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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Die Lage der Roma im 19. und 20.Jahrhundert:
Von der Registrierung zum Holocaust


Die nach den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 modernisierten europäischen Länder begannen damit, eine Berufspolizei aufzubauen. Die ersten Polizisten hiessen Landjäger, und ihre Hauptaufgabe war die Überwachung, Kontrolle und Vertreibung der “Landstreicher“, „Landfahrer" und "Zigeuner".

Im 19. und 20. Jahrhundert wurden den Roma Kinder zwecks Umerziehung weggenommen und in vielen Ländern wurden neue Vorschriften gegen sie erlassen. Zudem legten die Polizeien aller Länder genaue Zigeunerregister an.

Die jahrhundertelange Verfolgung der Roma fand ihren schrecklichen Höhepunkt unter Hitler im Massenmord an rund 600'000 Roma aus Deutschland, Österreich, Frankreich, den Niederlanden und vor allem aus den besetzten Gebieten Osteuropas unter Hitler.

Die Sinti, Roma und Jenischen waren in Deutschland und Österreich wie auch in Frankreich oder der Schweiz, schon seit dem 19. Jahrhundert unter genaue polizeiliche Kontrolle gestellt worden. Sie wurden polizeilich fotografiert und registriert. Im 20. Jahrhundert wurden die Kontrollen durch die Abnahme der Fingerabdrücke, auch bei Kindern und Jugendlichen, vervollständigt. Nach der Machtübernahme durch die Faschisten unter Mussolini in Italien (1922) und der Nationalsozialisten unter Hitler in Deutschland (1933) wurden die polizeilichen Massnahmen verschärft. Aus Italien wurden die Roma ab 1926 systematisch vertrieben; während des Zweiten Weltkrieges wurden die Verbliebenen in Lager gesperrt, wo viele verhungerten.

In Deutschland wurden die Sinti, Roma und Jenischen unter der Bezeichnung „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ parallel zum Vorgehen gegen die Juden immer stärker verfolgt. Dr. Robert Ritter und andere Wissenschaftler der Nazizeit lieferten die Rechtfertigungstheorie, wonach „Zigeuner“ „erblich minderwertig“ und „asozial“ seien. Sie wurden in Wohnwagenlager am Rand der grossen Städte gesperrt, die sie nur mit Erlaubnis der Bewacher verlassen durften. Viele kamen schon ab 1933 in Konzentrationslagern wie Dachau oder Sachsenhausen ums Leben.

Sinti in Dachau

Zu Beginn des Krieges kam es 1939 in Polen, zusammen mit Massenmorden an Juden und Polen, auch zu Massentötungen von Roma. 1940 wurden die Sinti Südwestdeutschlands ins besetzte Polen abtransportiert und mitten im Winter in freiem Gelände ohne Unterkünfte abgesetzt. Ab Sommer 1941 erschossen die Truppen Hitlers in Russland und in anderen besetzten Staaten Osteuropas Millionen von Juden, Behinderten, Roma und Angehörigen der slawischen Völker. Die nationalsozialistische Rassenlehre lieferte die Rechtfertigung für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Alle diese Gruppen seien minderwertige „Untermenschen“. Sie müssten ausgemerzt werden, damit dem deutschen „Herrenvolk“ mehr Lebensraum zur Verfügung stehe. Ab 1942 nahmen die Vernichtungslager in Auschwitz, Sobibor, Treblinka und an anderen Orten ihren mörderischen Betrieb auf.

In Auschwitz wurde das spezielle „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau errichtet. Über zwanzigtausend Roma aus Deutschland, der Tschechoslowakei, Ungarn, Frankreich, Holland und vielen anderen Ländern wurden dorthin transportiert. Die meisten verhungerten, starben an den Misshandlungen oder wurden vergast. Einige, die als Arbeitsfähige zur Zwangsarbeit in Rüstungsfabriken abkommandiert wurden, überlebten. Dr. Mengele, der Anstaltsarzt von Auschwitz, führte viele seiner grausamen Menschenexperimente an Roma-Kindern durch. Andere Sinti und Roma wurden bei Experimenten für die Luftwaffe umgebracht.

