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Thomas Huonker MONDFISCH
Kapitel VII
Am nächsten Morgen findet Moran die Einladung zur Klassenzusammenkunft in der Post. Eine Alterserscheinung, denkt er. Aber sie kommt ihm gerade recht. Er muss unter Leute gehen. Er hat bereits wieder eine Ueberdosis Röntgenflimmerstrahlen abbekommen.
Schüler Moran freut sich sogar auf das Treffen.
Die Schule war Moran wichtig gewesen. Er lernte leicht.
Die Mittelschulklasse, deren Kassier das Treffen organisierte, war eine der letzten Knabenklassen im Schulsystem der östlichen Hauptstadt gewesen und gleichzeitig die erste, deren Mitglieder aus den Mietskasernen der minderen Quartiere im Achboden kamen.
Nicht aus den Villen am Südhang des Sonnenbergs wie sonst die Absolventen der besseren Bildungswege.
Für die Lehrkräfte waren sie eine Bedrohung des Weltbilds gewesen.
Das Klima in der Klasse war rauh, von Spott und Hohn durchtränkt. Moran, keine Sportskanone und eigentlich sehr scheu, hatte sich zum Schutz seiner weichen Seele einen Panzer aus verbaler Schärfe zugelegt. Er war gefürchtet, auch bei den Lehrkräften.
Erwin ist nicht ans Klassentreffen gekommen. Erwin ist einer aus dem Haufen, wie die Klasse allgemein genannt worden war, den Moran nicht aus den Augen verloren hat. Er sieht ihn gelegentlich im Stadtgarten. Meistens trinkt Erwin Bier, doch eigentlich ist er im Methadonprogramm.
Erwin war, zusammen mit zwei andern aus diesem Sample von zweiundzwanzig jungen Männern, arglos den ersten Heroindealern der frühen siebziger Jahre begegnet. Er war ein Opfer der falschen Drogenfurcht. Hatte es nicht geheissen, Haschisch, Mescalin, LSD, Heroin, das sei alles genau wie Starkstrom, nämlich todesgefährlich bei der geringsten Berührung? Wers glaubt. Haschisch vertrug Erwin besser als Rotwein, und mit LSD aufzuhören nach dem dritten rabenschwarzen Horrortrip war kein Problem, es gab keinen Entzug, es war einfacher, als eine Woche lang morgens keinen Kaffee zu trinken. Kein Kopfweh, kein Schweiss, kein Zittern. Mit der Tücke des Heroin hatte Erwin nach diesen Erfahrungen nicht gerechnet, er hatte auch da den väterlichen Ermahnungen des östlichen Klinikdirektors nicht geglaubt, der eigens an die Knabenschule gekommen war, um vor denjenigen Drogen zu warnen, die in der Psychiatrie nicht abgegeben werden.
Heroin, das wenigstens hatte der Klinikdirektor nicht verschwiegen, war als ärztliche Kunstdroge in heilender Absicht entwickelt worden, damals, und es ist eines der Probleme geblieben, das die Chemiker der Menschheit eingebrockt haben.
Fritz, der Hobbychemiker, der sich beim Raketenbasteln beide Hände verbrannt hat, ist Chemiker geworden. Er arbeitet bei der Umweltschutzbehörde, hat zwei kleine Kinder, es geht ihm gut. Fernseher hat er keinen, seine Frau ist Anthroposophin. Die Familie lebt vegetarisch und ist gesund.
Die meisten haben Kinder. Er nicht, Erwin auch nicht, einige hat er nicht gefragt.
Die Heroinsucht hat Erwin in ihren harten Griff genommen. Alles gegen Nichts. Alles: Freundin, Familie, Möbel, Wohnung, Arbeit, Sauberkeit, Komfort, alles hatte er eingetauscht gegen die ingesamt vielleicht drei oder vier Kilo des weissen Pulvers, das er über die Jahre, ohne dabei Schmerz zu empfinden, gierig grammweise auch in die empfindlichsten Adern seines Körpers gejagt hatte,
mit allem Dreck der Welt vermischt.
Erst die Ersatzdroge Methadon, schon wieder Chemie, hat ihm die Rückkehr zu elementaren Lebensformen ermöglicht. Er hat wieder eine Wohnung, auch bei einem freundlichen Arbeitgeber hält er sich nun schon lange. Eigentlich hat Erwin ein sonniges Gemüt und eine schnelle Intelligenz, auch Humor, Wärme und Wendigkeit. Er hat das alles in einem Fernsehinterview dargelegt, sehr offen, sehr ehrlich.
Leider wurde es aus der Sendung gestrichen. Dafür erschien ein Interview mit dem Klinikdirektor, der nächstens ein Amtsjubiläum feiern kann.
Erwin hat ihm das vor einem Jahr erzählt, als sie sich im Stadtpark trafen.
Moran vermisst Erwin an diesem Klassentreffen.
Der Förster aus dem Südteil ist auch nicht da. Ihm war die Wehlacher Schulzeit ein Albtraum.
Die Schulkollegen, die gekommen sind, pflegen ihre gegenseitigen Erinnerungen und konstatieren ihre Veränderungen. Bei vielen sind Gesichtszüge herausgetreten, die sie vor zwanzig Jahren noch kaum hatten, die meisten sind breiter, robuster geworden, einige wenige auch schmaler, drahtiger.
Moran hört, er sei soweit kenntlich geblieben.
Er weiss nicht recht, ob es nicht besser wäre, wenn er sich, wie einige andere, bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte.
Vielleicht ist Abwechslung doch das wichtigste im Leben, und er eine konservative Schildkröte. Aber Moran liebt Schildkröten und hat von den Aenderungen der Welt, wie er sie erlebt, am Geruch der Wehl, am neuartig gefährlichen Stechen der Sonne auf der Haut, vollauf genug, seinetwegen hätte sich spätestens seit den Zeiten der Pfahlbauer gar nichts mehr ändern müssen.
Franz ist schwer gezeichnet von tiefen Runzeln im knochigen Gesicht. Er hatte schon immer einen schmalen Schädel, eine Raubvogelnase und Augen wie ein Uhu. Jetzt sieht er aus wie ein hungriger Pirat, der lange Jahre auf einer einsamen Insel ausgesetzt war, brandmager, mit saugenden Augen. Auch er ist durch die Welt der Drogen gegangen, hat Indien bereist, ist gelbsüchtig geworden. Nach einer Zeit als Teppichhändler hat er Recht studiert, immer auf der Suche nach dem grossen Geld und nach dem Glück. Jetzt schützt er fremde Schätze vor der Besteuerung, Schätze, erbeutet von der Gier der ganz grossen Raubtiere unseres Erdkreises. Franz hegt das Private vor dem Zugriff des Oeffentlichen, er verhindert, dass zuviel Steuergeld aus den schweren Tresoren zu den Schulkindern abfliesst, in die Fürsorge für die Opfer des Systems, in die teuren Schreibtische der Staatsverwalter, in die Armeeflugzeuge. Franz ist Treuhänder geworden.
Zwei oder dreimal pro Monat kann er es sich leisten, in Jeans das Glitzerbüro zu betreten, Nadelstreifen sind in dieser Welt die bessere Haut. Er tut es wegen dem Geld, mit dem Geld kauft er sich das, was er eigentlich möchte. Und er glaubt an die Formeln der neuesten ökonomischen Lehren, so wie andere an die Ablassberechnungen für die Dauer des Fegefeuers geglaubt haben.
Was Moran erzählt von seinem Projekt, Fernsehen aufzuschreiben, fasziniert den hungrigen Piraten Franz. Er hört zu, stellt sich vor, erinnert sich. Er kennt die Videobänder, die Moran abtippt. Der Pirat hat sich diese Bilder ins Auge gesaugt, in den Kopf, in die Seele.
Auch er erinnert sich an die Bilder vom Golfkrieg.
