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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Erzählungen der Roma

Wie der Rom sein zerrissenes Hemd eintauschte

Es war einmal ein armer Rom, der war im Winter mit seiner Frau unterwegs. Der Rom ging Arbeit suchen, und seine Frau ging betteln. Und der Rom hatte nur ein Hemd an, das ganz zerrissen und voller Löcher war. Auf dem Weg lag Schnee, es herrschte Frost.

Da kam ein Pfarrer in einer Kutsche vorbeigefahren. Er hatte einen warmen Pelzmantel an.
„Was machst du hier, Zigeuner?“
„Ich gehe mir eine Arbeit suchen.“
„Und ist dir nicht kalt, wenn du nur ein zerrissenes Hemd anhast?“
„Warum sollte mir kalt sein? In so einem Hemd kann mir nie kalt sein.“
„Wieso? Ich habe einen Pelzmantel an, und doch zittere ich vor Kälte.“
„Na ja, weil der Frost dort hereinkommt, aber nicht wieder hinauskann. Bei mir ist es so: Der Frost kommt durch ein Loch herein, und durch ein anderes geht er wieder hinaus.“
„Das ist doch nicht möglich“, sagte der Pfarrer.
„Jeder weiss das Seine - Sako peskere dschanal“, mit diesem Sprichwort wollte der Rom weitergehen.

„Warte“, rief der Pfarrer, „willst du nicht dein Hemd eintauschen?“
„Aber, mein lieber Pfarrer, das kann ich nicht, das ist doch so ein prachtvolles Hemd.“
„Ich gebe dir für das Hemd meinen Pelzmantel!“
„Ich bin nicht sehr glücklich darüber, doch wenn du es unbedingt willst und weil du ein heiliger Mann bist, will ich es für dich tun. Aber rechne damit, dass dir noch eine Weile kalt ist, weil du so verwöhnt bist.“
Der Pfarrer nahm das zerrissene Hemd von dem Rom und gab ihm seinen warmen Pelzmantel. Dann fuhr er in seiner Kutsche weiter.

Der Rom verkaufte den Pelzmantel für viel Geld, und nun hatte er Essen für sich, seine Frau und seine Kinder.



Die Schöpfungsgeschichte in der Roma-Tradition

Eine alte Romni erzählt die Geschichte der Erschaffung des Menschen so:
Gott erschuf die Welt mit dem Wasser, dem Land, dem Licht, dem Dunkel, mit der Luft, dem Wind und den Wolken. Er formte die Berge, die Täler und die Seen, die Wüsten, die Sümpfe, die Flüsse und die Meere. Er belebte alles mit Pflanzen und Tieren, mit Schilf, Bäumen, Seerosen, Moos und Farn, mit Seesternen, Muscheln, Korallen und Fischen, mit Ameisen, Spinnen, Bienen, Schlangen, Eidechsen und Krokodilen, mit Adlern, Nachtigallen, Kolibris und Pinguinen, mit Löwen, Elefanten, Antilopen und Pferden, mit Ratten, Affen, und Igeln, mit Wölfen, Füchsen und Hasen. Nachdem Gott dies alles erschaffen hatte, war er sehr müde.

Er machte sich ein Feuer an einem Flussufer, setzte sich hin und rauchte ein Pfeifchen.
Er schaute umher und dachte darüber nach, ob er alles gut eingerichtet habe.
Da kam ihm der Gedanke, er habe noch etwas vergessen. Nämlich ein Wesen, nicht ganz so göttlich wie er selber, aber doch auch dazu imstande, sich ein Feuerchen zu machen, ein Pfeifchen zu rauchen und darüber nachzudenken, wie es denn stehe um Gott und die Welt.

Gott griff sich einen Klumpen Lehm aus dem Flussufer, formte eine menschliche Gestalt und legte die Lehmfigur vorsichtig ins Feuer, um sie zu brennen. Ängstlich drehte und wendete er sie alle Augenblicke und zog sie rasch wieder aus dem Feuer. Gott befeuchtete das Gebilde mit einigen Wassertropfen, um es abzukühlen, und hauchte ihm Leben ein. Das Geschöpf erhob sich, bedankte sich und ging seines Weges.

Gott war sich wieder nicht ganz sicher, ob nun schon alles getan sei. Denn das selbstbewusste Wesen mit seiner weissen Haut, unter der die blauen Adern durchschienen, dieser Mensch mit seinem hellen Haar und den blauen Fischaugen hatte vielleicht doch ein bisschen zu wenig Feuer mitbekommen.

Gott griff sich einen zweiten Klumpen Lehm und formte eine zweite Figur. Der kraftvolle Körper gelang ihm gut. Entschlossen legte Gott das Gebilde in die Mitte des Feuers und liess es dort eine gute Weile liegen. Als er es drehte, um auch die andere Seite tüchtig zu brennen, versengte er sich fast den Bart in den Flammen.
Schliesslich nahm Gott die Figur aus dem Feuer und kühlte sie mit einer Hand voll Wasser aus dem Fluss. Das Wasser verdampfte zischend.
Gott hauchte auch diesem Geschöpf Leben ein. Es erhob sich, bedankte sich und ging seines Weges.

Wieder befielen Gott Zweifel. Aber das fröhliche Lächeln, die dankbaren Worte, das blitzende Weiss der Augen und der Zähne dieser kraftvollen Gestalt hatten ihm gut gefallen, und so war es sicher richtig gewesen, dass er das Wesen so lange im Feuer hatte brennen lassen, bis seine Haut schwarz wie Ebenholz geworden war und bis sich sein Haar in der Hitze zu dichten Locken gekringelt hatte.

Gott besann sich auf eine alte Weisheit: Aller guten Dinge sind drei.

Er griff sich noch einen Klumpen Lehm. Nun formte Gott eine Gestalt, die ebenso zierlich wie kraftvoll war. Das Feuer war schon ziemlich heruntergebrannt. Gott legte die Lehmfigur in die Glut und drehte und wendete sie wie einen saftigen Braten, bis sie auf allen Seiten gut gebräunt war. Er nahm das Geschöpf aus dem Feuer, bespritzte es mit Wasser und hauchte ihm Leben ein. Auch dieses Menschenwesen erhob sich lächelnd, dankte Gott mit vielen Worten und Gesten und ging seines Weges.

Und wieder reute es Gott fast um die Gestalt, aber diesmal hauptsächlich deshalb, weil sie, ihre Hüften schwingend, so rasch fortgegangen war. Sehnsüchtig blickte Gott ihr nach.

Nun war er hundemüde, und es begann einzunachten.

Gott trat das Feuer aus und klopfte die Asche aus der Pfeife. Bevor er in die himmlischen Sphären entschwand und die Erde mit all ihren Gebieten und Geschöpfen sich selber überliess, murmelte Gott in seinen Bart: Mögen alle miteinander in Friede und Schönheit gedeihen hienieden.

Und daran sollten auch wir uns halten, sagte die alte Romni noch, als sie ihre Geschichte erzählt hatte.

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