Thomas
Huonker
A rchiv
Texte
A nderes
www.thata.ch
Inhalt
- Liste aller thata-Seiten
- Histodrom
- Dokumente - Bilder
- Jenische in der Schweiz
- Jenische in Europa
- Roma in der Schweiz
- Sinti und Roma in Europa
- Roma in der Welt
- Der Umgang mit Fahrenden in der Schweiz bis 1798 - Auszüge aus Chroniken
- Fahrende und Bürgerrechte - Zwangseinbürgerung 1851
- Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" (1926-1975)
- Verdingkinder - "Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz
- Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen
- Die schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus
- Der Sammler, Historiker und Flüchtling Eduard Fuchs (1870-1940)
- Menschenrechte und Minderheitsrechte - Texte von Thomas Huonker - Pressespiegel
- Bilder und Objekte von Thomas Huonker - Ausstellungen - Vita - Publikationen
- Literaturverzeichnis - Service - Animalorama - Sitemap/Index - home

index



links



mail


Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Roma, Sinti und Jenische in der Schweiz
Die ersten Roma betraten die Schweiz in den Jahren 1414 und 1418.
Aus der Chronik des Johannes Guler von Wyneck:
„In obgesagtem Jahr (1418) wurden erstlich in Retischen Landen (d.h. in Graubünden) die Ziegeiner gesähen, so man die Heyden nennet / ein frömd wunderseltzam volck: dessen eine grosse anzal war / von man / weib und kinderen: wurden auf 1400. geschetzt: die doch nicht sammenhafft / sondern in etlich viel Scharen zertheylt durch die lande zoogen: hatten einen Obersten unter ihnen / der sich Hertzog Michel von Egypten nennet. Sie gaben für / wie ihre vorfahren im kleinern Egypten (welches doch niemand weist / wo es sey: weyl offenbar dass Egypten niemalen in das gross und in das klein ist abgetheilt worden) etliche jahr vom Christlichen glauben weren abgefallen / und als sie sich wiederumb bekehrt / sey ihnen zur buss aufgesetzt / dass etlich unter ihnen / so viel Jahr als sie im unglauben verharret / im Elend herumb ziehen sollten und buss würcken (Busse tun): sey also dz (das) looss auf sie gefallt / solches zu verrichten.

Diese hielten gute Christliche ordnung / und ob sie gleich schlächte Kleider hatten / trugen sie doch viel silber / gold und edelgestein mit sich: wurden auch von die ihrigen aus ihrem vatterland (welchs ettlich meinen Zeugitana, das ist Africa propria, gewest sein solle) herüber mit gält genugsam verlegt [versorgt] / also dass sie keinen Mangel hatten und ihre zehrung allenthalben ordentlich bezahlten / darneben niemand kein Leid zufügten. Sie hatten auch gut brieff und siegel vom Papst und von Kayser Sigmunden.“

Vertreibung, Galeere, Todesstrafe, Ausrottung
Schon fünzig Jahre später beschloss die oberste Behörde der alten Eidgenossenschaft, die Roma in der Schweiz nicht zu dulden: Sie erliess 1471 in Luzern einen Abschied, d.h. ein Gesetz, in dem es hiess, „dass man die Zeginer fürderhin in der Eidgenossenschaft weder hausen noch herbergen soll.“ Und wieder 50 Jahre später wurde dieses Gesetz verschärft. Die Tagsatzung beschloss am 20. September 1510 in Zürich betreffend die Roma, „sie aus dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft zu verbannen, bei Strafe des Hängens, wenn sie selbes wieder betreten.“

Viele Chroniken berichten, dass Roma Diebstähle begangen hätten und dass insbesondere ihre Frauen gebettelt hätten.

Die Schweizer Regierung leitete aber aus einem einzelnen Fall, dessen „Beweis“ zudem ein auf der Folter erpresstes Geständnis war, die kollektive Vertreibung und Bestrafung aller Roma ab.
An der Tagsatzung in Baden vom 24. April 1525 wurde beschlossen:

„Auf die Anzeige Freiburgs, dass es einen Zigeuner im Gefängnuss habe, der bekenne, fünf Mordthaten allein und viere mit Andern verübt zu haben, und dabei ferner gestehe, es seien überhaupt alle Heiden und Zigeuner Mörder und Bösewichte und bilden eine 'Gesellschaft', wird beschlossen, dieselben allenthalben gefangen zu setzen, zu verhören und zu strafen.“

Zur Abstempelung eines ganzen Volkes als Kriminelle kam ihre Verfolgung als Heiden und Hexer. Beides gipfelte im Beschluss zur Ausrottung der Roma, die sich inzwischen in die entlegensten Berggebiete zurückgezogen hatten.

