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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen


Das „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“

Die Schweizer Jenischen, die seit 1850 ihr Bürgerrecht hatten, konnten nicht mehr abgeschoben werden. Dennoch blieb die fahrende Lebensweise der Obrigkeit ein Dorn im Auge.

Bundesrat Häberlin bezeichnete 1927 die Fahrenden als „dunklen Fleck“ in der Schweizer „Kulturordnung“:
„Wer von uns kennt nicht die eine oder andere der grossen Vagantenfamilien, deren Glieder zu einem grossen Teil unstät und zuchtlos dem Wandertrieb frönen und als Kessler, Korber, Bettler oder Schlimmeres einen dunklen Fleck in unserm auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerlande bilden?“

In Zusammenarbeit mit Bundes-, Kantons- und Gemeindebehörden begann ab 1926 ein eigens dazu gegründetes „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“, das als Teil der Stiftung Pro Juventute organisiert war, den namentlich aufgelisteten jenischen Familien der Schweiz planmässig die Kinder wegzunehmen.

Das „Hilfswerk“ wurde vom Bund subventioniert.

Sein Leiter war von 1926 bis 1960 Alfred Siegfried.

Siegfried war in Basel als Gymnasiallehrer entlassen worden, weil er ein Verhältnis mit einem seiner Schüler hatte. Siegfried wurde aber kurz darauf zum Vormund von Hunderten von jenischen Kindern, die ihren Eltern als möglichst kleine Kinder, oft noch als Säuglinge, weggenommen wurden. Die genaue Zahl ist unbekannt, weil neben dem „Hilfswerk“ auch andere Organisationen und Behörden jenische Kinder zwangsweise ihren Eltern wegnahmen. Siegfried platzierte seine Mündel bei Pflegeeltern, übergab sie Adoptiveltern oder versorgte sie in Erziehungsanstalten. Meist mussten sie hart arbeiten und hatten wenig zu essen. Ihre seelischen Leiden waren gross. Auch die Geschwister wurden getrennt.

Alfred Siegfried bringt jenische Kinder in ein Kinderheim. 1953

Der Hauptzweck dabei war, die Familien der Fahrenden auseinanderzureissen und so die Kultur der Jenischen in ihrem Kern zu zerstören. Wenn die jenischen Eltern ihre Kinder wieder fanden, wurden sie sofort an einen anderen Pflegeplatz gegeben. Manche Zöglinge des „Hilfswerks“ wurden bis zu zwölfmal umplatziert.

Es war damals schon allen Erziehungswissenschaftlern klar, dass solche stetigen Wechsel der Bezugspersonen die Kinder schädigen. Das zeigt auch, dass der vorgegebene Zweck der Aktion, nämlich den Kindern eine ordentliche Erziehung und Schulbildung zu ermöglichen, keinesfalls die wirkliche Absicht war.

Die Eltern der weggenommenen Kinder kamen, wenn sie Widerstand leisteten, in Zuchthäuser und psychiatrische Anstalten. Es gab jenische Eltern, die versuchten, sich vor Gericht gegen diesen organisierten Kinderraub zu wehren. Ihre Beschwerden wurden aber, teilweise in Absprache mit der Pro Juventute, abgelehnt. Etliche der weggenommenen Kinder endeten durch Selbstmord oder blieben lebenslänglich in Anstalten. Auch viele Eltern, denen man die Kinder wegnahm, wurden zu seelischen Wracks.


Zitate aus Publikationen des „Hilfswerks“
Die Pro Juventute publizierte 1964 ein Buch von Alfred Siegfried mit dem Titel „Kinder der Landstrasse“. Dort wird Bilanz gezogen über das Schicksal der mehreren Hundert Kinder, welche ihren Eltern weggenommen wurden, um sie sesshaft zu machen und der jenischen Kultur und Lebensweise zu entfremden. Siegfried bilanzierte die einzelnen Fälle entweder mit dem Zeichen + oder -, in Zweifelsfällen mit einem Fragezeichen.
Die Zöglinge, die in jungen Jahren, teils durch Selbstmord, starben, reihte er in die von ihm positiv gewertete Gruppe der sesshaft Gewordenen ein.
Die Kriterien, die er für diese Einteilung verwendete, beschreibt er selber so:

