Samstag, 25. Januar 2003 | |
Peter Paul Moser vom Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» entführt | |
Was mitten unter uns geschah | |
Thusis — Zum ersten Mal hat ein Jenischer seine eigene
Verfolgungsgeschichte aufgeschrieben. Peter Paul Moser aus Thusis
ahnte schon immer, dass etwas nicht stimmte. Als Primarschüler
erfuhr er per Zufall, wer er wirklich ist und woher er kommt, erst
mit 20 Jahren hat er seine leibliche Mutter gefunden. Jetzt hat er
seine ungewöhnliche Lebensgeschichte veröffentlicht. | |
Peter Paul Moser, 77 Jahre, verwitwet, Kinder: vier.
Hobbys: volkstümliche Musik, Film. Berufliche Tätigkeiten: konnte
keine Lehre machen, hat am längsten als Dachdecker
gearbeitet.
"Ich habe von klein auf gespürt, dass etwas nicht stimmt», sagt der heute 77-jährige Peter Paul Moser aus Thusis. Am Tag seiner Einschulung ist er dann auf einen ersten Hinweis betreffend seiner Herkunft gestossen. «Der Lehrer rief die Namen aller Kinder auf und wies jedem seinen Platz in den Bänken zu. So nannte er auch den Namen «Peter Moser». Ich wurde damals aber «Paul Koch» genannt, so dass ich am Schluss allein beim Lehrer vorne stand», erinnert er sich. Als er dann drei Jahre später per Zufall Einblick in seinen Heimatschein bekam, wusste er plötzlich woher er kam. «Die Sache liess mir keine Ruhe mehr. Ich wollte wissen wer meine leibliche Mutter ist und ob sie noch lebt.» Der erste Versuch des Primarschülers Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen verlief im Sand. Mit 13 Monaten geraubt Im Jahre 1926 gründete Pro Juventute in Zusammenarbeit mit den Vormundschaftsbehörden das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse». Vertreter des Bundes sowie der meisten Kantone und Gemeinden waren der Ansicht, dass es für die Kultur der Fahrenden in einem modernen Verwaltungsstaat keinen Platz mehr gäbe. Das Ziel war nicht etwa den vernachlässigten Kindern ein besseres Dasein zu ermöglichen, sondern die jenischen Kinder sesshaft zu machen. Nahezu ein halbes Jahrhundert lang wurden Familien auseinander gerissen. Sowohl den Eltern als auch den Kindern wurde der Aufenthalt der Angehörigen verheimlicht. Von 1926 bis 1973 wurden in der Schweiz insgesamt 619 Kinder entführt. Eines der ersten Kinder, das den Eltern weggenommen wurde, ist Peter Paul Moser. «Im Alter von 13 Monaten wurde ich entführt und ins Waisenhaus Obervaz gebracht. Mit zirka zwei Jahren kam ich in eine Pflegefamilie ins Luzerner Hinterland.» Plötzlich neun Geschwister Dort gab es zwar genug zu essen, aber noch mehr Schläge. Diese Tortur war als Erziehungsmethode gang und gäbe, so dass sich der kleine Bub damals damit abfand. Die meisten jenischen Kinder wurden den Eltern zum Umerziehen weggenommen, weil die Mentalität der Fahrenden nicht in die damalige Gesellschaft passte, so Moser. «Meine Eltern waren aber gar keine Fahrenden und die meisten Kinder wurden sowieso aus Häusern geholt.» Bevor Moser seine leibliche Mutter mit Hilfe eines Gemeindeschreibers fand, habe er sich immer Gedanken gemacht, wer er sei und woher er komme. Seine Nachforschungen waren 1946 erfolgreich und brachten eine gewisse Ironie des Schicksals an den Tag. «Meine Mutter wohnte nur 300 Meter entfernt von mir. Ich getraute mich aber zwei Jahre lang nicht, mich vorzustellen. Plötzlich hatte ich neun Geschwister — wie sollte ich mich da melden?». Schreiben zum Aufarbeiten Die ungewöhnliche Lebensgeschichte von Peter Paul Moser übersteigt normales Vorstellungsvermögen. Um sie und die diskriminierende Aktion «Kinder der Landstrasse» aufzuarbeiten, hat er alles zu Papier gebracht. Mit den drei Büchern «Entrissen und entwurzelt», «Die Ewigkeit beginnt im September» und «Rassendiskriminierung und Verfolgung während einer ganzen Generation» sind wertvolle Zeitdokumente entstanden. Moser: «Viele Menschen verschlossen die Augen vor dem, was mitten unter uns geschah. Auch heute müssen wir aufpassen, damit so etwas nicht mehr geschehen kann.»
Nähere Infos zu allen 3 Bänden von Paul Mosers Autobiografie Auszüge aus den Büchern von Peter Paul Moser Festrede zur Buchvernissage der ersten beiden Bände am 30. September 2000 in Thusis | |
|