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Zwischen Gutenberg und Internet  Vor zweihundert Jahren erfand Aloys Senefelder die Lithographie
  Noch vor der Fotografie, dem Fernsehen und dem Computer
  revolutionierte die Lithographie die Bildwelt der abendländischen Kultur.
  Hatte Gutenbergs Buchdruck ab dem 15. Jahrhundert einer vormals ungeahnten
  Textflut alle Schleusen geöffnet, prägte Aloys Senefelders Erfindung des
  Steindrucks das grafische Gesicht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
  
VON THOMAS HUONKER
Die Erfindung der Lithographie im Jahre 1796 war das Ergebnis einer
  erstaunlichen Konstellation. Aloys Senefelder wuchs in einer wandernden
  Schauspielerfamilie auf. Naheliegenderweise versuchte sich der heranwachsende
  Theatermann auch im Schreiben eigener Stücke. Sein Drama "Die Mädchenkenner"
  wurde 1792, als er gerade 21jährig war, am Münchner Hoftheater aufgeführt,
  allerdings mit wenig Erfolg, und für weitere Werke suchte Senefelder
  vergeblich Verlag oder Drucker. So schritt er zum Eigendruck - und ging als
  innovativer Quereinsteiger derart kreativ ans Werk, dass er binnen kurzem
  bisherige Engpässe des Druckgewerbes dauerhaft durchbrach. Senefelders
  Erfindungen brachten Grafik und Buchstaben auf derselben Druckvorlage
  zusammen, und das bei bisher unerreichter Auflagenhöhe.
Mozart und Muschelkalk Musiker waren zur Verbreitung ihrer Kompositionen lange auf
  handschriftliche Kopien oder auf den Kupferstich angewiesen. Der Kupferstich
  ist eine umständliche Technik mit widerständigem Material und lässt nur kleine
  Auflagen zu.
Einer der allerersten erhaltenen lithographischen Drucke Senefelders
  ist eine Art multimedialer Bänkelsang: Liedtext, Noten und Bild zum
  schrecklichen Brand von Neuötting. Schnell erkannten Musikalienhändler die
  günstigeren Kosten der neuen Technik. Ab 1799, in Zusammenarbeit mit Johann
  Anton André in Offenbach, druckte Senefelder den Nachlass Mozarts im
  Steindruck.
Vor Senefelders Erfindung bezeichnete der Begriff Lithographie in der
  mineralogischen Wissenschaft die Muster versteinerter Tiere und Pflanzen,
  gerade auch im Kalkstein aus dem bayrischen Solnhofen. Dorther hatte sich
  Senefelder seine ersten Drucksteine geholt, und der Solnhofener Kalk ist bis
  heute der beste Druckstein geblieben. Das Verfahren der Lithographie beruht
  auf der Abstossung von Fett und Wasser. Mit Fettkreide oder fetthaltiger
  Tusche lassen sich die zu druckenden Flächen, Linien oder Halbtöne mit
  leichter Hand auf den plangeschliffenen Stein auftragen, ähnlich wie auf
  Papier. Hernach wird die Zeichnung in den Stein eingeätzt. Anschliessend
  durchläuft die Oberfläche des Steins ein je nach Vorlage und erwünschtem
  Effekt variierendes Wechselbad in Wasser, Terpentin, Asphalttinktur und Gummi
  arabicum, dem Saft tropischer Akazien. Dies alles ermöglicht schliesslich den
  detailgetreuen Auftrag von ebenfalls fettiger Druckfarbe auf die Zeichnung des
  Drucksteins mittels einer Walze. Die lebendig wirkende, feinkörnige, strich-
  und tongenaue Wiedergabe bleibt auch bei tausend und mehr Abzügen
  erhalten.
Geburtshelferin der Reklame Die Leichtigkeit der Zeichnung auf dem polierten Stein erlaubt die
  rasche Wiedergabe jeglicher grafischer Darstellung in grosser Auflage und in
  grossen Formaten: Musiknoten, Landkarten, Pläne, Bilder aller Art - und dies
  schon ab 1809 auch in Farbe. Erst die Lithographie erschloss dem grafischen
  Druckgewerbe Riesenformate bis zum Plakat.
Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als der Offsetdruck
  aufkam, blieb das Plakat eine Domäne der Lithographie. Sie war eine
  Geburtshelferin der Reklame. Der industrielle Steindruck war auch die
  Voraussetzung für die ersten buntbedruckten Verpackungskartons, die seitdem
  die Konsumgesellschaft beglücken.
Nahezu jede gute Stube zwischen der Mitte des 19. und des 20.
  Jahrhunderts prunkte mit den Massenprodukten dieser ersten industriellen
  Bilderproduktion. Aus den Beständen von Antiquariaten und Brockenhäusern, aber
  auch aus der Erinnerung an die Interieurs der Grosseltern oder Urgrosseltern
  sind diese lithographischen Verkaufsschlager nicht mehr wegzudenken: die
  röhrenden Hirsche, betenden Hände, guten Hirten, Alpenlandschaften und
  Porträts der Obrigkeiten. Lithographien sind ebenso die frühen Postkarten, die
  bunten Heiligenbildchen und die farbigen Illustrationen der pompösen Lexika
  und Lehrbücher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die erste Fichen-Sammlung Nièpce und Daguerre, die Väter der Fotografie, absolvierten ihre
  Lehrjahre in lithographischen Betrieben. Lange blieb die Lithographie eine
  Patin der Fotografie. Die erste breitangelegte Fichen-Sammlung des jungen
  Bundesstaates Schweiz war die 1853 fertiggestellte bundespolizeiliche
  Fotodokumentation aller zwangseingebürgerten Fahrenden. Damit die Porträts der
  zu kontrollierenden Neubürger rasch genug und in grosser Auflage an alle
  zuständigen Kantonsstellen gelangen konnten, wurden die Fotografien auf
  Lithographenstein umgezeichnet und gedruckt.
Auch die Malerei und Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts stehen in
  Wechselwirkung mit der Lithographie. Der 73jährige, nahezu taube Goya machte
  ab 1819 Bekanntschaft mit Pionieren der Lithographie in Spanien und
  Frankreich. Seine seltenen Steindrucke zeigen Tanz-, Duell- und
  Stierkampfszenen; es sind Glanzlichter seines Alterswerks. Daumiers
  Karikaturen sind heute noch gültige Dokumente sozialkritischer
  physiognomischer Wahrnehmung. Aber gerade der riesige Erfolg, den Daumiers
  schnell lithographierte Karikaturen als bissige Kommentare zur Tagesaktualität
  hatten, hinderte ihn an der Entfaltung seiner von den Zeitgenossen verkannten
  Malkunst.
Der schnelle Niedergang Uneingeschränkt schwelgte erst der Jugendstil in der hochentwickelten
  Farblithographie zu Ende des 19. Jahrhunderts. Damals rollten enorme Steine in
  Hunderten von riesigen Schnellpressen hin und her. Die lithographierten
  Plakate sind nicht nur von der Verbreitung, sondern auch von der Gestaltung
  her wichtige Schwerpunkte im Werk von Toulouse-Lautrec oder Alfons Mucha.
  
Der Niedergang der industriellen Lithographie kam mit dem
  Offsetdruck. Fast alle Steindrucker verloren ihre Jobs, die meisten Pressen
  wurden verschrottet, auserlesene Drucksteine verkamen zu
  Gemüsebeetumrandungen. Doch einige wenige verbleibende Steindruckateliers
  haben bis heute durchgehalten. Losgelöst vom industriellen Diktat des
  Massengeschmacks, wurde die Lithographie im 20. Jahrhundert zu einem
  grafischen Experimentierfeld persönlicher Gestaltung. Künstler wie Kandinsky,
  Kirchner, Picasso, Matisse oder Lichtenstein gaben der Lithographie neue
  Impulse.
In der Schweiz sind es Steindrucker wie Wolfensberger oder Nik
  Hausmann, die das Zusammenspiel von Kunst und Lithographie in Gang halten.
  Dank der fein abgestuften Halbtöne, dank der leuchtenden Mehrfarbigkeit der
  Abzüge und dank der Lebendigkeit des Strichs auf dem Stein wird die
  Lithographie auch weiterhin, neben neueren und neusten Techniken wie Siebdruck
  und Computergrafik, ein breites Spektrum von künstlerischem Ausdruck mitformen.
  Erschienen im Tages-Anzeiger, Zürich, 6. August 1996