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Festrede zur Buchvernissage der Autobiografie von Peter Paul Moser am 30. September 2000 in Thusis


Der Autor des Buches, dessen Erscheinen heute gefeiert wird, kam 1926 als Kind einer jenischen Grossfamilie zur Welt. Im gleichen Jahr 1926 hatte Dr. Alfred Siegfried, Mitarbeiter der Pro Juventute in Zürich, das sogenannte Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse gegründet, und drei Jahre später, 1929, hatte der Bundesrat den Gesamtplan des Hilfswerks gutgeheissen und dessen Subvention beschlossen.


Der Gesamtplan sah nichts anderes vor, als dass die namentlich aufgeführten jenischen Familien in der Schweiz stammbaummässig erfasst würden, und dass ihnen während der nächsten Jahrzehnte planmässig die Kinder weggenommen werden würden. Die Aktion sollte dazu dienen, die Kultur der Jenischen und den Zusammenhalt der jenischen Sippen zu zerstören. Sie traf sowohl fahrende wie sesshafte Jenische. Die Jenischen wurden, nachdem vorher Psychiater wie Jörger das angeblich wissenschaftlich bewiesen hatten, als „erblich minderwertige“ Menschen abqualifiziert. Ihre Kultur und Lebensweise wurde von Bundesrat und Pro-Juventute-Präsident Häberlin als „dunkler Fleck“ der Schweizer „Kulturordnung“ zur Ausrottung freigegeben. Die Kinder wurden planmässig in nicht-jenische Pflege- und Adoptivelternhäuser, hauptsächlich aber in Kinderheime und Erziehungsanstalten verbracht, um sie ihrer Kultur zu entfremden. Ihre Eltern wurden als Verbrecher und Asoziale bezeichnet, und wenn sie sich gegen die oft polizeilich und gewaltsam durchgeführten Kindswegnahmen wehrten, drohte ihnen die Einweisung in Arbeitsanstalten oder in die Psychiatrie.


Dr. Siegfried, der von seiner Stelle als Französischlehrer an einem Gymnasium in Basel entfernt wurde und gerichtlich verurteilt worden war, weil er ein pädophiles Verhältnis zu einem Schüler hatte, wurde in Zürich als Chef des sogenannten Hilfswerks Vormund von Hunderten von jenischen Kindern. Nicht nur Siegfried selbst wurde wegen Missbrauchs von Abhängigen verurteilt, sondern auch sein Nachfolger, Dr. Doebeli. Missbrauch an den jenischen Mündeln kam auch in den Pflegefamilien und Anstalten vor. Das sogenannte Hilfswerk musste seine Aktivitäten aber erst nach massiven Presseprotesten, angeführt vom Beobachter-Redaktor Hans Caprez, im Jahr 1973 beenden. Nahezu alle Protestschreiben und auch Gerichtsklagen der betroffenen Jenischen waren über Jahrzehnte hinweg von allen Instanzen, von den Gemeinde- und Kantonsbehörden bis zum Bundesrat und zum Bundesgericht, im Sinne der Pro Juventute abgelehnt und hintertrieben worden.


Es wird zur Beschönigung dieser gezielten rassistischen Kampagne gegen eine ethnische und kulturelle Minderheit gelegentlich darauf hingewiesen, dass die Fürsorgeinstanzen auch gegenüber andern Bevölkerungsgruppen, etwa ledigen Müttern und Einkommensschwachen, ähnliche Zwangsmassnahmen, von der Kindswegnahme über die Eheverhinderung bis zur Zwangssterilisation, angeordnet habe. Das trifft zu, macht die Sache aber nicht besser. Und es muss festgehalten werden, dass es gegen keine andere Bevölkerungsgruppe in der Schweiz einen klar definierten und subventionierten Gesamtplan zur systematischen Wegnahme möglichst aller Kinder der Gruppe zwecks Beseitung des Zusammenhalts, der Kultur und der Existenz dieser Gruppe gab.


Ich kenne Peter Paul Moser und seine Frau Heidi nun seit 14 Jahren. Ich habe eine kurze mündliche Fassung ihrer Lebensgeschichte in einem Buch veröffentlicht. Schon damals arbeitete Peter Paul Moser daran, seine Lebensgeschichte selber aufzuschreiben. Nach jahrelangen Protesten und Bemühungen erhielt er, wie die andern überlebenden Opfer des sogenannten Hilfswerks, Kopien der über ihn von der Pro Juventute angelegten Akten. Diese Akten stellen die Fälle aus der Sicht der Täter dar und strotzen nur so von übelsten Satzkonstruktionen voller Unterstellungen, Diffamierungen und Abwertungen. Die Aktenschreiber betrachteten die Jenischen von vornherein als minderwertig und geistesschwach, und alles wurde ihnen zum Negativen hin ausgelegt. Mit Hilfe solch diffamierender Akten wurde bei vielen Mündeln des sogenannten Hilfswerks, auch bei Peter Paul Moser, die Einlieferung in eine sehr brutal und hart geführte Jugendstrafanstalt, die Anstalt Bellechasse in Freiburg, betrieben. Ihre Versuche, beruflich und zwecks Gründung einer Familie eigene Wege zu gehen, wurden wo immer möglich im Keim zerstört, vor allem, wenn sich die weggenommenen jenischen Kinder als Jugendliche und Erwachsene daran machten, wieder Kontakt zu ihren jenischen Verwandten aufzunehmen.


Peter Paul Moser ist es aber, gegen alle Widerstände, gelungen, seinen Weg zurück in die jenische Kultur, die zerstört werden sollte, zu finden, und zusammen mit seiner Frau Heidi hat er sich auch als guter Familienvater und Grossvater bewährt.


Und nicht nur das.


Peter Paul Moser hat nicht lockergelassen damit, sein Leben so aufzuschreiben, wie es wirklich war, und er hat es auch fertiggebracht. In grosser Ehrlichkeit und mit viel Humor schildert er seine amtlich verpfuschte Jugend, und wie er Mittel und Wege fand, die Behauptungen Siegfrieds und der über ihn geführten Akten Lügen zu strafen. Er hat zur Publikation seines Buches unermüdlich, aber vergebens, Verlage angeschrieben und schliesslich das Buch, unterstützt vom Bundesamt für Kultur, dem Kanton Graubünden und anderen Gönnern, letztlich aber aus eigener zäher Kraft, selber so herausgegeben, wie es nun vor uns liegt. Das Buch ist Geschichtsschreibung von unten, ist ein unverfälschtes, authentisches Lebenszeugnis von historischer Bedeutung. Es steht in einer Reihe mit Büchern wie denen des Hirtenknaben Thomas Platter oder von Ulrich Bräker, dem armen Mann aus dem Toggenburg.


Es ist das Buch eines Autors, dem die meisten gar nicht zutrauten, dass er dieses Buch zustande bringen würden. Am allerwenigsten hätte ihm dies wohl sein ehemaliger Vormund Dr. Siegfried zugetraut. Aber Peter Paul Moser hat es geschafft, und dafür danke ich ihm, ich bezeuge ihm meine Hochachtung dafür, und ich hoffe, dass sein Buch möglichst viele Leserinnen und Leser findet.


Thomas Huonker


Peter Paul Moser hat im Jahr 2002, kurz vor seinem Tod im Februar 2003, auch den dritten Band seiner Lebensgeschichte veröffentlicht. Die Diskriminierung ging nach der polizeilichen Wegnahme des Kleinkindes und der Zwangserziehung bei Pflegeeltern und in Anstalten weiter. Ehrlich, mit Selbstironie und genau erzählt Moser nun sein Erwachsenenleben. Er schildert seine vielen beruflichen Stationen, den Tod seiner ersten Frau, und wie er zusammen mit seiner zweiten Frau, mit der er heute in Thusis lebt, insgesamt 7 Kinder aufzog. Ein Kind seiner zweiten Frau war ebenfalls von der Pro Juventute weggenommen worden. Aber auch die verbleibende Familie war gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt.

Band 1: Entrissen und entwurzelt. Thusis 2000.
Band 2: Die Ewigkeit beginnt im September. Thusis 2000.
Die beiden Bände umfassen insgesamt 660 Seiten, enthalten 418 Aktenstücke sowie viele Illustrationen. Die ersten beiden Bände kosten zusammen Fr. 60.-
Band 3: Rassendiskriminierung und Verfolgung während einer ganzen Generation. 309 Seiten, viele Fotos. Preis sfr. 43.50
Hinzu kommen die Portokosten.
Sie können die Bücher von Peter Paul Moser über das Sekretariat der Radgenossenschaft der Landstrasse beziehen:
e-mail: info@radgenossenschaft.ch

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Präsentation der Autobiografie von Peter Paul Moser
- Lesen Sie online einige Auszüge aus der Autobiografie von Peter Paul Moser.
- Die Festrede zur Buchvernissage der esten beiden Bände (gehalten von Thomas Huonker in Thusis am 30. September 2003) finden sie hier.
- Einen Artikel über Peter Paul Mosers Leben und Werk im Bülacher Tagblatt vom 23. Januar 2003 von Verena Zimmermann finden sie hier.