Eine Überlebende berichtet

Die Auschwitz-Überlebende Maria Peter berichtet:
„Meine Kindheit habe ich in Dortmund verbracht, dort bin ich auch zur Schule gegangen. Mein Vater war Geigenbauer, er hatte ein eigenes Geschäft, in dem er Musikinstrumente reparierte und verkaufte. Ich erinnere mich noch genau an meine Verhaftung, es war der 7.März 1943. Unten stand bereits ein Lastwagen. Unter Bewachung sind wir dann zum Güterbahnhof nach Bochum gebracht worden. Dort stand bereits ein Zug mit Viehwaggons. Hunderte von Sinti standen vor den offenen Waggons. Wir waren zweieinhalb Tage unterwegs. Mitten in der Nacht sind wir dann in Auschwitz angekommen, die ganze Familie, meine Eltern, meine Brüder Eduard und Josef, die aus der Wehrmacht entlassen wurden, meine drei Schwestern Antonia, Josefine, Katharina und ihre Männer und die Kinder der Familien.

Wir kamen zu den Baracken und wurden da reingequetscht. Gegen Morgen erhielten wir aus grossen Fässern Tee. Ich trank meinen Tee draussen vor der Baracke, dort sah ich - es war das erste Mal, dass ich so etwas Schreckliches sah, ich werde es nie vergessen - einen Haufen aufgeschichteter nackter, toter Menschen. Der Anblick der Toten hat mich so in Schrecken versetzt, dass ich in die Baracke zurückeilte.

In Birkenau mussten wir alle Sklavenarbeit machen, ich musste dort beim Bau der Wege und Strassen arbeiten und hatte hierfür die schweren Steine herbeizutragen. Meine Schwägerin und ihre drei Kinder sind dort an Typhus erkrankt, sie sind dann im Krankenblock gestorben. Danach ist der Mann meiner Schwester Josefine an einer schweren Lungenentzündung gestorben. Und dann starb das erste Kind meiner Schwester, und nach und nach starben auch andere Angehörige unserer Familie. Meine Schwester Josefine Steinbach hatte neun Kinder. Ich kann heute noch nicht begreifen, dass die anderen acht Kinder all das überlebt haben, bis sie alle im August 1944 vergast wurden. Auch meine Mutter ist in Auschwitz geblieben. Mein Vater und meine Schwester Antonia sind auch in Auschwitz gestorben.

In Birkenau war ich zuletzt im Kinderblock, das war die letzte Baracke, wenn man nach Birkenau hineinkam, hinten, ganz links, sie war extra für die Kinder da. Ich musste tagsüber auf die Kinder aufpassen und mittags das Essen an sie austeilen. Die Kinder haben dauernd geweint, weil sie nichts zu essen bekommen haben. Ich habe gesehen, wie der SS-Mann7 König der Schwester des Blockältesten8 eine Kiste voll mit Lebensmitteln gab. Und die Kinder bekamen nichts zu essen! Also habe ich mich beschwert. Es dauerte dann nicht lange, bis der Blockälteste kam und meine Nummer aufrief.9 Ich musste in die Schreibstube gehen, da stand schon der SS-Mann König breitbeinig, eine Hand in der Jacke, in der anderen eine mit Leder überzogene Peitsche. König brachte mich dann in eine andere Baracke. Auf seinen Befehl hin musste ich mich nackt ausziehen und einen nassen Badeanzug für Männer aus einem Bottich mit einer dunklen Flüssigkeit holen und anziehen. Ich musste mich auf den Bock10 legen und dabei zählen. Ich habe wohl bis sieben gezählt, das weiss ich noch ganz genau, so als sei es eben erst geschehen. Ich habe gezählt und gezählt, dann habe ich die Stockschläge erhalten, ich musste immer weiter zählen, und abwechselnd habe ich gezählt und vor Schmerzen geschrieen. Ich dachte, dass ich nicht überleben werde. Während er so auf mich einschlug, sagte er zu mir - diese Worte werde ich mein Leben lang nicht vergessen: „Du verreckst in meinen Händen.“ Ich werde diese Worte niemals vergessen. Ich erinnere mich auch an einen grossen Transport mit osteuropäischen Roma, der nach Birkenau gekommen ist. Sie hatten Gepäck dabei und jede Menge zu essen. Sie kamen zu uns ins Lager. Noch am selben Tag, an dem sie gekommen waren, kamen Lastwagen und holten sie ab. Sie wurden vergast und verbrannt.

Erinnern kann ich mich auch an zwei Sinti, die einen Fluchtversuch unternommen hatten. Einen hatten sie erschossen. Sie hatten den Toten auf eine Bahre gelegt, nur mit einem Stück Tuch bedeckt, aus dem ein Loch herausgeschnitten war, damit man sehen konnte, dass er durch einen Bauchschuss getötet worden war. Man hatte den Toten durch alle Baracken getragen, damit jeder sehen sollte, dass jeder Fluchtversuch so enden würde. Der andere Häftling, der den Fluchtversuch unternommen hatte, wurde noch am selben Tag erhängt. Alles, was ich damals erlebt habe, kann ich nicht vergessen, bis auf den heutigen Tag. Regelmässig habe ich nachts Alpträume, dann träume ich von all dem Schrecklichen, das ich in Auschwitz und anderswo erlebt habe, ich wache dann mitten in der Nacht aus meinen Träumen auf und zittere am ganzen Körper.“

Ab den 60er- und 70er-Jahren, also zwanzig oder dreissig Jahre später, haben die Ueberlebenden des Holocaust so genannte Wiedergutmachungszahlungen für ihre Qualen erhalten. Auch die Prozesse gegen die Täter verzögerten sich teilweise bis in die 80er-Jahre. Die Hauptfiguren Hitlerdeutschlands, die unmittelbar nach dem Krieg in Nürnberg abgeurteilt und teilweise mit dem Tod bestraft wurden, waren die Befehlserteiler gewesen; durchgeführt wurden die grausamen Tötungen von Zehntausenden von Untergebenen.

Viele SS-Kriegsverbrecher, darunter der Lagerarzt Dr. Mengele, blieben unbestraft. Den Opfern des Holocaust, auch den Überlebenden, wurden alle Vermögenswerte abgenommen, Häuser, Möbel, Geld, Schmuck, Ohr- und Eheringe. Den Toten wurden die Goldplomben aus den Kiefern gebrochen. Das Gold wurde in Barren umgeschmolzen. Teile dieses Opfergoldes sind auch in die Schweiz gelangt, als Bezahlung für kriegswichtige Rohstoffe und Waffen, welche Schweizer Firmen an Hitlerdeutschland lieferten.

1998 hat sich die Schweiz auf internationalen Druck hin bereit erklärt, den überlebenden Holocaust-Opfern und ihren Nachkommen insgesamt anderthalb Milliarden Franken zurückzuzahlen.


7Die Konzentrations- und Vernichtungslager wurden von der SS, der so genannten Schutzstaffel, betrieben. Das war eine bewaffnete Polizeitruppe unter dem Oberbefehl von Heinrich Himmler, die speziell auf die Ideen der Nationalsozialisten eingeschworen war.

8In den Konzentrationslagern hatten die so genannten Blockältesten, Capos und Funktionshäftlinge, die selber Lagerinsassen waren, eine schwierige Stellung. Sie wurden gezwungen, an der Vernichtung ihrer Mithäftlinge und am Betrieb des Lagers mitzuwirken. Viele von ihnen suchten für sich selber Vorteile herauszuschinden, andere halben ihren Mithäftlingen, soweit das möglich war.

9Die meisten Häftlinge von Auschwitz wurden nummeriert; ihre Nummer wurde in den Unterarm eintätowiert. Es gab auch Ober der Vernichtungslager, die nicht mit Namen und Nummer registriert, sondern direkt in die Vergasungsräume geführt wurden.

10Eine Holzkonstruktion zum Vollzug von Prügelstrafen


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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen