familie Nobel), Aargau (Familien Sprenger, Amsler, Schmid, Schwertfeger), Solothurn (Familie Häfeli), Zug (Familie Verglas)." (a.a.O., p.19)

Im unpaginierten, dem Subventionsgesuch beigelegten Separatabzug heisst es nur: "Unter dem Übel der Vagantität leiden demnach vor allem die Kantone und Gemeinden, welche diese Leute zu Bürgern haben; nach dem uns vorliegenden Material insbesondere Graubünden, Tessin, Schwyz, St.Gallen, Aargau, Solothurn, Zug."

Aber trotz dieser anonymisierten Variante musste auch dem Bundesrat klar sein, dass Willes Subventionsgesuch die Bundesfinanzierung einer gezielten landesweiten Aktion gegen eine klar definierte Bevölkerungsgruppe von Schweizer Bürgern forderte. Denn das geht auch aus der letzten Beilage zum Gesuch der Pro Juventute hervor, einem anonymen Text mit dem Titel:
"Umfang der Vagantität und Aufgaben der nächsten Jahre".
Es heisst darin u.a.:
"Im Dezember 1928 wurden an 35 schweizerische Gemeinden Fragebogen über die dort heimatberechtigten Personen, die zu den Fahrenden gerechnet werden müssen, versandt. Es liefen 30 Antworten ein. Zu ihnen werden verschiedene Geschlechter aufgeführt mit insgesamt 1470 Personen, wovon ca. 540 unter 15 Jahren. (...)
Nach unserer Schätzung haben wir mit unserer Enquête etwa 80% der Gesamtzahl erfasst; diese darf somit auf rund 1800 Personen angesetzt werden, davon 675 Kinder unter 15 Jahren, die allein für unsere Fürsorgemassnahmen in Betracht kommen. Nach unseren bisherigen Beobachtungen müssen wird damit rechnen, dass beinahe die Hälfte dieser Kinder, auf keinen Fall weniger als 300, in derart ungeordneten Verhältnissen leben, dass ihre Entfernung aus dem derzeitigen Milieu nicht nur ein Gebot der Menschenpflicht, sondern auch der Sozialpolitik ist. Bei der überall zu beobachtenden, geradezu beunruhigenden Vermehrung der Fahrenden ist (...) in den kommenden 10 Jahren mit einem Zuwachs von mindestens 70 zu rechnen. Die Gesamtzahl der während dieser Zeit zu versorgenden Kinder dürfte demnach mit 370 eher zu tief eingeschätzt sein." (a.a.O.)

Zur Finanzierung des "Hilfswerks" kann zusammenfassend gesagt werden, dass es in seinen Anfängen teils aus regulären Stiftungsgeldern der Pro Juventute, hauptsächlich aber von privaten Geldspenden unterhalten wurde. Die Arbeitskraft Siegfrieds und seines Nachfolgers, die ja nicht als Leiter des "Hilfswerks", sondern als Leiter der Abteilung Schulkind angestellt waren, wurde vermutlich immer aus dem regulären Budget des Pro-Juventute-Zentralsekretariats bezahlt. Von 1930 bis 1967 deckte die Bundessubvention zwar nicht jedes Jahr den Hauptteil des "Hilfswerks"-Budgets, das 1928 Fr. 28'174.30 betragen hatte. 1938 beispielsweise, beim Stand von 257 versorgten Kindern, machte das Gesamtbudget des "Hilfswerks" Fr. 57'216.75 aus, wovon Fr. 10'200.- durch den krisenhalber gekürzten Bundesbeitrag gedeckt wurden. Die "Beiträge von Freunden und Gönnern" machten 1938 Fr. 12'490.80 aus. Der Hauptanteil entfiel auf die Einnahmenrubrik "Beiträge an Einzelfälle von Vereinen, Gemeinden, Kantonen, Privaten und Verwandten" mit Fr. 34'453.25.
Im Prinzip mussten ja die erwerbsfähigen Eltern und Geschwister die Versorgung ihrer Kinder und Geschwister mitfinanzieren, um nicht gegen die gesetzliche Unterstützungspflicht zu verstossen.
Ältere Zöglinge, die als Bauernknechte oder sonstige Angestellte arbeiteten, mussten zudem den weitaus grössten Teil ihres Lohnes dem "Hilfswerk" abgeben.

Für die jenischen Kinder aus Graubünden bezog das "Hilfswerk" von den Zinsen des sogenannten "Cadonau-Fonds" relativ viel Unterstützung.
Diesen Fonds hatte der Testamentsvollstrecker Anton Cadonaus, Alt-Bundesrat Felix-Louis Calonder, aufgrund des mehrmals abgeänderten Testaments Cadonaus 1929 der Pro Juventute in einer Rechtsform überlassen, die 1952 von der Stiftungsaufsicht als "unselbständige fiduziarische Stiftung" von "synallagmatischem Charakter" definiert wurde. (Brief des Rechtsdienstleiters EDI, Melliger, an die Pro Juventute vom 27. 10. 1952, BAR E 3001(B) 1978/62).
In der Broschüre zum 25jährigen Jubiläum der Pro Juventute, wo der Cadonau-Fonds als "Tischlein-deck-dich der Bündner Jugend" bezeichnet wird (op.cit.p.104 ff.), werden die Zuwendungen des Fonds an das "Hilfswerk" bis 1937 auf Fr. 52'025.- beziffert (ebda., p.105).

Der Anteil der Heimatkantone und Heimatgemeinden an den Kosten der Zwangsversorgung der dem "Hilfswerk" unterstellten Mündel lässt sich aus den Jahresberichten nicht genau eruieren. Er ist dafür im von Siegfried 1936 zusammengestellten Bericht "Zehn Jahre Fürsorgearbeit am Fahrenden Volk" (Pro-Juventute-Verlag, Zürich 1936) separat aufgeführt. Er betrug für die ersten 10 Jahre das "Hilfswerks" Fr. 236'373.41. Das ist nicht ganz das Dreifache dessen, was dem "Hilfswerk" in dieser Zeitspanne vom Bund zuging (Fr. 88'600.-) und ungleich mehr als die privaten Spendengelder (Fr. 56'953.75) oder der Beitrag der Pro-Juventute-Bezirkssekretariate (Fr. 48'893.15).


DAS "HILFSWERK FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE" UND DIE ZUSTÄNDIGKEIT DER KANTONE UND GEMEINDEN

Aus der erwähnten Aufschlüsselung der Finanzquellen des "Hilfswerks" geht hervor, dass die Beziehungen zwischen dem "Hilfswerk" und einzelnen Kantons- sowie Gemeindeinstanzen noch enger waren als diejenigen zwischen Bund und "Hilfswerk". Das liegt allein schon aus rechtlichen und institutionellen Gründen auf der Hand. Die Bevormundung der jenischen Kinder, deren Wegnahme das "Hilfswerk" auf Jahrzehnte hinaus vorgeplant hatte - die einschlägigen Berechnungen der Subventionsgesuchs-Beilage "Umfang der Vagantität und Aufgaben der nächsten Jahre" (a.a.O.) von 1929 reichen bis ins Jahr 1959 - fiel rechtlich gesehen in die Zuständigkeit der Heimatgemeinden, und die Anstalten, in welchen sie versorgt wurden, sofern sie nicht an einen Privatplatz vermittelt wurden, waren häufig kantonal geführt, soweit sie nicht dem weitverzweigten Sozialwesen der katholischen Kirche unterstanden.

Siegfried hat 1964 in seinem Buch "Kinder der Landstrasse" (op.cit., p.27) die Sonderstellung, die sein "Hilfswerk" zwischen den behördlichen Instanzen einnahm, damit begründet, "dass unsere 'Klienten' nicht nur von Ort zu Ort, sondern auch von Kanton zu Kanton wanderten und dass darum eine Art von 'Berufsvormundschaft' geschaffen werden musste, deren Wirkungsfeld weder durch Kantonsgrenzen noch durch örtliche Zuständigkeit gehemmt war."

Gerade in diesem Bereich muss der vorliegende Bericht die grössten Lücken aufweisen, weil es allein schon rein zeitlich unmöglich war, die betreffenden Aktenbestände in den einschlägigen Kantons- und Gemeindearchiven im gebotenen Mass zu berücksichtigen. Speziell auch in diesem Bereich wird die breiter angelegte Gesamtstudie die Aktenaufarbeitung vertiefen müssen. Insbesondere "die Schaffung besonderer Amtsvormundschaften in den Heimatkantonen der Kinder des fahrenden Volkes", von welcher der Pro-Juventute-Jahresbericht 1952/53 (p.19) berichtet, ist dabei von hohem Interesse.

Wie schon aus der Schilderung der ersten Kindswegnahme im Tessin ersichtlich ist, hat das "Hilfswerk" jeweils nicht abgewartet, bis die Wegnahme rechtlich geregelt war. Der "Tätigkeitsbericht 1931/32" aus der Nr.12 der "Mitteilungen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" (Zürich, Juli 1932, p. 1) lässt ahnen, was eine genaue Untersuchung dieser Fälle aufgrund der versiegelten "Hilfswerk"-Akten ans Licht bringen wird. Es ist wohl Siegfried selbst, der hier schreibt:

"Bei Beginn des Berichtsjahres betrug die Zahl der in unserer eigenen Fürsorge stehenden Kinder 152, im Laufe des Jahres haben wir uns mit 49 neuen Kindern zu befassen gehabt. Teilweise beschränkte sich die Tätigkeit unseres Hilfswerkes auf die Anbahnung ihrer Versorgung, während die Durchführung der nötigen Massnahmen und die weitere Sorge für die untergebrachten Kinder anderen Instanzen, zumeist den Heimatgemeinden, überlassen werden konnte. (...)
In eigene Fürsorge übernahmen wir 34 Kinder, von denen wir glücklicherweise 11 nach kürzerer Zeit andern Fürsorgekreisen übergeben konnten. (Haupsächlich an das Seraph. Liebeswerk Solothurn und Luzern, denen wir auch an dieser Stelle für ihre Hilfe herzlich danken). Hier handelte es sich um Fälle, bei denen mehr oder weniger schwierige gerichtliche Schritte zum Entzug der elterlichen Gewalt notwendig waren; die Abgabe erfolgte erst, wenn die rechtliche Seite in jeder Beziehung geregelt war."

Die eigentlichen Kindswegnahmen hingegen erfolgten offensichtlich vor, das heisst ausserhalb der rechtlichen Regelungen, mit Hilfe von Zuckerwerk und Schokolade und in der Hoffnung, die Eltern würden den Rechtsweg gar nicht erst beschreiten aus Angst, sie würden dann nicht nur ihre Kinder verlieren, sondern selber noch bevormundet werden. Zu solchen Entmündigungen von Eltern, die sich gegen die Wegnahme ihrer Kinder zur Wehr zu setzen versuchten, ist es in zahlreichen Fällen gekommen.

Die nachträgliche Legalisierung des illegalen respektive prä- oder extralegalen Vorgehens des "Hilfswerks" bei den Kindswegnahmen war somit nicht einfach eine lästige Pflichtübung, um der juristischen Form und der Zuständigkeit der Heimatgemeinde in Vormundschaftssachen Genüge zu tun, sondern entwickelte sich im Mass der zunhehmenden Erfahrung des Nicht-Juristen Siegfried mit dem Justizapparat zu einer scharfen Waffe gegen die Eltern der aufgespürten und weggeschafften jenischen Kinder.

Der "Tätigkeitsbericht" (a.a.O.) fährt fort:
"Zum grossen Teil stammen die neu aufgenommenen Kinder aus Familien, mit denen wir bereits seit längerer Zeit zu tun gehabt haben; daneben ist es uns aber auch möglich geworden, Familien in unsere Fürsorge einzubeziehen, an die wir bisher nicht hatten herankommen können."
Offensichtlich hat Siegfried im Lauf weniger Jahre sein zitiertes Verzeichnis der jenischen Familien, an deren Kinder er "herankommen" wollte, um etliche erweitert.

Die Begriffe der Wegnahme und Versorgung dieser Kinder, die Siegfried für sein Vorgehen stets verwendet, stehen zwar im Einklang mit der nachträglichen Legalisierung seines Vorgehens als normale amtliche Massnahme dieser Art.
Sie verschleiern jedoch das Vorgehen von ihm selbst oder seiner Gehilfen vor der Legalisierung dessen, was der Anwalt Werner Stauffacher, der in seiner Funktion als Pro-Juventute-Zentralsekretär zu Beginn der 1980-er Jahre Einblick in die gegenwärtig versiegelten Akten hatte, gegenüber der Presse schlicht als "Kindsraub" qualifizierte (Vgl. den Artikel von H. Utz und M. Wartmann: Ein fanatischer Irrglaube machte den Kindsraub möglich, in: Tages-Anzeiger vom 3.6.1986).
Falls es hingegen den Eltern der vom "Hilfswerk" weggenommenen Kinder gelang, ihre Kinder wieder zu finden und zurückzuholen, was im selben Berichtsjahr 1931/32 fünfmal vorkam, spricht Siegfried übrigens von einer "Entführung durch die Eltern". (Tätigkeitsbericht 1931/32, a.a.O.)


DIE VERSORGUNG DER WEGGENOMMENEN KINDER

Es ist schon aus der bisherigen Darstellung ersichtlich, dass das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" die über 600 jenischen Kinder, die es von 1926 bis 1973 ihren Eltern und Verwandten wegnahm, um sie ihrer Sippe, Kultur und Tradition zu entfremden, nicht zentralisiert in speziellen Anstalten versorgte, wie das bei früheren Massnahmen zur Bekämpfung der Vagantität mit Hilfe von Kindswegnahmen der Fall gewesen war, etwa beim genau hundert Jahre vorher (1826) in Betrieb genommenen "Erziehungsinstitut für Kinder vagierender Eltern" im württembergischen Weingarten. So hätten die Eltern ihre Kinder ja leicht wieder finden können. Aber am Seilergraben 1 in Zürich, dem langjährigen Sitz des Pro-Juventute-Zentralsekretariats, welches gleichzeitig die Adresse des "Hilfswerks" war, fanden die Eltern ihre weggenommenen Kinder nicht.

Siegfried hat sehr bewusst Lehren gezogen aus früheren Umerziehungsversuchen an Kindern von Fahrenden. In den "Mitteilungen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" vom September 1942 schreibt er dazu unter dem Titel "Aufbauende Fürsorge", dass "man es sehr oft unterlassen hatte, den Eltern die elterliche Gewalt zu entziehen (...) mit dem Erfolg, dass diese jungen Menschen bald vollständig von den Sitten und Gebräuchen des fahrenden Volkes eingefangen wurden und den Weg ihrer Eltern gingen. (...) Ein Psychiater, der sich mit Hunderten von Fahrenden abgegeben hat, fasst seine Meinung folgendermassen zusammen: 'Das Zusammensein eines Kesslerkindes mit seinen Eltern kann in einer Stunde niederreissen, was in Jahren mühsam aufgebaut worden ist.' Eine fünfzehnjährige Erfahrung mit vielen hundert solchen Kindern hat uns davon überzeugt, dass dieser Ausspruch das Richtige trifft."

Dasselbe wiederholt er dann in den "Mitteilungen" vom September 1943 im Artikel "Warum befasst sich Pro Juventute mit den Kindern des fahrenden Volkes?" sehr prägnant:

"Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaf auseinanderreissen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn es nicht gelingt, die einzelnen Glieder auf sich selbst zu stellen, so werden über kurz oder lang wiederum von ihrer Sippe eingefangen; alles, was man für sie getan hat, ist verloren."

Das "Hilfswerk" verteilte deshalb die weggenommenen Kinder so dezentral wie möglich. Kinder, die im Tessin weggenommen wurden, kamen in Aargauer Anstalten, Bündner Kinder als Verdingkinder zu Schaffhauser oder Solothurner Bauern. Das "Hilfswerk" bediente sich dabei sowohl des Verdingkinderwesens und der staatlichen Anstalten verschiedener Kantone als auch der Anstalten des katholischen Sozialwesens, beispielsweise der Waisenhäuser der Menzinger und Ingenbohler Schwestern, der Heime und Pflegeplatznetze der Seraphischen Liebeswerke Luzern und Solothurn sowie der klosterähnlichen Mädchenheime de Kongregation Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten. Sogar im Mädchenheim des Guten Hirten Strassburg, also im Ausland, versteckte Siegfried eine grössere Anzahl von jenischen Mädchen aus der Schweiz.

Am liebsten plazierte Siegfried die weggenommenen jenischen Kinder bei Pflegeeltern, die an einer Adoption interessiert waren. Aufgrund der Akten muss jedoch bei diesen Adoptionen genau abgeklärt werden, ob sie gemäss den gesetzlichen Vorschriften vor sich gingen. Bei dieser Versorgungsart, für die hauptsächlich sehr kleine und hübsche Kinder, vorzugsweise Mädchen, in Frage kamen, konnte in den glücklicheren Fällen das Kindswohl - doch nur einem problematischen, rein individualistischen Sinn verstanden - mit dem übergeordneten Ziel der Entfremdung von der jenischen Kultur und Identität kombiniert werden. Denn sobald die Kinder adoptiert wurden und ihren Namen nicht mehr trugen, waren sie für Eltern praktisch unauffindbar. In anderen Fällen - etwa wenn die Pflegeeltern selber wider Erwarten eigene Kinder bekamen und dann aus Gründen des Erbrechts auf eine Adoption des jenischen Pfleglings doch verzichteten - konnten auch diese Fälle unglücklich verlaufen. Wie sehr übrigens - unabhängig von der Pflegequalität und der Einhaltung rechtlicher Regelungen - das Kindswohl an der ehrlichen Information über die kulturellen und politischen Hintergründe des Pflegeplatzes hängt, zeigt Max Frischs Stück "Andorra".

Am ehesten konnten die fahrenden Eltern ihre weggenommenen Kinder in Waisenhäusern und Erziehungsanstalten finden. Drohende Kontakte der Eltern zu ihren Kindern unterband aber Siegfried wenn immer möglich durch sofortige Umplazierung. Die Entfremdung von den Eltern und Verwandten, von der jenischen Kultur und Lebensweise war dasjenige Erziehungsziel, das vor allen anderen, auch vor dem Wohl des Kindes, höchste Priorität hatte. Dass die Kinder bei den Wegnahmen traumatisiert wurden, dass ihr Trennungstrauma durch die häufigen Heim- und Pflegeplatzwechsel bei der Gefahr drohender Kontakte mit Eltern oder Verwandten stets neu vertieft wurde, all das wurde der "Bekämpfung der Vagantität", der radikalen Zerstörung der kulturellen Identität der weggenommenen jenischen Kinder untergeordnet. So wechselten einzelne Mündel Siegfrieds ihren Pflegeplatz Dutzende von Malen, eines durchlief insgesamt 49 Versorgungsplätze.

Die Folgen dieser fortlaufenden Traumatisierung der weggenommenen jenischen Kinder, kombiniert mit den seelischen und körperlichen Misshandlungen, von denen auch die Heimbiografien nicht-jenischer Anstaltszöglinge berichten, waren entweder Abstumpfung oder Auflehnung. Beides erkärte die Ideologie des "Hilfswerks" mit der erblichen Belastung seiner Zöglinge und bestrafte sie mit noch schlechterer Behandlung, was wiederum zu verstärkten Symptomen der Traumatisierung führte. Am Ende dieses Teufelskreises kam es schliesslich in zahlreichen Fällen, ohne Gerichtsentscheid, im administrativ-juristischen Verfahren, zu willkürlichen Versorgungen in einer der Abteilungen der Strafanstalt Bellechasse, Kanton Freiburg, deren Haftbedingungen im Lauf der breiter angelegten Gesamtstudie ebenso genau erforscht werden müssen wie die Rolle der willkürlichen Einweisung in diesen Anstaltskomplex in der Laufbahn zahlreicher Zöglinge des "Hilfswerks".

Unter anderem veranlasste Siegfried persönlich kurz vor dessen 20. Geburtstag die administrative Einweisung eines jenischen Burschen für zwei Jahre nach Bellechasse, obwohl dessen Bagatellvergehen vorher ordnungsgemäss abgestraft worden waren. Siegfried liess sich dabei in seiner diesbezüglichen Eingabe "nicht vor allme durch die an sich nicht sehr bedeutenden Vorstrafen des jungen Mannes, als vielmehr durch dessen nachgewiesene asoziale Einstellung (Arbeitsscheu, Alkoholismus, unsittlicher Lebenswandel) leiten."

Dem mit dieser Begründung ohne Gerichtsurteil auf zwei Jahre inhaftierten Jenischen gelang dann die Flucht aus Bellechasse. Flüchtige Hilfswerk-Zöglinge wurden jeweils im "Schweizerischen Polizeianzeiger", herausgegeben von der Polizeiabteilung des EJPD, ausgeschrieben. Nach einer wildwestmässigen Verfolgungsjagd mit Schusswechsel und darauffolgender Gerichtsverhandlung begann am 22. 12. 1933 der Vollzug einer Zuchthausstrafe in einer anderen Strafanstalt wegen Totschlagsversuchs an einem Polizisten sowie Diebstahl und Ungehorsam. Die Akten berichten, dass der 23jährige Gefangene sich am selben Tag sein Geschlechtsteil abgeschnitten habe, worauf er zuerst ins Kantonsspital und dann in die psychiatrische Klinik eingeliefert worden sei.

Sein Cousin, der ihn dort besucht hat, ist jedoch der Überzeugung, dass seine Verletzung eine Folge von Misshandlungen seitens der einliefernden Polizei- oder der Vollzugsbeamten gewesen sei. Gerade auch in diesem Fall sind die Aktenberichte und die mündlichen Zeugnisse sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Beide Cousins figurieren übrigens auf dem von Siegfried erstellten Stammbaum, der als Beilage zum Subventionsgesuch Willes im Bundesarchiv lagert.

Ein psychiatrisches Gutachten über den Entmannten, der später in geistiger Umnachtung in einer anderen psychiatrischen Klinik starb, besagt u.a.:
"Der junge Mann macht jetzt zeitweise ängstliche halluzinatorische Aufregungszustände durch, in denen er versucht, sich zu verstümmeln, beisst sich in die Hände, versuchte auch sein Genitale mit einer Nussschale zu zerkratzen."

Jene bereits erwähnten Mündel, die Siegfried im Strassburger Haus zum Guten Hirten versorgt hatte, rettete er bei der Besetzung Frankreichs im Jahr 1940 zwar vor den Nationalsozialisten, überführte sie jedoch via Basel in die Frauenabteilung des Zuchthauses Bellechasse. Siegfried überliess es den teilweise minderjährigen Mädchen, diesen Wechsel vom Kloster ins Zuchthaus zu verkraften oder daran zu zerbrechen. Vor dem Hintergrund solcher Fürsorgemassnahmen sind die Aussagen mehrerer Mündel des "Hilfswerks", sie seien sexuell missbraucht worden, durchaus glaubhaft. Solche Aussagen beziehen sich sowohl auf Siegfried selbst als auch auf dessen nur kurz amtierenden Nachfolger als Leiter der Abteilung Schulkind der Pro Juventute.

Soviel zur Versorgung der Mündel des Hilfswerks, von denen zahlreiche Aussagen vorliegen, die auf ihre Ergänzung durch die "Hilfswerk"-Akten warten.


ZUR POLITISCHEN UND GEISTESGESCHICHTLICHEN ORTUNG DES "HILFSWERKS FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE"

Hier wie überall auf dem Gebiet der Geistesgeschichte ist es praktisch unmöglich, eindeutige Zuordnungen vorzunehmen. Ideologie und Vorgehen des "Hilfswerks" fanden von 1926 bis in die 1970-er Jahre immer wieder Befürworter, gerade auch unter hochgestellten politischen Repräsentanten der Schweiz. Ob allerdings eine Mehrheit des Schweizervolks sich bei einer Abstimmung in diesem Sinn ausgesprochen hätte, ist fraglich, vor allem für den Zeitraum ab ca. 1944.

Der immer wieder klar deklarierte Zweck des "Hilfswerks" bestand in der Ausrottung des Übels der Vagantität, d.h. in der Vernichtung der von der sesshaften Norm abweichenden eigenständigen Lebensweise und Kultur der Fahrenden. Noch der Jahresbericht der Pro Juventute für 1952/53 formuliert dieses Ziel völlig ungeniert:
"Optimisten stellen sich immer wieder vor, das Übel der Vagantität sei in zehn, höchstens zwanzig Jahren zu beheben. Leider trifft diese Erwartung nicht ganz zu. Immer wieder treten 'Fecker'- Familien auf. Da kann nur planmässige und dauernde Hilfe diese Landplage lindern." (p.19)

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Siegfried zur Erreichung dieses Ziels die Vorschläge Josef Jörgers zu verwirklichen versuchte: Möglichst gründliche Zerstörung der jenischen Sippen und der Traditionen des Fahrenden Volkes, möglichst weitgehende kulturelle und genetische Assimilierung an die Sesshaften mit Hilfe systematischer und radikaler Kindswegnahmen. Siegfried beruft sich in seiner ersten Äusserung zum Thema, im NZZ-Artikel "Vagantenkinder" vom 16. 6. 1926 auf Jörger, und er schreibt 1964 rückblickend "von der immer noch grundlegenden Darstellung Jörgers" (Alfred Siegfried: Kinder der Landstrasse, op.cit., p.5).

Jörgers Theorien gehören zu jener ideologischen Welle, die zwar - nur schon aus rein zeitlichen Gründen - nicht dem Nationalsozialismus im strengen Sinn zuzurechnen ist, die dem Nationalsozialismus aber wesentliche Grundlagen seiner Bevölkerungspolitik und Gesetzgebung lieferte.

Neben Jörger figuriert in der Literaturliste von Siegfrieds Rückblick auf sein Lebenswerk auch die Dissertation von Rudolf Waltisbühl "Die Bekämpfung des Landstreicher- und Landfahrertums in der Schweiz", Zürich 1944. Waltisbühl befürwortete zwar die Bekämpfung der Vagantität durch Kindswegnahmen und nachgehende Fürsorge durch das "Hilfswerk", betrachtete sie jedoch nur als einen vom eugenischen Standpunkt aus interessanten Versuch von allenfalls sehr langfristiger Wirkung auf die "Erbgesundheit" des Schweizervolks. Er schrieb:
"Für die Erbgesundheitslehre wird es einmal interessant sein, das Kindermaterial des Hilfswerkes in 30 bis 40 Jahren als Grundlage für weitere Erfahrungen zu verwerten. Es kann dann mit Bestimmtheit gesagt werden, ob die Milieutherapie einen Sinn gehabt hat, oder ob man mit anderen Mitteln vorgehen muss." (p.121)

Das andere Mittel, das er als kurzfristiger wirksam empfahl, war die Zwangssterilisation von Landfahrern. Er berief sich dabei auf das deutsche Vorbild, wo man 1944 von der Sterilisation allerdings schon längst zur Massentötung übergegangen war. Waltisbühl schrieb weiter (p.159):

"In eugenischer und kriminalpolitischer Hinsicht möchten wir deshalb die Sterilisation einzelner schwer erbkranker Landfahrertypen befürworten. Auch in Deutschland ist man der Ansicht, dass nur eine 'auf ganze Familien ausgedehnte Anwendung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses neben der Sicherheitsverwahrung Schwerkrimineller helfen kann'."
Waltisbühl zitiert da aus dem "Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge',18.Jg.,Heft 11, 1937, S. 348. Er fährt dann fort:
"Aber auch vom rein menschlichen Standpunkt aus können wir unsere Auffassung vertreten: Handelt es sich doch bei der Nachkommenschaft von Landfahrern eigentlich um unglückliche Individuen, welche man nicht für ihr Verhalten verantwortlich machen kann. U.E. ist deshalb die Geburt eines solchen Individuums auf künstlichem Wege zu verhindern, da es (...) nichts besseres zu tun versteht, als wiederum eine zahlreiche, erblich belastete Nachkommenschaft auf die Welt zu stellen."

Falls man diese Erwägungen Waltisbühls als Distanzierung gegenüber der auf lange Frist berechneten erbgesundheitlichen "Milieutherapie" des "Hilfswerks" auffassen will - dessen Akten er für seine Arbeit verwendet hat -, könnte man folgern, gerade Waltisbühl beweise, dass Siegfrieds Vorgehen und Theorien noch vergleichsweise harmlos gewesen seien.

Es muss allerdings klar gesagt sein, dass auch an Zöglingen des "Hilfswerks" Sterilisationen vorgenommen wurden. Auch hier fehlte mir der Zugang zu den einschlägigen Akten - nebst denen des "Hilfswerks" vor allem die der Kliniken, wo sie durchgeführt wurden -, um über die Grössenordnung und die Hintergründe dieser Massnahmen Genaueres berichten zu können.
Ohne Zweifel wird die breiter angelegte Gesamtstudie gerade hier sehr genaue Nachforschungen durchführen müssen.

Ferner finden sich auch bei Siegfried Sätze, welche die Distanz zu Waltisbühl, den er wie gesagt noch 1964 als ernstzunehmendes Fachbuch aufführt, recht klein erscheinen lassen. So etwa folgender Satz aus den "Mitteilungen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" Nr. 26 vom September 1941:
"Wenn es schon nicht gelingt, einen halb närrischen, haltlosen Menschen zu einem brauchbaren Arbeiter zu erziehen, so möchte ich doch mit meiner jahrelangen Fürsorge erreicht haben, dass der Unglücksrabe nicht auch noch eine Familie gründet und, wer weiss, ein Schärlein ebenso unglücklicher Kinder auf die Welt stellt."

Es geht hier keineswegs darum, Waltisbühl und Siegfried um jeden Preis auf dieselbe Stufe stellen zu wollen. Der als Student zum Katholizismus übergetretene Siegfried hatte entweder selbst Vorbehalte gegen die Sterilisation, falls er die päpstliche Enzyklika "Casti connubii" von Pius XI. ernst nahm, oder er musste zumindest den Schein solcher Vorbehalte wahren. In diesem Zusammenhang kann auf die ausdrückliche Distanzierug Siegfrieds von Sterilisation und Euthanasie hingewiesen werden, die er allerdings erst 1944 in der Zeitschrift "Pro Juventute" (Jg. 44, p.212) unter dem Titel "Kurs über Eugenik und Vererbung in Schönbrunn" erscheinen liess (es handelt sich um Schönbrunn ob Zug, T.H.). Dort schreibt er:
"Gegen die von einem äusserlich materialistischen Standpunkt aus bestechenden Methoden der modernen Eugenik: Sterilisation, Schwangerschaftsunterbrechung oder gar Vernichtung "unwerten Lebens" muss die auf christlichem Boden stehende Fürsorge eindeutig Stellung beziehen."

Für Siegfried kamen offiziell nur folgende Massnahmen in Betracht:
"Asylierung von schwer Gefährdeten, Haltlosen, immer wieder rückfälligen Kriminellen; Abhaltung von der Ehe für erblich schwer Belastete (...); in eindeutig schweren Fällen Bevormundung und Verunmöglichung der Ehe."(ebda.)

Man muss sich in diesem Zusammenhang auch fragen, weshalb Siegfried, nachdem er sich 1944 von der "Vernichtung 'unwerten Lebens'" distanzierte, 1964 einen Autor als Fachkapazität anführt, der nun wirklich ein Nationalsozialist reinsten Wassers war, nämlich Robert Ritter, den Leiter der "Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle" in Berlin-Dahlem, wo genaue Genealogien und Karteikarten für alle Roma und "Zigeunermischlinge", wie Ritter die Jenischen bezeichnete, im gesamten Gebiet Grossdeutschlands gesammelt und neu erstellt wurden (vgl. D.Kenrick/G.Puxon, Sinti und Roma, op.cit., p.54).

Die Fahrenden wurden in Deutschland aufgrund der älteren Zigeunerregistraturen und dieser Forschungen Ritters aufgespürt, interniert und schliesslich grösstenteil umgebracht. Nicht zuletzt genau darin bestand die "Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Grossdeutschen Reich", von der nicht nur im Untertitel ds auf Siegfrieds Literaturempfehlungen von 1964 figurierenden Buches "Der nichtsesshafte Mensch", München 1938, enthaltend den Aufatz Robert Ritters "Zigeuner und Landfahrer", pp. 71 - 88, programmatisch die Rede ist.

Ein Pendant zu den Literaturempfehlungen in Siegfrieds Buch "Kinder der Landstrasse" von 1964 findet sich in den Beständen der Pro-Juventute-Bibliothek. Eine Zusammenstellung der dortigen Bücher zur Familienpolitik aus den 40er Jahren beginnt mit dem Teil "Eugenik", der einen Fünftel des gesamten Bestandes zu diesem Thema ausmacht und sehr viele Titel zu den Themen "Sterilisation" und "Erbgesundheitspflege" enthält, darunter eindeutig nationalsozialistische Literatur.

Noch im Katalog von 1976 der Pro-Juventute-Bibliothek findet sich übrigens die Rubrik "Eugenik, Sterilisation, Erblichkeitslehre", allerdings nicht mehr an erster Stelle.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Siegfried in engem Anschluss an Josef Jörger eine ohne letzte Stringenz ausformulierte, aber eindeutig rekonstruierbare Theorie der Steuerung von Vererbungsfaktoren kultureller und genetischer Natur mit Hilfe der systematischen Dekulturation von jenischen Kleinkindern in die Praxis umzusetzen versuchte. Es ist mehr das andere politische Umfeld in der Schweiz, welches Siegfrieds Fürsorgemassnahmen an den Schweizer Jenischen von ähnlichen Bestrebungen im nationalsozialistischen Deutschland unterschied als der theoretische Ansatz der genetischen Assimilation, den er mit einigen allerdings später zugunsten der Massensterilisation und Massentötung verworfenen rassenhygienischen Versuchsanordnungen im nationalsozialistischen Deutschland ebenso teilt wie die unmenschliche Methodik seiner als Massenexperiment mehrfach wissenschaftlich ausgewerteten Massnahmen.

Die Nähe der Pro-Juventute-Spitze und des "Hilfswerk"-Leiters zum Nationalsozialismus war jedoch keine rein theoretische. Am 12. 8. 1940 versandte Siegfried für das Zentralsekretariat der Pro Juventute "streng vertraulich" ein Rundschreiben an Schweizer Kinderheime, um sie anzufragen, ob sie gewisse "Bedingungen für die Aufnahme reichsdeutscher Kinder in schweizerischen Erholungsheimen" erfüllen wollten. Die für eine solche Belegung in Frage kommenden Heime würden "im Einvernehmen mit dem Zentralsekretariat Pro Juventute und der Reichszentrale Landaufenthalt für Stadtkinder e.B. festgelegt."

Im Zusammenhang mit dem "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" ist an diesen auch sonst in verschiedener Hinsicht dubiosen Bedingungen vor allem von Bedeutung, dass für die reichsdeutschen Kinder 3 bis 4 Mal wöchentlich Fleisch auf den Tisch kommen sollte, ein Menuplan, der scharf kontrastiert zur mangelhaften Anstaltsernährung, an welche sich jenische Zöglinge erinnern.

Ein Innerschweizer Lehrer, der von diesem Rundschreiben Kenntnis erhielt, boykottierte deswegen den Pro-Juventute-Markenverkauf des Jahres 1941 in seiner Schulgemeinde und wurde hierauf von der Pro Juventute sowie von Oberstkorpskommandant Wille und Zentralsekretär Loeliger als Nebenkläger vor Gericht gezogen. Das Amtsgericht Luzern-Land verurteilte den Lehrer während dessen Aktivdienst als Sanitätssoldat am 4. Oktober 1943 im Abwesenheitsverfahren wegen Verleumdung, übler Nachrede und Beschimpfung zu einer Busse von 30 Franken und zur Bezahlung der Gerichtskosten. Das Urteil macht u.a. geltend, die Heimbelegung durch reichsdeutsche Kinder sei ein Projekt geblieben im Zusammenhang mit einem ebenfalls nicht zustandegekommmenen Handelsvertrag der Schweiz mit Deutschland. Es sei deswegen nicht statthaft gewesen, die Pro Juventute als "Nazigesellschaft" zu bezeichnen, wie dies der Beklagte getan habe (was derselbe allerdings im erstinstanzlichen Verfahren bestritten hatte). Das Urteil wurde nicht publiziert, sondern der Schulpflege der Schulgemeinde des Lehrers zugestellt.
(Rundschreiben, Begleitbrief Siegfried, Urteil Amtsgericht siehe BAR E 3001(B)2 27)

Weit wichtiger zur politischen Ortung des Standorts der Führungsspitze der damaligen Pro Juventute, insbesondere von deren dominierender Figur Ulrich Wille jun., der das erfolgreiche Gesuch um Bundesfinanzierung des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" unterzeichnet hatte, ist dessen seit langem vermutete, aber erst seit Willi Gautschis Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. 12. 1978 einigermassen gesicherte zentrale Rolle bei Hitlers Besuch in Zürich anfangs September 1923. (Willi Gautschi: Hitlers Besuch in Zürich 1923, NZZ, 29.12.1978). Im Zusammenhang mit einem Vortrag Adolf Hitlers, der mutmasslich in der von Wille bewohnten Villa Schönberg im Rieter-Park stattfand, flossen dem Führer der Nationalsozialisten rund 30'000.- Franken zu, was Hitler die Finanzierung der staatsfeindlichen Umtriebe zur Vorbereitung seines Münchner Putschversuchs vom 8./9. November 1923 in inflationssicherer harter Schweizer Währung erlaubte.

Bekannter ist der Gegenbesuch Willes in Deutschland 1934, nach der Machtübernahme Hitlers, der Gegenstand eines Postulats im Nationalrat wurde (vgl. stenographisches Bulletin der Bundesversammlung, Herbstsession 1934, Bern 1934, p.591, Verhandlungen vom 23.9.1934. Vgl. auch den Artikel "Oberstkorpskommandant Wille bei Hitler" im Volksrecht vom 12.10. 1934). Oberstkorpskommandant Wille traf Hitler im März 1934 von Berlin kommend in München, als der bei dem Führer-Stellvertreter Rudolf Hess zum Essen eingeladen war. Wille kannte Hess von dessen Studium an der ETH seit 1922.

Hier soll keineswegs in unzulässig verkürzender Weise das viel weitere politische Spektrum der damaligen Pro Juventute als breit abgestützter Organisation mit dem politischen Ort ihrer einflussreichsten Spitzenleute identifiziert werden, zu deren vollständiger Liste auch noch Bundesrat Pilet-Golaz gehört, Stiftungsratspräsident der Pro Juventute von 1937 bis in die 19550-er Jahre.
Denn ebensowenig wie die damaligen Bestände der Pro-Juventute-Bibliothek nicht auch andere Bücher zur Familienpolitik als solche mit rassenhygienischem Ansatz haben, ebensowenig fehlten in der Pro Juventute auch Mitarbeiter anderer politischer Tendenz, wie z.B. Mentona Balsiger-Moser, die mit Ulrich Wille zu den Mitbegründern der Pro Juventute im Jahr 1912 zählte. Nur war der Einfluss dieser Repräsentantin einer andern politischen Richtung auf die Pro Juventute nicht vergleichbar mit der dominierenden Position von Ulrich Wille zur Zeit der Hauptwirksamkeit des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse".

Die überragende Stellung Ulrich Willes in der Stiftung schildert Heinrich Hanselmann, der zweite Zentralsekretär der Pro Juventute (nach Carl Horber) und spätere Leiter des Heilpädagogischen Seminars Zürich in seinem Nekrolog auf Ulrich Wille in einer luziden Darstellung der Machtstrukturen der Stiftung:

"Der Stiftungsrat ist unsere oberste Aufsichtsbehörde, präsidiert durch einen eigenen Präsidenten, bisher immer repräsentiert durch ein Mitglied des Bundesrates. Seine zudienende Instanz ist die schweizerische Stiftungskommission, seit der Gründung der Stiftung präsidiert durch Ulrich Wille bis zu seinem Tode. Ihr obliegt die Entscheidung über neue Aufgaben der Stiftung, sie bereitet die Anträge für die Aufgaben des Stiftungsrates vor: Rechnungserstellung, Jahresbericht. Die Stiftungskommission wählt die Bezirkskommissionen und überwacht deren Tätigkeit. Sie wählt den Zentralsekretär auf vier Jahre und überwacht dessen Tätigkeit; sie wählt auch dessen Mitarbeiter auf seinen Vorschlag hin, genehmigt deren Anstellungsverhältnisse."
(Aus: Dem Gedenken von Oberstkorpskommandant Ulrich Wille, Präsident der Stiftungskommission 1912 bis 1959, Zürich 1959, p.18)


WEITERE WIRKUNGEN UND FOLGEN DES "HILFSWERKS FÜR DIE KINDER DER LANDSTRASSE"

Neben den geschilderten Folgen der Wegnahme für die einzelnen jenischen Kinder - vielfach wurden übrigens auch die Geschwister voneinander getrennt - betraf das Vorgehen des "Hilfswerks" vor allem auch die Eltern und Verwandten der Weggenommenen sowie die Schweizer Fahrenden als ganze Bevölkerungsgruppe.

Die einzelnen Eltern litten unter Schuldgefühlen, da ja die Wegnahmen ihnen gegenüber mit ihrem persönlichen Versagen als Erzieher begründet wurden. Gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Mutter und Vater führten oft zur Scheidung und verschärften die Situation, die manche Eltern weggenommener Kinder, von deren Verbleib sie nichts mehr hörten, schliesslich in schwere Depressionen, Alkoholismus und einen frühen Tod trieb.

Als die Schweizer Jenischen zu realisieren begannen, dass gegen sie eine systematische Kampagne von Kindswegnahmen in Gang gekommen war, versuchten viele mit der Aufgabe ihrer hergebrachten Lebensweise und der Anpassung an die Normen der Sesshaften die Auflösung ihrer Familien zu verhindern. Dieser Ausweg erwies sich aber oft als trügerisch: In Notlagen, wie sie bei solchen Versuchen des Kulturwechsels nicht ausbleiben konnten, wurden auch sesshaften jenischen Familien Kinder weggenommen.

Einige Sippen entzogen sich durch Flucht in andere Regionen der Schweiz, etwa von Schwyz ins Welschland, oder auch durch Ausreise ins Ausland, beispielsweise in die damalige französische Kolonie Algerien, dem Zugriff des "Hilfswerks". Andere Sippen beschleunigten den Rhythmus ihres steten Ortswechsels und wählten Lagerplätze weitab der Siedlungen der Sesshaften in Waldlichtungen, verlassenen Kiesgruben oder Steinbrüchen etc., um das Aufspüren ihrer Kinder zu verhindern.

In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht muss zusammenfassend gesagt werden, dass die Massnahmen des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" und der mit ihm zusammenarbeitenden Behörden das Überleben der jenischen Bevölkerungsgruppe in der Schweiz in vieler Hinsicht gefährdete. Die systematische Einengung jenes Randbereichs unserer Gesellschaft, auf den die Jenischen schon vor 1926 eingegrenzt waren, hat nicht nur die gesellschaftliche Ordnung der Schweiz beinahe um einen Teil ihrer kulturellen Vielfalt gebracht. Vor allem hat sie viele Jenische teils über den Rand unserer Gesellschaft hinausgestossen, teils gegen ihren Willen und unter Verlust ihrer familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen sowie ihrer kulturellen Identität als künstlich vereinzelte "Fälle" in private und institutionelle Strukturen gepresst, die in zahlreichen Einzelschicksalen zum sozialen, seelischen und oft auch physischen Ruin der Betroffenen führten, während andere trotz und wegen der erlittenen Behandlung zu entschlossenem, weitsichtigem und erfolgreichem Widerstand gegen das "Hilfswerk" und dessen Helfer fähig waren.


IV. ZWISCHEN VERFOLGUNG UND GLEICHBERECHTIGUNG. ZUR LAGE DER SCHWEIZER JENISCHEN SEIT 1973

Was ausländische Beobachter der Schweiz in diesem Zusammenhang frappiert, ist das späte Datum des öffentlichen Protests gegen die Ideologie und das Vorgehen des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" sowie der Umstand, dass zur Abklärung der spätestens seit 1972 bekannten schweren Anschuldigungen gegen das Vorgehen des "Hilfswerks" nie eine gerichtliche Untersuchung von Staates wegen eingeleitet worden ist, obwohl sich einzelne Betroffene immer wieder auch gerichtlich gewehrt hatten und gelegentlich sogar einzelne Massnahmen abwenden konnten.

Immerhin fand die 1972 von Hans Caprez gestaltete Artikelserie des "Schweizerischen Beobachters" (Nr.7/1972; Nr.16/1972; Nr.17/1972; Nr.18/1972; Nr.19/1972) mit detaillierten Aussagen Betroffener über die systematische Auflösung ihrer Familien und mit scharfer Kritik an Ideologie und Vorgehen des "Hilfswerks" ein so breites Echo, dass die Pro Juventute die öffentliche Debatte über das "Hilfswerk" 1973 durch die Auflösung von 16 und die Rückgabe der 9 noch laufenden Vormundschaften über jenische Mündel an die zuständigen Behörden beenden wollte. Weil aber die Pro Juventute sich anlässlich der Auflösung des "Hilfswerks" weder klar und überzeugend von der Ideologie und dem Vorgehen des "Hilfswerks" distanzierte noch bereit war, vor der Öffentlichkeit und den Jenischen vollumfänglich Rechenschaft abzulegen über die ganze Tragweite und die genauen Details dieses sozialpolitischen Massenexperiments, sondern sich darauf beschränkte, "neben den positiven Leistungen auch Fehler" in einzelnen Fällen zuzugeben (Zitat aus der Pressemitteilung der Pro-Juventute-Stiftungskommission vom Frühjahr 1973), ist diese Debatte 15 Jahre später noch keineswegs abgeschlossen.

Dennoch war die Schliessung des "Hilfswerks" im Gefolge des Echos, das die Lebensberichte einzelner seiner "Fälle" auslösten, ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der Schweizer Jenischen. Denn aus diesem erfolgreichen Widerstand gegen die geschilderte Behandlung während 47 Jahren entstanden erste Organisationen der jenischen Bevölkerungsgruppe. Dieser politische Bewusstwerdungsprozess wurde erleichtert durch die Solidarität von Sesshaften wie Hans Caprez oder Sergius Golowin, die sich für die Menschenrechte der jenischen Minderheit sowie für ihre vielfältige und verfemte Tradition und Kultur einsetzten. Diese Emanzipation der Schweizer Jenischen spielte sich im Rahmen der gleichzeitigen Entstehung ähnlicher Organisationen der Roma in anderen europäischen Ländern ab.

Neben der "Pro Tzigania" (gegründet 1973), die auch ihre Verdienste hat, ist es in erster Linie die gegenwärtig von Robert Huber präsidierte "Radgenossenschaft der Landstrasse" (gegründet am 19. April 1975 in Bern, hervorgegangen aus der Vorläuferorganisation "Jenischer Schutzbund"), welche für sich in Anspruch nehmen kann, als konfessionell neutrale, repräsentative und unabhängige Vertretung des Fahrenden Volkes dessen Rechte auf Niederlassungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Arbeit und Bildung innerhalb der angestammten Lebensweise, Stand- und Durchgangsplätze, Mitspracherecht bei Gesetzesvorlagen und Verordnungen, welche den Lebensraum der Fahrenden mitbetreffen, Förderung der jenischen Kultur und Tradition aus öffentlichen Mitteln etc. dank ihrer Mobilisationskraft unter den Fahrenden mit politischem Gewicht wahrzunehmen.
Die "Radgenossenschaft" ist übrigens Mitglied der Romani-Union, präsidiert vom Mediziner Jan Cibula, welche ihrerseits beim Sozial- und Wirtschaftsrat der UNO konsultativen Status hat.

Viele politische Repräsentanten der Schweiz erkannten im Lauf der 1970-er Jahre, dass die jenische Bevölkerungsgruppe in der Schweiz ebenso ein Existenzrecht als fördernswerte kulturelle Minderheit hat wie beispielsweise die Romanisch sprechende Minderheit des Kantons Graubünden oder wie die Jurassier, die sich im gleichen Zeitraum die Anerkennung als Kanton und damit die gleichberechtigte Eingliederung in den Bundesstaat erkämpften.

Von 1981 bis 1983 tagte eine Studienkommission des EJPD und übergab am 27. Juni 1983 ihren Bericht "Fahrendes Volk in der Schweiz - Lage, Probleme, Empfehlungen" der Öffentlichkeit.
Der Bericht, an dessen Ausarbeitung auch Vertreter der Jenischen teilnahmen, geht die Thematik auf breiter Ebene an. Er enthält insbesondere auch ein Verzeichnis der eidgenössischen und kantonalen Gesetze und Verordnungen, welche das Fahrende Volk teils gezielt betreffen, teils ohne Rücksicht auf dessen Dasein erlassen wurden. Der Bericht umfasst auch einen Abschnitt "Folgen der Aktion 'Kinder der Landstrasse' der Pro Juventute" (p.25/26). Dort wird u.a. festgehalten:

"Heute besteht vor allem ein persönliches und wissenschaftliches Informationsbedürfnis. Die Stiftung Pro Juventute, in deren Archiv alle Akten über die Aktion Kinder der Landstrasse aufbewahrt werden, sollte diese für beide Zwecke zur Verfügung stellen. Missbräuche müssen jedoch verhindert werden."

Das Archiv war ja schon früher und noch bis in die 1970-er Jahre einzelnen Wissenschaftlern zugänglich gemacht worden, allerdings ohne Einverständnis der Personen, über welche in diesem Archiv Akten geführt wurden. Ab Herbst 1983 begann die Pro Juventute das Archiv des "Hilfswerks" unter strengen Verschluss zu nehmen.

Ende 1984 forderte eine Gruppe von betroffenen Jenischen in einem offenen Brief an Bundesrätin Elisabeth Kopp und Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich, der nie beantwortet wurde:

"- Die Anerkennung der Jenischen als kulturelle Minderheit in der Schweiz und entsprechende moralische und finanzielle Unterstützung

- Materielle Wiedergutmachung in Form von Rechtsberatung und der Bereitstellung von geeigneten Standplätzen in der Schweiz

- Zusammenführung von heute noch getrennten Familienmitgliedern und Herausgabe der Akten des Hilfswerks 'Kinder der Landstrasse'; diese sollen unter notarieller Aufsicht vernichtet oder, wo dies gewünscht wird, den Betroffenen ausgehändigt werden."
(Beobachter Nr.24/84)

Ab 1985 betrauten immer mehr Betroffene den Juristen Stefan Frischknecht mit der anwaltlichen Wahrung ihrer Rechte. An Sitzungen mit Vertretern der Fahrenden, des "Beobachters", der Pro Juventute und des Bundes tendierten die Vertreter der Pro Juventute und des Bundes darauf, dass die von Siegfried und seinen Nachfolgern als Vormundschaftsakten geführten Akten der Zuständigkeit der Heimatkantone der einzelnen Mündel unterlägen. Die jenischen Betroffenen und ihr Rechtsvertreter sprachen sich gegen eine Aufteilung des Aktenbergs auf über 20 verschiedene Kantonsarchive aus und forderten die integrale Herausgabe aller Akten des "Hilfswerks", die gemäss einem Verzeichnis, das die Pro Juventute am 24. April 1981 erstellen liess, neben den von Siegfried geführten Akten auch Dokumente über andere Jenische sowie die Buchhaltung, Korrespondenz etc. des "Hilfswerks" enthalten, darunter wahrscheinlich auch eine Reihe persönlicher Dokumente (Ausweise, Fotos, Zeugnisse) einzelner Mündel oder ihrer Verwandten.

Anlässlich der Pressekonferenz der Pro Juventute vom 5. Mai 1986, an der die Pro Juventute die Übergabe der Akten an die Kantone ankündigen wollte, traten die Jenischen, vertreten durch den Vorstand der Radgenossenschaft und Mariella Mehr, an die Öffentlichkeit mit den Forderungen nach amtlicher Versiegelung der Akten des "Hilfswerks" im Archiv der Pro Juventute, nach Anklageerhebung gegen die Verantwortlichen und nach Verwirklichung der Empfehlungen des Bundesberichts von 1983. In der Öffentlichkeit fanden diese Anliegen der Jenischen, über die seit 1972 immer wieder informiert worden war, ein breites Echo.

Das EDI, in dessen Zuständigkeit u.a. auch die Stiftungsaufsicht über die Pro Juventute liegt, verfügte aufgrund einer Aufsichtsbeschwerde von Rechtsanwalt Frischknecht vom 29. Mai 1986, die Akten des "Hilfswerks" unter Verschluss zu nehmen und zu versiegeln.

Am 3. Juni 1986, anlässlich der Nationalratsdebatte über den Geschäftsbericht des Bundesrats, entschuldigte sich Bundespräsident Alfons Egli dafür, dass der Bund das "Hilfswerk" mitfinanziert hat. Gleichzeitig hielt er jedoch fest, dass das "betrübliche Kapitel" der Aktivitäten des "Hilfswerks" "unter der Ägide der Pro Juventute" und "im Auftrag oder nach Wunsch der Kantone" durchgeführt worden seien. (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Sommersession 1986, Bern 1986, p. 559)

Im Herbst 1986 hat sich dann die eingangs erwähnte "Arbeitsgruppe Kinder der Landstrasse", bestehend aus Vertretern des EDI, der Kantone Graubünden, Tessin, St.Gallen und Zürich sowie Rechtsanwalt Stefan Frischknecht als Vertreter der Betroffenen konstituiert, um über den weiteren Verbleib der "Hilfswerk"-Akten und den Umgang mit denselben zu beraten. Die Jenischen, um deren Rechtswahrung es dabei in erster Linie geht, sind bei diesem Prozedere nicht direkt vertreten, ebensowenig wie die Pro Juventute, deren Rechtsanwalt Benno Schneider allerdings seit kurzem auch in die Arbeitsgruppe aufgenommen worden ist.

Im gleichen Zeitraum hat sich die Stiftung "Naschet Jenische" mit Sitz in St.Gallen konstituiert. Ursprünglich hätte deren Stiftungszweck neben der Entgegennahme und Weitergabe von Wiedergutmachungsgeldern die Aufbewahrung und Aufarbeitung aller "Hilfswerk"-Akten sein sollen. Die Vereinbarung zur Aktenaufbewahrung und das Reglement zur Akteneinsicht, welche die "Arbeitsgruppe Kinder der Landstrasse" erarbeitete und nun den Kantonen zur Vernehmlassung zugehen lässt, zeugt demnach von grosser Kompromissbereitschaft der durch Rechtsanwalt Frischknecht vertretenen Betroffenen im Umkreis der Stiftung "Naschet Jenische". Sie bestehen nur noch auf der Übernahme derjenigen Akten des "Hilfswerks", die keinesfalls als Vormundschaftsakten gelten können, sind jedoch auch da zu Konzessionen bereit.

Andere vom "Hilfswerk" direkt betroffene Jenische organisierten sich Ende 1986 im "Verein Kinder der Landstrasse" und opponierten gegen Zusammensetzung und Vorgehen der "Arbeitsgruppe Kinder der Landstrasse".

Ein sinnvoller Aktenaufbewahrungsmodus und eine Regelung der Akteneinsicht, die im Sinn des Berichts der Studienkommission von 1983 die Wahrnehmung der persönlichen Interessen der betroffenen Jenischen sowie die wissenschaftliche Sichtung im Dienst des öffentlichen Interesses an offener und umfassender Information über dieses "betrübliche Kapitel" (Bundespräsident Egli) der neueren Schweizergeschichte ermöglichen, sind zur Wahrung der Rechtsansprüche der Betroffenen sowie der Ehre und des Ansehens der Schweiz unumgänglich.


V. AUSBLICK

Die Schweiz verdankt ihre harmonische Entwicklung der Einsicht in die Notwendigkeit der kulturellen Vielfalt unserers demokratischen Rechtsstaats. Wo diese Notwendigkeit auf konfessionellem oder auf macht- oder sozialpolitischem Gebiet nicht respektiert wurde, da war die Schweiz vor Konflikten nicht gefeit, die bis zum Bürgerkrieg führten. Wo aber solche Konflikte unter Respektierung der Rechte auch von machtpolitisch weit unterlegenen Minderheiten auf mitunter sehr innovative guteidgenössische Art geregelt wurden, sei das mit der Halbierung ganzer bzw. der Schaffung neuer Kantone oder auch mit der Anerkennung verschiedener Landessprachen, da hat die Schweiz auf dem Gebiet der innerstaatlichen Konfliktregelung Vorbildliches geleistet.

Es ist zu hoffen, dass auch der uralte Kulturkonflikt zwischen Fahrenden und Sesshaften in der Schweiz zu solchen Regelungen führt, und zwar sowohl im Hinblick auf die persönliche, juristische, politische und wissenschaftliche Aufarbeitung des Vergangenen als auch im Hinblick auf die Anerkennung der Jenischen als eigenständiger und gleichberechtigter Bevölkerungsgruppe in Gegenwart und Zukunft der Schweiz.



Zürich, Sechseläutenmontag, 27. April 1987

Thomas Huonker

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