Die grünen Nachtbilder, die Feuerkugeln, das Geknatter. Die Piloten: Es sah aus wie ein Feuerwerk. Wie einWeihnachtsbaum. Präsident Bushs dürre Triumphe am Rednerpult vor dem blauen Vorhang im Pressezentrum des Weissen Hauses. Saddams düstere Triumphe über die Kurden, die nach dem Aufstand flohen und in den verschneiten Bergen erfroren. Die kriegsgierigen Kommentare der Experten zu den Waffensystemen, die sich bewährten oder auch nicht. Patriot-Raketen gegen SCUD-Raketen. Cruise Missiles gegen Flabkanonen. Sandbunker gegen Flächenbombardements. Satelliten gegen verbunkerte Flugzeuge. Die brennenden Oelquellen. Der Oelteppich im Golf. Die verbrannten Leichen der Iraker im Treck nach Basra.
Ja, das hat er alles auch gesehen, Sie alle, liebe Leser, haben das gesehen, und Franz hat zur Beruhigung, denn auch er hatte Angst vor diesem Krieg, immer wieder die Sportsendungen eingeblendet, ein bisschen Skirennen, ein bisschen Tennis, oder auch einen Western. Nein, immer nur diese Kriegsnachrichten, nach der Arbeit, das hätte ihn aus dem seelischen Gleichgewicht gekippt.
Franz ist ein Zapper. Alles sehen wollen, ohne sich auf etwas einlassen müssen. Einen Krimi, eine Erotikshow und die Nachrichten gleichzeitig, abwechselnd, in irrer Folge, beziehungslos, wahllos nebeneinander sehen wollen, sehen wollen, sehen wollen. In die Ferne schweifen, in der Nähe nichts sehen wollen. Nichts. Nichts. Nichts. Alles öde hier. Leer.
Aufhören, abschalten, einschalten, andere Welten, andere Sorgen, oder gar keine Sorge, keine Sorge, Reklame. Reklame Reklame statt Reklamationen. Klaglos, fraglos.
Franz glotzt, glotzt, glotzt.
Be happy, don't worry.
Zap.
Musik. Ein Zwanzigjähriger singt versunken eine Ballade. Aber das ist nur eine Einblendung. Eigentlich wird er interviewt und kaut Nägel. Es sei damals halt eine Liebeserkärung, ein Treueschwur an eine Frau gewesen, dieses Lied, das er immer noch singt, obwohl er ihr anders nicht treu geblieben ist. Schön, die Melodie, schon schön, doch, schön.
Zap.
Ein Krimi. Ein Schloss. Eine Leiche. Ein Detektiv. Alle sind verdächtig. Es war der Detektiv.
Zap.
Alte Schwarzweissfilme. Die schnellen eckigen Bewegungen.
Die Zeit der alten Kaiser. Uniformen wie Stammestrachten. Hoch zu Pferd mit erhobenem Degen ins Manöver. Kaiser Franz Josef schreitet seine leinwandbespannte Luftwaffe ab. Die Familienstreitigkeiten der Majestäten eskalieren zum Weltkrieg, und danach sind sie weg vom Fenster, die Majestäten.
Zap weg.
Zap.
Ein bebrillter Herr macht lange Sätze. Eine blonde Dame fährt dazwischen. Ein netter Rothaariger versucht den Streit zu schlichten. Sie reden über Bücher, die Franz nie lesen wird.
Franz liest selten Bücher. Er zappt.
Zap.
Mittelalter.
Fast heidnisch.
Eine Zeremonie.
Ein Schloss. Ein verhängter Planwagen.
Ritter.
Schauermusik.
Ein mit Armbrust Bewaffneter in schwarzer Rüstung erschlägt einen andern Gepanzerten, scharf beobachtet von einem unbewaffneten Menschen in ziviler Kleidung, der sich unter einem Wagen versteckt hält. Der Totschläger schleppt sein Opfer aus dem Weg. Dann schubst er die Gestalt, die vorher hinter den Wagenrädern kauerte, mit festem Griff neben sich her durch einen Kreuzgang. Es ist eine kleingewachsene Frau.
Schnitt zurück in die Zeremonie. Alles dreht sich um einen hölzernen Reichsadler.
Wieder erscheint der uniformierte Armbrustträger mit der kleinen Frau. Er erschlägt drei Wachen in derselben schwarzen Rüstung mit schnellen Hin- und Herbewegun-gen seines Geräts, das scharfe eiserne Spitzen hat.
Ein Wachsoldat stürzt von einer hohen Brücke. Irgendwie, scheint es, werden diese Männer um jener Frau willen erschlagen. Aber was können denn die Wachen wofür?
Die Frau hält sich zurück. Sie zeigt weder Erschrecken noch Abscheu vor dem Gewalttäter. Nach getanem Totschlag reicht er ihr galant die Hand, damit sie nicht über die Leichen stolpere in ihrem langen Gewand. Er schubst sie barsch ins freigemachte Tor. Drinnen, an der Ecke eines engen Gangs, zieht er sein Schwert aus der Scheide. Sie blickt ihn flehend an, nun doch etwas erschreckt.
Falscher Alarm.
Wortlos, aber mit festem Blick drückt er ihr die blanke Waffe in die feine Hand.
Sie ist genau einen Kopf kleiner als er. Beide halten vor der nächsten Ecke inne. Fest umfasst sie, hinter ihm stehend, den Zweihänder, während er, gedeckt durch den Mauervorsprung, seine Armbrust spannt.
Die Blicke der beiden Bewaffneten sowie der Zuschauer fallen auf die heilige Zeremonie. Der Bösewicht - er muss es sein - grinst böse. Der Bewaffnete schleicht sich hinter stehenden Würdenträgern nach vorn, schiesst seinen Pfeil durch ein heiliges Metallstück, das alsbald federnd in einer Holztür steckt, und erschlägt das fünfte Opfer dieser Serie.
Böser Blick des überraschten Bösewichts, der jetzt dem Guten direkt gegenübersteht. Er und die Zuschauer blicken in die stählernen Augen des gepanzerten Guten.
Dieser sagt in klarem, modernem Französisch: Der Graf von Bern konnte nicht kommen. Aber hier ist seine Tochter!
Der Böse wiederholt mühsam: Der Graf von Bern?
Die Tochter, sie muss es sein, schreitet auf den Bösen zu. Sie setzt ihm die Schwertspitze beidhändig auf die Brust und erklärt die Situation: Mein Vater und mein Bruder wurden getötet.
Der Böse stottert: Aber doch weil - ich werde die Verantwortlichen strafen!
Die Tochter: Getötet von zehn Männern deiner Leibwache.
Der Böse: Das waren verrückte Fanatiker. Sie handelten auf eigene Faust.
Der kritische Zuschauer durchschaut seine Lügen.
Sobald ich zum Kaiser gewählt bin, werde ich sie bestrafen.
Du Kaiser? Nie. Die Tochter zieht ein Metallstück aus ihrem Kleid, rund, in der Mitte gelocht. Eine perfekte Kopie des Exemplars, das immer noch am Armbrustpfeil zittert. Sie steckt es auf eine Stange, die aus einer Schale aufsteigt, eine Extraanfertigung zur Stapelung heiliger Metallstücke. Die Schale hängt am Flügel des Reichsadlers.
Das Metallstück fällt, von der Stange geführt, auf zwei andere Metallstücke, die dort schon gestapelt sind.
Der Reichsadler ist eine Waage. Auch am andern Flügel hängt eine metallbestückte Schale. Das Metallstück, das die Tochter plaziert, lässt den ganzen Reichsadler nach links pendeln, vom Zuschauer her gesehen.
Ein Gong schlägt an. Musik klingt auf.
Der höchste Würdenträger hat sich von seinem Thron erhoben und sagt: Da nun jeder von uns seine Pflicht getan hat, kann ich die Sitzung für geschlossen erklären.
Der Böse, mit schiefer Nase, schlechtrasiert, hassverzerrt, stösst hervor: Nichts da! Sie hat sich geirrt! Sie ist von einem perversen Geist besessen! Mit Blick auf den Uniformierten, der die ganze Szene mit klarem Blick aus nächster Nähe verfolgt hat, zischt er: Du bist gesetzlos.
Und mit voller Kommandostimme: Ergreift ihn! Sie auch. Sie hat ihn verhext.
Doch der oberste Würdenträger geht auf den Bösen zu und sagt ihm: Beide stehen unter unserem Schutz und kommen mit uns. Gott der Herr beschützt die Lügner nicht. Und dein Vater ist sehr fromm.
Die letzten Worte spuckt der Alte in feierlich familiärer Intimität, Adlernase an Adlernase, dem Sohn direkt ins hassverzerrte Gesicht.
Der Pirat nimmt eine tiefgefrorene Pizza aus dem Tiefkühlfach und lässt sie auftauen.
Er schaltet den Fernseher ab, den Backofen ein. Den toten tiefgefrorenen Sardellen und Oliven nochmals etwas Wärme und Schmelz geben.
Wärme. Essen. Leben.
Weiterzappen.
Zap.
Ein schnittiger Oesterreicher in einer warmen Lammfelljacke spricht über die Unfallverhütung bei Skirennen. Der Präsident des Organisaionskomitees fügt in hellem Berner Oberländisch bei, es gebe jeden Tag und überall Unglücksfälle, Schwierigkeiten, mit denen müsse man eben fertigwerden. So hart das tönt, meint der Präsident des Organisationskomitees: Das Leben geht weiter.
Der Moderator ist begeistert.
Das Leben geht weiter, wiederholt er, das hört man auch unter den Skirennfahrern.
Es geht um die bevorstehende Weltmeisterschaft.
Trotz Golfkrieg und dem entzweigerissenen Kollegen wird sie wie üblich durchgeführt. Der Trainer der österreichischen Nationalmannschaft meint, das wäre auch im Sinn des Verunfallten. Und wenn die östereichische Nationalmannschaft mitfahre, müsse dies auch mit vollem Einsatz geschehen. Sonst, sagt er, hat das ganze keinen Sinn.
Volle Einsätze überall. Voller Einsatz, das ist der Sinn.
Do the job, gefälligst. Der Oesterreicher in der Lammfelljacke fügt hinzu, wie das mit dem Krieg weitergehe, wisse niemand. Die Eröffnungszeremonie mit den Flaggen werde nicht durchgeführt.
Aber Nationalmannschaften bleiben sie.
Zap.
Ein politischer Flüchtling aus dem Irak spricht, sein Bild ist elektronisch verfremdet, seine Stimme nicht. Er sagt, angesichts der Massen von Bomben, die über dem Irak niedergehen, sei es sicher, dass es ziemlich viele Tote gebe, Tausende und Tausende.
Eine Expertenrunde. Der Moderator bringt das irakische Communiqé zur Sprache: 23 Tote, 66 Verletzte. Experte Nummer eins führt einen Bomberfilm vor, wir kennen ihn, schwarzweiss, Horizont in Schräglage, weisses Kreuz auf Bunker, Bum, alles schwarz. Der Experte vermutet, dass die präzise Sprengkraft der zigtausend Tonnen Bomben, die da täglich fallen, auch Menschen treffe. Er glaubt nicht, dass ein solcher Krieg hübsch und sauber, dies sind seine Worte, hübsch und sauber sein könne.
Zap.
Ein langhaariger, bärtiger Freak aus dem Elsass singt genüsslich: Vive la France, mit elsässerditschen Zwischenzeilen, in einer Badewanne sitzend. Anschliessend wird er interviewt, der nette Kerl, und sagt zusammenfassend: Sisch aifach browoziiert, nä.
Zap.
Es erfolgt die Umschaltung in eine angelsächsische Familie. Ein junger Blonder heisst Rick. Er unterhält sich in deutscher Sprache mit einem sportlich Graumelierten. Die Tochter Sara wird vorgestellt. Sie entsorgt zwei abgegessene Teller in die Küche. Die Männer setzen sich. Der junge Blonde erkundigt sich nach einer Trachomepidemie, die nach einem Streik in der Schule und den Unruhen im Krankenhaus ausgebrochen sei. Der Graue dementiert: Alles nur Gerüchte. Der Blonde insistiert: Aber Sie behandeln doch auch Schwarze? Der Graue kontert, ganz Urwaldarzt: Unter meinen Patienten sind auch Eingeborene. Einer davon hat ein Augenleiden. Aber es ist keine Trachom. Es handelt sich um eine Bindehautentzündung.
Die Tochter hört in der Küche mit, will aber nicht lauschen, sondern setzt sich unauffällig an den Tisch. Der Blonde insistiert weiter. Vielleicht gebe es nicht unter hiesigen, aber unter zugereisten Eingeborenen aus Queensland Trachom. Jedenfalls sei dort oben - der Zuschauer realisiert: AUSTRALIEN - Trachom endemisch.
Die Tochter interveniert: Ach hören Sie auf. Diese Leute sind doch Dschonnis Onkel und Tanten.
Der Blonde, zur Tochter: Ja. Und unbeirrt weiter: Ich möchte Sie fragen, was Sie und die Gesundheitsbehörden dagegen unternehmen wollen?
Schnitt.
Ein schwarzer Pudel im Korb. Er wird von einer Stimme im Off ermahnt, nicht zu winseln und nicht zu jaulen. Sonst könne es sein, dass er nach draussen gehen müsse, und draussen gebe es ganz brutale Hunde.
Es ist ein anderer, langhaariger junger Blonder, der so spricht. Da tritt eine weitere junge Blonde ins Interieur, mit einer Plastikschale voller Hundefutter.
Der Zuschauer realisiert: KÄNGURUH.
Der junge Blonde wiegelt ab: Das war nur ein Scherz. Es entspinnt sich ein Streit um das Wohlleben der Hunde reicher Leute.
Zap.
Ein neues Gesicht, auch schmal und hager, aber älter. Bebrillt. Mit lehrerhaftem Eifer sagt es:
Und vor allem von der Jugend kommts.
Es ist ein Oesterreicher. Oder ein Bayer.
Die Kinder kommen aus der Schule nach Haus und sagen: Mama, das ist doch ein Papier, das gehört doch in die Papiertonne. Und insofern bin ich zuversichtlich, dass dieses Beispiel auch in anderen Gemeinden Schule machen kann, bis hin zu Grossstädten, dass es einfach ein Akt der kleinen Selbsterziehung ist, dass ich verrottbare Abfälle von anderen trenne. Aber wenn ich den einen Satz jetzt noch sagen darf: Es geht nicht darum, in Patentrezept für ganz Oesterreich vorzugeben. Es geht um diese Einfälle gegen Abfälle, und der Wettbewerb läuft noch bis zum zwanzigsten April, und je mehr Zuschauer sich daran beteiligen, desto besser für uns alle.
Und mit altjüngferlichem Lächeln triumphiert der neue Professor Unrat über den ganzen strahlend blauen Hintergrund des Bildschirms hinweg. Der Präsentator verabschiedet ihn. Es ist tatsächlich ein Professor. Er heisst aber in Wirklichkeit Bruckmann. Mit kleinen Schritten verschwindet er.
Zap.
Da kommt sie, die Jugend. Disco-Irrlichter. Schwere Boxen auf der Bühne. Schweissnass herumtobende Sänger. Verkrampfter Gitarrist. Stampfender Rhythmus. Junges Publikum. Die Sänger singen: Und irgendwann kommt jeder drauf die Richtung war verkehrt.
Der im zerrissenen Matrosentricot greift sich an den Kopf. Einer streckt die Zunge raus. Der mit dem klatschnassen, haarigen nackten Bierbauch tippt sich ans Hirn. Der Gitarrist greift sich ans Gemächt.
Die Chose wird ausgeblendet. Der Ansager erklärt: Ein Dauerbrenner. Heimische Popkultur gibt sich die Ehre. Musiker und Multitalent Wilfried als Gastmoderator im rotweissroten Wunschprogramm WURLITZER.
Die gute alte Jukebox. Auch so eine tote Gefühlsmaschine, denkt Franz.
Du tote Gefühlsmaschine, sagt er zum Fernseher. Morgen abend wieder.
Der Fernseher läuft und läuft.
Tod Mord Brust Baum Bier Krododil
Erdbeben Lottozahlen Panzerkolonne Kinderstunde.
Bis er einmal nicht mehr läuft.
Er bockt, das Bild sackt weg, es erscheinen nur noch die Pixel pur, in Braunscher Bewegung.
Franz hat ihn wieder zurechtgeklopft. Ganz sanft. Beschworen hat er ihn, Versprechungen machte er ihm. Und die Kiste spricht wieder, singt, schnattert, knattert wieder. Zeigt bunte Bilder. Leben. Farben. Töne. Rhythmen.
Krise gemeinsam gemeistert, Krise gemeinsam gemeistert, Krise gemeinsam gemeistert. Das betont der Pirat mit den hungrigen Augen immer wieder.
Franz hat einen Umgang gefunden mit seinem Fernseher, er hat sich arrangiert mit seinen Mängeln, er hat ihn akzeptiert, so wie er ist.
Er hat seine Veränderungen hingenommen, ohne ihn auszutauschen gegen einen anderen, und zum Schluss, wie in einem kitschigen modernen Märchen, wird alles wieder gut.
Nie, nie werde er ihn fortgeben, diesen Fernseher. Er sei zwar nichts besonderes, ein kleineres Format, die Antenne leicht geknickt, sonst aber gut erhalten. Gut, vielleicht liege es einzig an ihm. Er habe es wirklich übertrieben mit dem Zappen.
Zap. Zap. Zap.
Zap, immer noch eins zu null? Zap, was interessiert mich die Wetterprognose, bin morgen sowieso den ganzen Tag im Büro. Zap, Scheisskrieg, sollen endlich aufhören da unten. Zap, die gefällt mir. Oh ja. Aber doch nicht so langweilig. War nur eine Nebenfigur. Nein, die Blonde weniger. Zap. So dumm diese Fragen sind, ich weiss die Antworten auch nicht. Zap, Zap, Zap.
Weniger als vier Programme gleichzeitig habe er wirklich selten je verfolgt am selben Abend, sagt der Pirat. Das schon. Seit sie verkabelt waren, hielt er es einfach nicht mehr lange aus bei einem einzigen Sender. Seh ich dies, verpass ich das. Zap. Die Wetterprognose. Scheisse. Zu spät, die Nachrichten verpasst. Zap. JA! Toor! Zap. Wer ist denn diese neue Person im Film?
Und lange sei es gut gegangen.
Im vorletzten Frühsommer habe der Apparat begonnen, dosiert, doch entschlossen, Widerstand zu leisten. Er habe es sich das Zappen immer weniger lange bieten lassen.
Zuerst nach anderthalb Stunden, dann nach einer, dann nach dreiviertel, dann nach einer halben Stunde sei der Code 27 erschienen, rechts oben im Bildrand, und dann habe es gewöhnlich nicht mehr lange gedauert, vielleicht noch ein oder zwei Minuten, und es war Schluss.
Ende, aus, Amen. Nichts zu rütteln.
Nein, gerüttelt habe er ihn nie, nie, das nicht. Das habe er sich ja vorstellen können, dass das nichts nütze.
Bei einem Fernseher. Eher im Gegenteil.
Natürlich habe er sich gefragt, was eigentlich los war. Vielleicht vertrug der Apparat nicht so viel Abwechslung? Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht zappte er echt zuviel. Oder der Apparat war noch ganz im Geist eines Jahrzehnts hergestellt worden, das nicht ahnen konnte, dass bald nur noch gezappt werden würde. Zap, neu, anders, nochmals anders, zap, nein, doch nicht so, zap, so auch nicht, zap zap zap bis zur vollständigen Verwirrung. Nein, damit hatte dieser Typ noch nicht rechnen müssen.
Vielleicht.
Oder ein Chip war defekt.
Vielleicht würde der Fachmann wissen, was los war mit dem überforderten Apparat. Vielleicht ein kleines läppisches Detail, ein kleiner Trick. Gewusst wo, Sie wissen. Aber nein. Was ging ihre gemeinsame Krise einen Fachmann an, einen Fremden. Der würde ihm doch einfach einen neuen Apparat verkaufen.
Er habe einfach auf Geduld gesetzt. Geduld. Geduld, Geduld, Geduld.
Auch als die Kiste jeweils nur noch l5 Minuten Dienst tat, kaum mehr die Tagesschau erbrachte, hielt er treu zu ihr.
Nicht dass er sich keinen neuen hätte leisten können. Jeden hätte er haben können, er schwamm im Geld.
Jeden.
Das war es nicht. Er wollte ihn einfach nicht aufgeben. Schliesslich war da immer noch Hoffnung. Warum sollte etwas, das immer schlechter geht, nicht irgendwann einmal wieder besser gehen?
Und tatsächlich, nach dem Umzug, in der neuen Wohnung, ging es schrittweise aufwärts. Er freute sich über jede Minute, wo es klappte. Wie früher.
20 Minuten!
Eine halbe Stunde!
Franz spornte den Apparat an, motivierte ihn positiv, klopfte ihm aufs Gehäuse. Du wirst es schaffen. Doch. Ich vertraue Dir. Ja. Jetzt vielleicht einmal 40 Minuten? Oh, wirklich. Du bist grossartig. Ja, wir verstehen uns. Siehst Du? Oh, so gut. Braver Apparat. Guter Apparat.
Eine Stunde! Eine volle Stunde!
Ich glaubs nicht. Yeah. Wenn Du so weitermachst, stelle ich Dir einen Blumenstrauss hin. Einfach so. Obwohl heute gar nicht Dein Tag ist. Als Aufmunterung. Oder ich werde Dich abstauben. Ja. Wenn du wieder anderthalb Stunden schaffst, staube ich Dch ab. Und ich poliere Dir die Mattscheibe, mit Fensterputzmittel.
Ehrlich, das mache ich. Und mehr will ich ja gar nicht. Das ist dann schon gut.
Franz strahlt, wie er an diesen Punkt seiner Erzählung kommt.
Wir haben es geschafft.
Er läuft wieder, ich kann zappen, wie ich will.
Wir haben die Krise gemeinsam gemeistert. Nie werde ich einen anderen Fernseher haben. Ich habe das Vertrauen in ihn, auch für ein nächstes Mal. Gut, wir hatten eine Krise, sie war ernst, ich war manchmal wirklich total verunsichert und verzweifelte fast am Fernsehen überhaupt. Ich sah keinen Sinn mehr darin, an einem Punkt. Fünfzehn Minuten pro Tag, was ist das schon. Das ist einfach zu wenig. Viel zu wenig für mich. Aber wie gesagt, das liegt jetzt alles hinter uns.
Ich sage dir, ich habe alles versucht. Bei schönem Wetter trug ich ihn auf den Balkon. Ich fragte mich, ob er zu nahe bei der Wand stehe. Ich schob ihn an immer wiede neue Plätzchen. Ich stellte alle Möbel um.
Ehrlich, ich weiss jetzt noch nicht, weshalb es wieder besser wurde. Sowenig wie ich weiss, weshalb es überhaupt zu dieser Krise kam.
Manchmal ärgere ich mich darüber, dass ich es nicht herausgefunden habe.
Aber vielleicht ist es besser so.
Es war nicht einfach der Umzug, die neue Wohnung.
Denn anfangs lief er dort auch noch nicht sehr lange. Etwa drei Monate lang schaffte er dort jeweils nur eine halbe Stunde. Aber gut, vorher, zuletzt, in der alten Wohnung, da waren es kaum fünfzehn!
Das ist schon ein Unterschied.
Jetzt ist alles o.k.
Okey.
Ich bin stolz darauf, dass ich diese Geduld aufbrachte.
Nie werde ich ihn einfach ersetzen. Vielleicht behalte ich ihn, später einmal, sogar wenn er gar nicht mehr läuft, aus Anhänglichkeit.
Ich habe ja jetzt eigentlich schon zwei. Gut, er ist in meinen Schlafzimmer. Der andere ist im gemeinsamen Wohnraum. Ich lebe in einer Art Wohngemeinschaft. Ich bin nicht auf ihn angewiesen.
Moran lacht. Franz sagt: Da gibt es nichts zu lachen. Finde ich. Und wie auch immer, das war es , was ich Dir für dein Projekt erzählen wollte. Mach damit was du willst.
Moran bedankt sich.
Der Hobbychemiker hat ihm zuvor gesagt, Franz habe eben seine Scheidung hinter sich gebracht.
Moran hat am Klassenabend nichts getrunken ausser Wasser, ist auch recht früh gegangen. Er hat genug gehört von Kaderpositionen, Eheproblemen, Kinderfreuden, Stellenwechsel, Lohnabbau.
Es wird wohl noch weit schlimmer um sie alle stehen in zehn oder zwanzig Jahren, denkt Moran.
Jetzt sind sie Ende dreissig. Noch knapp im besten Alter.
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