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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Jahrhunderte der Verfolgung
(15.-18.Jahrhundert)
Sobald sich die anfängliche Faszination durch die Eigenart und die besonderen Darbietungen und Dienstleistungen der Fremden gelegt hatte und die Roma sich irgendwo bleibend niederlassen wollten, machten die Alteingesessenen Schwierigkeiten. Aus der Verschiedenheit von Sprachen und Bräuchen heraus, aber auch, weil einige ihrer Berufe - vor allem die Herstellung und Reparatur von Rüstungen und Waffen und die Tätigkeit als Kesselschmiede - das in Zünften gut organisierte einheimische Gewerbe konkurrenzierten, wurden die Roma zu Sündenböcken und zum Feindbild gemacht.

Es gab keinen Platz für sie in der spätmittelalterlichen Ständegesellschaft, die sehr streng und starr nach Berufen und sozialer Rangordnung eingeteilt war. Sie galten als „herrenloses Gesindel“.

Es wurden Verdächtigungen und Anklagen gegen sie erhoben, sie seien ungetaufte Heiden und Spione der muslimischen Türken, Hexer und Hexen oder allesamt Diebe und Mörder. Solche generellen Verdächtigungen und Anklagen wurden, ähnlich wie in den Hexenprozessen der Inquisition, durch auf der Folter erpresste Geständnisse einzelner Roma gerichtlich „bewiesen“.

Dieses grausame Verfahren diente in den folgenden Jahrhunderten in allen europäischen Ländern als Vorwand, die Roma gnadenlos zu verfolgen.

Warntafeln an den Landesgrenzen verkündeten in bildlicher Darstellung die "Zigeiner-Straff" (“Zigeuner-Strafe“): Zum erstenmal aufgegriffen, wurden sie ausgepeitscht, mit Brandeisen gebrandmarkt und des Landes verwiesen. Wurden sie ein zweites Mal innerhalb der Landesgrenzen aufgespürt, wurden sie ohne weiteres Gerichtsverfahren aufgehängt oder gerädert.

Die Verfolgung traf in gleicher Grausamkeit auch die Fahrenden, die nicht aus Indien eingewandert sind, sondern seit jeher in Europa als Nomaden von ihren Wanderberufen lebten und schon in Quellen aus dem frühen Mittelalter erwähnt sind. So hat der Gerichtshof von Paris 1539 auf der Grundlage eines Gesetzes gegen die Landstreicherei, das im Jahr 1350 erlassen worden war, also vor der Ankunft der Roma in Frankreich, ihre Vertreibung verfügt.

Es gibt auch Erlasse aus mehreren Ländern, so etwa einen Beschluss aus Bayern vom Jahr 1516, womit die Fahrenden für vogelfrei erklärt wurden. Das bedeutet, dass jedermann, ohne irgendein gerichtliches Verfahren als Rechtfertigung, die Erlaubnis hatte, Roma umzubringen; gerichtliche Verfahren und Strafen gegen solche Morde an Angehörigen einer als fremd und heidnisch verteufelten Volksgruppe gab es keine. Es ist noch nicht erforscht, wie viele Tote diese "Lizenz zum Töten" zur Folge hatte.

Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wurden männliche Roma, einzig wegen der Zugehörigkeit zum unerwünschten Wandervolk, ohne dass gegen sie der gerichtliche Nachweis irgendeines Verbrechens zu erbringen war , zusammen mit anderen Gefangenen - neben Kriminellen auch Kriegsgefangene und verfolgte Andersgläubige - als Rudersklaven auf den Kriegsgaleeren Frankreichs eingesetzt. Dabei war die Sterblichkeit sehr hoch. Die Roma-Frauen wurden ausgepeitscht und kahl geschoren, die Kinder in Arbeitshäuser eingesperrt.

Auf die Galeeren!
Aus dem Erlass des französischen Königs Louis XIV. (1682):
„Darum machen wir es unseren Landeshauptmännern zur Pflicht, alle, die sich Bohémiens oder Egyptiens nennen und ihre Frauen und Kinder festzunehmen oder festnehmen zu lassen, die Männer an die Kette der Verbrecher fesseln zu lassen, damit sie auf unsere Galeeren gebracht werden und dort lebenslänglich dienen. Bezüglich der Frauen und Mädchen ordnen wir an, dass sie das erste Mal, da man sie dabei antrifft, dass sie das Leben von Bohémiens führen, kahl zu scheren, und bezüglich der Kinder, sie soweit sie nicht imstande sind, auf unseren Galeeren zu dienen, in die nächsten Armenhäuser zu bringen, damit sie dort verpflegt und auferzogen werden wie die dort eingesperrten anderen Kinder. Falls die besagten Frauen fortfahren zu vagabundieren und als Bohémiens zu leben, befehlen wir, sie auszupeitschen und des Königreichs zu verweisen, das ganze ohne alle Form rechtens.“

Der Zürcher Dominikanermönch Felix Fabri, der 1483 nach Jerusalem gepilgert war, schildert das Los venezianischer Galeerensklaven so: „Auf der untersten Stufe der Schiffsrangordnung stehen die Galeotae oder Galeoti, die Ruderknechte, die auf den Querbänken sitzen und die Ruder handhaben. Es gibt viele, und alle sind robust, sie haben die Eselsarbeiten auf dem Schiff zu verrichten, zu denen sie mit Geschrei, Peitschenhieben und Flüchen angetrieben werden. Diese Galeoten sind meistens von den Kapitänen gekaufte Sklaven, andere gehören dem niedersten Stand an, Kriegsgefangene, Landflüchtige, Vertriebene oder Heimatlose befinden sich darunter.“

Auch in Spanien kamen die Gitanos auf die Galeeren. Lebten sie als wandernde Nomaden, konnten sie gemäss einem Befehl von König Carlos II. aus dem Jahr 1695 zum Tod verurteilt werden. König Felipe V. erliess am 17. September 1749 den Befehl, nomadisch lebenden Gitanos seien die Augen auszustechen.

Schon im 17., vor allem aber im 18. und 19. Jahrhundert, deportierten die Kolonialmächte Roma und andere Nichtsesshafte zusammen mit Sträflingen in ihre Kolonien: Portugal nach Brasilien und Angola, Spanien nach Südamerika, England und Frankreich nach Nordamerika, in die Karibik, nach Australien und nach Nordafrika. Die Leiden der unter erniedrigenden und unhygienischen Bedingungen per Schiff Abtransportierten, die unfreiwillig in eine unbekannte Umwelt verpflanzt wurden, waren dabei gross. Zudem waren die neuen Einwohner aus Europa auch eine schwere Bedrohung für die Weiterexistenz der Ureinwohner in den Kolonien.

Die meisten überlebenden Roma blieben auch in den neuen Kontinenten bei ihrer Sprache, Kultur und Lebensweise. Deshalb gibt es seitdem auch in Amerika und Australien viele Roma.

Länder, die weder Kolonien noch Galeeren hatten, verkauften die unerwünschten Personen, Nichtsesshafte ebenso wie überführte Verbrecher, an die Grossmächte, die Schweiz vor allem an Frankreich. Deshalb gingen auch Schweizer Fahrende auf französischen Galeeren zugrunde oder wurden in französische, englische, spanische oder portugiesische Kolonien deportiert.

Immer wieder wurde versucht, die Roma zwangsweise, durch Sprach- und Heiratsverbote, Kindswegnahmen, Einsperrung und Zwangsarbeit, von ihrer Tradition und Lebensweise abzubringen und sie zu gleichgeschalteten Untertanen zu machen.
Kaiserin Maria Theresia von Österreich und ihr Sohn und Nachfolger, Kaiser Josef II., erliessen dementsprechende Gesetze. Am 27. November 1767 befahl Maria Theresia, dass die Kinder den Zigeunern weggenommen und bei Bürgern und Bauern in Erziehung gegeben werden sollten. Die Pflegeeltern erhielten Geld für die Bekleidung und Beköstigung der Kinder, die bei ihnen arbeiten mussten. Die Heirat zwischen Roma wurde verboten, dafür erhielt jedes Roma-Mädchen, welches einen Gadjo „niedrigen Standes“ heiratete, eine Aussteuer von 50 Gulden. Josef II. verbot 1783 den Gebrauch des Romanes. Wer beim Gebrauch seiner Sprache ertappt wurde, erhielt 24 Stockschläge. Josef II. erneuerte das Eheverbot zwischen Roma.

Ähnliche Gesetze zur zwangsweisen Anpassung an die übrige Bevölkerung erliess Carlos III. 1783 in Spanien. Er schaffte zwar die Todesstrafe und das Augenausstechen ab und erklärte die Gitanos für gleichberechtigte Spanier. Doch auch er verbot den Gitanos das Nomadisieren, den Gebrauch der eigenen Sprache, den Pferdehandel und das Musizieren in Restaurants.

In Rumänien wurden viele Roma, soweit sie nicht in die Berge flüchten konnten, zu Leibeigenen und Sklaven gemacht. Die Versklavung der Roma in Rumänien als Bergwerksarbeiter oder Arbeitskräfte für die Grossgrundbesitzer war gesetzlich festgelegt und wurde erst im Jahr 1856 formell aufgehoben.

Ein Reisebericht aus Rumänien schildert 1856 das Elend der Zigeuner:

„Am Morgen rief sie der Verwalter des Grundherrn mit der Peitsche in der Hand zusammen, um ihnen die Tagesarbeit zuzuteilen. Es war ein herzzerreissender Anblick: Eine Schar übelriechender, abgezehrter, vor Kälte zitternder Gestalten, auf welche der Verwalter zu seinem Vergnügen oder um dem vom Fenster herabblickenden Herrn seinen Eifer zu beweisen, unbarmherzig mit der Peitsche einschlug.“

Die Fahrenden wehrten sich, so gut sie konnten. Sie flohen von Grenze zu Grenze und zogen sich in unwegsame Gebiete wie Sümpfe und Gebirge zurück, wo sie entweder als Wilderer, Vogelfänger, Korber und Beerensammler ein karges, naturnahes Leben fristeten oder aber als bewaffnete Strassenräuber wirklich so zu leben begannen, wie man es ihnen vorwarf.

Nich nur die Fahrenden, sondern auch Teile der einheimischen, sesshaften Bevölkerung lebten in einem fast ausweglosen Zwiespalt. Einerseits mussten sie sich den an sie gestellten Forderungen ihrer feudalen Herren unterwerfen, andererseits regte sich in ihrem Inneren Widerstand; zu den berühmten Räuberhäuptlingen des 18. und frühen 19.Jahrhunderts zählen so, neben dem als "Hannikel" bekannt gewordenen Sinto Jacob Reinhardt, auch der „Schinderhannes“, Rinaldo Rinaldini und andere Figuren.

Die blutigen Verfolgungen der Roma trafen auch im 18. Jahrhundert keineswegs nur Kriminielle unter den Fahrenden, sondern auch Frauen, Kinder und sogar Säuglinge. Das empfanden im Jahrhundert der Aufklärung allmählich selbst die zuständigen Amtspersonen als zu brutal.

So schrieb der Amtmann von Leiningen im Jahr 1760 über das Vorgehen von Dorfmiliz und Bauern gegen eine Gruppe von Sinti in der Grafschaft Falkenburg:

„Die Hütten, worinnen die Weiber und Kinder lagen, wurden von Bauern und Milizen gestürmt und die Weiber und Kinder mit Bajonetten und Gabeln jämmerlich zerstochen und zerschlagen. Ein Bübchen von 7 bis 8 Jahren ist dergestalt übel zugerichtet worden, dass solches, als es vom Schlachtfeld weg und nach Hofstetten gebracht werden sollte, unterwegs seinen Geist aufgegeben. Auch eine Frau ist an den vielen Wunden gestorben. Nach Aussagen der Untertanen soll in einer Hütte, welche angezündet worden, eine Frau mit zwei Kindern lebendig verbrannt worden sein. Der Schultheiss soll beständig gerufen haben: Steche tot, schlage tot. Die Hütten wurden geplündert. Der erbarmungswürdige Zustand dieser eingebrachten Zigeunerleute, deren 26 an der Zahl sein sollen, ist nicht genugsam zu beschreiben. Die mehrsten von diesen eingebrachten Gefangenen, auch die Kinder und sogar die Kindbettkinder, sollen zum Teil schwer blessiert und darunter einer Frau zwei Rippen im Leibe entzwei sein. Diese liegen nun in der Gemeindestube elendiglich beisammen, ohne dass sich noch jemand um sie oder ihrer Blessuren bekümmert oder nachfragt. Wer noch ein menschliches Gefühl hat, muss sich über das Elend dieser armseligen und übel zugerichteten Menschen erbarmen. Es sind Zigeuner, aber es sind auch Menschen.“
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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Für weitere Quellentexte zur Verfolgungsgeschichte der Roma in diesem Zeitraum in der Schweiz, nämlich die diesbezüglichen Auszüge aus den Beschlüssen der obersten Behörde der alten Eidgenossenschaft, der Tagsatzung, klicken sie hier.