„Wir unterscheiden in bezug auf den Erfolg unserer erzieherischen und fürsorgerischen Bemühungen drei Gruppen. In die erste 'positive Ergebnisse' reihen wir diejenigen unserer 'Ehemaligen', die auf Grund ihrer Lebensführung, ihrer beruflichen Tätigkeit und der Verbindungen (Ehe!), die sie im Lauf der Jahre eingegangen sind, als angepasst, voraussichtlich endgültig sesshaft geworden, angesprochen werden dürfen. Als Versager notieren wir dementsprechend vor allem diejenigen Männer und Frauen, die sich wiederum dem fahrenden Volk angeschlossen haben. (...) Zwischen diesen beiden extremen Verhaltensweisen flottieren die zahlreichen unsicheren Elemente. (....) Die Erfahrung zeigt, dass Rückfälle in die Vagantität12 so lange erwartet werden müssen, als die Verbindung mit den Jenischen in irgendeiner Form weiterbesteht.“

Auszug aus der Lebensgeschichte eines von seinen Eltern und Geschwistern getrennten Jenischen, der von Pflegeplatz zu Pflegeplatz gewiesen wurde:
„Aber auch dort hiess es eines Tages: Jetzt kommst du nach E., Kanton Solothurn, wieder zu einer Bauernfamilie. Dabei war es so: Wenn ich nur schon das Wort Bauernfamilie hörte, hatte ich bereits einen Schock. Das war mir ein Horror, wenn ich nur schon von Kühen und Landwirtschaft hörte. In E. war zwei Tage vorher ein Bruder von mir weggekommen. Damals hörte ich das erste Mal von Geschwistern. Es hiess: Wenn du in diesem Jahr so arbeitest wie dein Bruder im Jahr vorher, dann kommen wir aus miteinander. Andernfalls kennst du die Konsequenzen: Dann läuten wir dem Dr. Siegfried an. Das war nicht das erste Mal, dass er erwähnt wurde. Er war öfters auf Besuch gekommen. Ich erinnere mich vor allem an ihn aus der Zeit, wo ich noch sehr klein war, etwa vierjährig. Er passte einen irgendwo ab und tippte einem dann von hinten auf die Schulter und fragte: Kennst du mich noch? Das war das Spielchen, das zu treiben er in sich hatte.

In E. ging es gar nicht gut. Es kam zu Schwierigkeiten, und ich wurde von einem Fürsorger abgeholt und ohne Begründung nach Bellechasse gebracht. Ich war etwa 16-Jährig. Ich war dort etwa ein Jahr lang, und zwar im Erlenhof, der Jugenderziehungsanstalt für Knaben. (...) Im Schlafraum waren etwa 20 oder 30 Jugendliche untergebracht. Man legte viel Wert auf militärischen Drill: Marschschritt, Befehlsausführung usw. Wenn einer nicht spurte oder einen Fluchtversuch machte, kam er für zehn Tage in Dunkelarrest.

Ich wurde dort ein wenig aufmüpfig. Unheimlich aufmüpfig sogar. Dort lernte ich auch Jenische kennen. Sie kannten meine Geschwister und sprachen mich darauf an. Sie wussten auch, dass ich meine Mutter noch hatte. Vorher wusste ich aber nur von diesem Bruder, der vor mir in E. bei diesem Bauern gearbeitet hatte, und von einer Schwester, die kurz vor mir in der Erziehungsanstalt Fischingen gewesen war. Man nahm mich dan weg aus Bellechasse. Es hiess, ich solle etwas lernen. Ich solle eine Metzgerlehre machen. Ich kann ja alles in meinem Leben, aber Metzgen, das war mir das letzte. Ich hatte keine Freude daran. Da hiess es: Ja, wenn du das nicht machen willst, dann kommst du eben wieder in eine Anstalt. Es wurde nicht gefragt, was ich denn machen wolle. So kam ich nach Herdern.

(...) Von dort aus kam ich wieder nach Bellechasse. Ich war jetzt also ein Jahr in Bellechasse gewesen, dann ein Jahr anderswo und jetzt wieder in Bellechasse. Ich habe nie ein Urteil oder eine Begründung dafür gesehen.

Es waren damals verschiedene Jenische in Bellechasse. Wir wollten einen Fluchtversuch starten. Ich war einer der massgeblich Beteiligten. Ich kann mich noch erinnern, wie wenn das heute wäre. Plötzlich, am Abend etwa um vier Uhr, kamen einige Wärter auf das Feld und pickten mich heraus. So wurde ich ins Zuchthaus Bellechasse eingeliefert. (...)

Ich kam in einen Zellengang, wo damals noch Kriegsverbrecher sassen. Einer hatte in der SS gedient. Das war kurz nach dem Krieg. Ein anderer hatte seinen Vater ermordet, wieder ein anderer hatte seinen Vormund erschossen. Im ganzen Zellengang waren nur Mörder oder politische Häftlinge untergebracht. Ich war in den Sicherheitstrakt von Bellechasse eingeliefert worden. Wir bekamen gelbe Kleider mit braunen Streifen.(...) Dann wurde ich einer Spezialbrigole13 zugeteilt, zusammen mit Schwerverbrechern. Auf fünf oder sechs Häftlinge kamen drei bewaffnete Wärter. Wir arbeiteten auf dem Feld, und die Wärter spazierten herum.“


Es ging dem „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ und den mit ihm zusammenarbeitenden Behörden nicht nur darum, die Familien der Jenischen zu zerstören. Siegfried und mit ihm zusammenarbeitende Wissenschaftler betrachteten, ähnlich wie die Nationalsozialisten in Deutschland, auch das Erbgut der Jenischen als minderwertig. Aus solchen „eugenischen“14 Gründen sind auch in der Schweiz Jenische zwangssterilisiert worden.

Das Hilfswerk beendete sein Zerstörungswerk an der Kultur und Tradition der Jenischen erst im Jahr 1973 nach massiven Protesten in der Presse. Vor allem der Journalist Hans Caprez hat in vielen Artikeln im „Schweizerischen Beobachter“ unbeirrt jahrelang gegen das den Schweizer Jenischen angetane Unrecht angekämpft.

Bundespräsident Egli hat sich am 3. Juni 1986 für das den Jenischen angetane Unrecht entschuldigt. Er sagte:

„Es stimmt, dass in der Zeit von 1927 bis 1973 eine Aktion - sogar mit Unterstützung von Bundesgeldern - gestartet, Kinder der Fahrenden aus ihren Familien entfernt und in sogenannte Betreuungsfamilien eingegliedert wurden. Aber ich darf gleichzeitig auch betonen, dass seit 1973 nach unserem Wissen keine solchen Fälle mehr eingetreten sind. Die Pro Juventute hat damals im Auftrag oder nach Wunsch der Kantone gehandelt.“ Die von den Massnahmen des „Hilfswerks“ und der mit ihm zusammenarbeitenden Behörden geschädigten Jenischen erhielten individuelle Zahlungen (zwischen 2000 und 20 000 Franken) als „Gesten der Wiedergutmachung“.


12Vagantität ist eine abwertende Bezeichnung für die fahrende Lebensweise.

13Ein Arbeitstrupp. Die Strafanstalt Bellechasse zwischen Murten- und Neuenburgersee bewirtschaftet grosse Landwirtschaftsgebiete.

14„Eugenisch“ ist ein künstlich zusammengesetztes Wort aus den griechischen Wortstämmen „eu„ was gut bedeutet, und „genos“, was Geschlecht heisst. Die Anhänger einer gezielten Zuchtwahl beim Menschen versprachen sich durch die Zwangssterilisierung von Menschen, die sie als „erblich minderwertig“ einstuften, eine Verbesserung der Menschheit.


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Online-Version (ohne Bilder) des Lehrmittels "Roma - ein Volk unterwegs", erschienen im Lehrmittelverlag des Kantons St. Gallen