Hier der Wortlaut dieses Beschlusses der Tagsatzung in Baden vom 8. August 1574:
„Der Landvogt von Baden macht Anzug (d.h. stellt den Antrag): Er habe vor einiger Zeit auf die Zigeuner und Heiden wegen ihrer Diebereien und Vergehen Jagd machen und ihnen die Pferde sammt dem Plunder wegnehmen lassen und unter letzterm viel gestohlenes Gut und Dietriche gefunden. Er mache hiermit Anzeige, damit man jedermann vor denselben warne. Es wird daher an alle Landvögte diess- und jenseits des Gebirgs geschrieben, sie sollen die Zigeuner und Heiden, wo sie solche finden, gefangen nehmen und strafen. Hierauf meldete Schwyz, dass unter diesen Heiden die Männer Diebe, die Weiber Hexen seien und dass dieselben, als es Leute ausgeschickt habe, um sie auf den Alpen gefangen zu nehmen, sich also in den Felsen versteckt haben, dass man nicht habe zu ihnen gelangen können. Dieses wird in den Abschied genommen, damit jedes Ort seine Massregeln zu ihrer Ausrottung treffe.“

1554 hatte der französische Gesandte den Schweizern das Angebot gemacht, ihre männlichen Sträflinge, darunter auch die als kriminell eingestuften Bettler und alle gefangen genommenen Roma, nach Frankreich als Galeerensklaven zu liefern.

Fortan wurden mit so genannten „Betteljagden“ in regelmässigen Abständen die unerwünschten Nichtsesshaften zusammengetrieben, eingefangen und abgeschoben. Gelegentlich, so im Beschluss der „Gemeineidgenössischen Conferenz“ in Baden vom 19. bis zum 24.Januar 1739, wurde auch „fremdes Judengesindel“ in die Liste derjenigen eingeschlossen, die eingefangen und abgeschoben wurden.

Bürgerrecht und Abweisung von Flüchtlingen
Im 19. Jahrhundert begann sich der Gedanke durchzusetzen, dass alle Einwohner eines Landes als gleichberechtigte Bürger ihr Existenzrecht haben sollten - die Bürgerinnen waren damit allerdings noch nicht gemeint.

Gleichzeitig sollte dann eine zentrale Polizei die genaue Kontrolle über den Aufenthalt und die Identität aller Bürger führen. In den Streitfällen, die besonders bei Menschen mit fahrender Lebensweise und unklarer Herkunft auftraten, sollten sich die verschiedenen Gemeinden, Kantone und Länder, in denen sie reisten, auf ein bestimmtes Bürgerrecht einigen. Als Ortsbürger würden sie dann, so hoffte die Regierung, auch ein sesshaftes Leben führen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde darüber viel diskutiert, doch erst der nach der Revolution von 1848 neu geschaffene Bundesstaat setzte ein einheitliches Vorgehen für die ganze Schweiz durch. Im Lauf einer so genannten „Vagantenfahndung“ fingen die Kantonspolizeien die Fahrenden im ganzen Land ein und transportierten sie nach Bern ins Gefängnis. Dort nahm die Bundesanwaltschaft ihre Personalien auf und führte ein Register über sie. Von dieser Fahndung wurden im Lauf einiger Jahre etwa 10 000 Menschen erfasst. Eine grosse Zahl von ihnen wurde von der Polizei fotografiert.

Die Bundesversammlung genehmigte am 3.12.1850 das „Bundesgesetz die Heimatlosigkeit betreffend“. Es enthält Vorschriften zur Zuweisung eines Bürgerrechts an alle bürgerrechtslosen Fahrenden. Da in der Schweiz das Bürgerrecht durch die Gemeinden erteilt wird, waren es meist ganz abgelegene Berggemeinden wie Obervaz oder Morissen in Graubünden oder Cureglia im Tessin, denen die fahrenden Familien von den grösseren und reicheren Nachbargemeinden zur Zwangseinbürgerung zugeschoben wurden. Den ungeliebten Neubürgern wurde dort aber kein Anteil an den Wäldern und Alpen im Gemeindebesitz zugestanden. Deshalb hatten sie in ihren neuen Heimatgemeinden kaum eine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit, ausser dass sie während der Sommermonate als Alpknechte arbeiteten. Im Winter gingen sie dann auf den alten Routen im Voralpengebiet und im Mittelland ihren Gewerben als Hausierer, Scherenschleifer, Musiker oder Korber nach.

Viele der neu eingebürgerten fahrenden Familien, unter denen sich vor allem Jenische, kaum aber Sinti oder Roma befanden, wohnten nie in den neuen Heimatgemeinden. Das „Gesetz die Heimatlosigkeit betreffend“ enthielt jedoch auch ein Verbot des Ausübens von Wandergewerben für Familien mit schulpflichtigen Kindern. So wurde ein Konflikt zwischen der fahrenden Lebensweise und dem Schulsystem geschaffen, der lange nachwirken sollte. Heute sind aber viele Lehrer und Schulbehörden bereit, den jenischen Kindern während der Reisezeit die Teilnahme am Unterricht per Post zu ermöglichen. Sie geben den Eltern und Kindern das Schulpensum auf und korrigieren die eingesandten Schularbeiten.

Doch früher wirkte sich diese Bestimmung so aus, dass die Fahrenden ihre Kinder gar nicht zur Schule schickten, auch nicht wochenweise am Ort des jeweiligen Aufenthalts, weil die Eltern sonst, gemäss den Gesetzesbestimmungen, mit Bussen oder mit Zwangsarbeit bestraft wurden.

Im 19. Jahrhundert war auch ein Mittel zur Zwangsanpassung der Fahrenden an die Sesshaften von schweizerischen Behörden übernommen worden, das vorher schon in anderen europäischen Ländern angewandt worden war: Den Fahrenden wurden die Kinder weggenommen, um sie bei Sesshaften „ordentlich“ zu erziehen. Es gab in Luzern und in Zürich grössere Aktionen dieser Art. Die genaue Zahl der damals ihren Eltern entrissenen Kinder ist nicht erforscht. Es wurden auch die Namen der Kinder geändert. Sie hiessen fortan Schweizer, Wacker oder Demuth. Ziel war die Beseitigung der fahrenden Lebensweise, die als unvereinbar mit dem Fortschritt galt.

Aber auch im 20. Jahrhundert gab es immer noch Fahrende in der Schweiz. Die Sinti und Roma ausländischer Herkunft wurden seit 1913 wo immer möglich direkt an der Grenze abgewiesen. Gelang ihnen die Einreise über die grüne Grenze, wurden sie polizeilich aufgegriffen. Die Familien wurden getrennt. Die Frauen und Kinder kamen in Heime der Heilsarmee, die Männer in die Zuchthäuser Witzwil oder Thorberg im Kanton Bern. Sie wurden fotografiert, und es wurden ihnen die Fingerabdrücke genommen. Die Polizeiabteilung in Bern führte aufgrund dieser Angaben ein zentrales Zigeunerregister. Dann wurden die Familien an der Grenze wieder zusammengeführt und ins Ausland abgeschoben. Dieses Verfahren diente vor allem auch der Abschreckung.

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde, unter dem neuen Titel Zigeunerregister, eine neue Serie von Polizeifotografien von Fahrenden erstellt. Hier die Karte aus dem Berner Register:"Katharina Florian, Zigeunerin" (1906.
Im Kanton Zürich gab es auch ein Jenischenregister der Kantonspolizei.


Die Abschiebepolitik wurde auch im Zweiten Weltkrieg strikte gehandhabt. Alle Flüchtlinge, die wegen der Verfolgung der Roma und Sinti im nazideutschen Herrschaftsgebiet in die Schweiz fliehen wollten, wurden von Militär und Grenzpolizei wieder zurückgeschickt, so der Musiker Django Reinhardt oder der siebzehnjährige Anton Reinhardt, dessen Mutter in der Schweiz geboren war. Anton Reinhardt wurde nach seiner Ausschaffung von den Nazis am Ostersamstag 1945 erschossen.



Anton Reinhardt.
Der 17-Jährige versuchte in die Schweiz zu fliehen, als ihm die Zwangssterilisierung drohte. Nach seiner Ausschaffung nach Deutschland wurde er erschossen.

Die konsequente Abweisung aller Roma an der Grenze blieb bis 1972 ein fremdenpolizeilicher Beschluss, der auch durchgesetzt wurde. Einzig einigen Flüchtlingen aus Ungarn und der Tschechoslowakei und Saisonniers aus Jugoslawien, die Roma waren, gelang die Einreise in die Schweiz.

blättern Sie in diesem Text vorwärts zum Teil 12 des Texts oder rückwärts zum Teil 10 des Texts
Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen