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Thomas Huonker MONDFISCH
Kapitel VIII
Heute kommt Olga. Moran holt sie am Bahnhof ab.
16 Uhr 44 auf Gleis 13.
Moran liebt es, im Menschenstrom zu stehen, der aus den Waggons quillt. Da schlurfen die wenigsten einfach so dahin.
Er sieht Olga schon von weitem, geht einige Schritte gegen den Strom auf sie zu, bis sie ihn erkennt. Sie umarmen sich, er nimmt ihr die Reisetasche ab.
Sie haben nicht weit zu gehen bis zu Olgas Bude. Ein riesiges Zimmer, ein zugemauertes Cheminée, ein winziger Balkon, eine winzige Küche, eine winzige Dusche. Und überall kleine Dinge, Postkarten, Bilder. Die Bücher hat sie im Schrank. Die Kleider liegen und hängen dekorativ im Zimmer, an der Garderobe, am Fensterhaken, auf Stuhllehnen.
Ich habe ein Mitbringsel, sagt sie.
Edamer? fragt er. Olga lächelt.
Sie lieben beide Käse nicht besonders.
Olga zieht ein Heft aus der Handtasche.
Schreibst Du Tagebuch? fragt Moran.
Nein. Es ist eine Geschichte. Olga wirft den Mantel aufs Bett.
Das ist eine Première, sagt Moran.
Das muss gefeiert werden.
Er macht eine Pause.
Olga schweigt.
Hast Du die in Holland geschrieben?
Nein, sagt Olga, im Zug. Zu den neuen Sitzen gehören doch diese kleinen Tischchen. Und Rieke und Anke sind mir schwer auf die Pelle gerückt. Der Vater Bibliothekar. Die Mutter Lehrerin. Der Freund am Schreiben. Da kannst du doch nicht einfach ausscheren, haben sie gesagt.
Wir haben uns jeden Abend drei Gutenachtgeschichten erzählt. Das machte Spass.
Die musst du mir auch noch erzählen, sagt Moran.
Aber lies jetzt, sagt Olga.
Moran liest.
Er liebt Olgas runde Schrift.
Das Heft ist weder kariert noch liniert.
Die Zeilen zeigen aufwärts.
ALLES WÄRE BESSER
Alles wäre besser.
Oder fast alles. Wenn sie die Chancen ihres Bruders gehabt hätte. Der verhätschelte Grobian. SIE musste sich alles erkämpfen. Das Velo. Den Ausgang. Die Hosen. Den Beruf. Wäre es nach ihren Eltern gegangen, wäre sie Postbeamtin geworden. Oder Krankenschwester.
Vielleicht wäre aber gerade das besser gewesen. Vielleicht hätte sie dann den Arzt geheiratet, der jetzt ihre Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung machte. Seine Frau war nämlich Krankenschwester, sie hatten sich im Spital kennengelernt, das wussten alle Patientinnen. Sie war eben blond, die Arztfrau, naturblond und wachsbleich.
Alles wäre besser, wenn sie blond wäre. Blond. Gross. Blauäugig. Aber sie war klein und dunkelhaarig. Man hielt sie oft für eine Ausländerin. Sie wurde in dieser Vollidiotensprache angequatscht, die Inländer sich gegenüber Ausländern herausnehmen. Forsche Ladendetektive durchsuchten ihre Taschen.
Blauäugig war sie allerdings. Sie mit ihren braunen Rehaugen. Blauäugig war sie auf den ersten Besten hereingefallen. Und dann auf den nächstbesten. Sie konnte nicht nein sagen. Aber sie konnte auch nicht ja sagen. Sie wollte eigentlich gar nicht, was sie tat, und sie tat nicht, was sie eigentlich wollte.
Ja, wenn sie überhaupt wüsste, was sie will. SIE WEISS NICHT WAS SIE WILL, das hörte sie ständig. Doch sie wusste: Auch jemand, der nicht weiss, was er will, will so manches.
Und sie wusste, was sie nicht wollte. Eigentlich wollte sie gar nichts.
Wollte sie etwa diesen Sessel, den eine weggezogene Wohngefährtin zurückgelassen hatte, weil sie ihn nicht mehr wollte? Wollte sie wirklich diesen Versandkatalog durchblättern?
Wollte sie essen gehen mit ihrem neuesten Versuch? Ja, essen schon. Sie hatte wirklich wieder einmal Hunger. Crevetten vielleicht. Oder Artischocken. Oder Gnocchi.
Das letzte Mal hatte ihr der verkochte Pilzrisotto alles verdorben. Er hatte ihn gemampft wie Griessbrei mit Himbeersirup.
Alles wäre besser, wenn sie schneller zufrieden wäre. Sie ertrug keinen Spritzer auf dem Spiegel und kein Kleidungsstück, das nicht frisch roch.
Genau. Alles würde besser werden, wenn sie duschte und sich frisch anzog.
Ach was, es wird erst besser, wenn ich diesen verdammten Waschzwang los bin.
Ich muss loslassen lernen.
Sie liess den Versandkatalog auf den Boden fallen.
Scheissteppich. Sie hasste Spannteppiche. Zuerst stanken sie nach Plastik und Gummi, dann mieften sie nach allem Dreck, mit dem sie je in Berührung gekommen waren. Hundehaar, Schuhwichse, Kotze, Zigarettenasche, Kopfschuppen. Sie mochte sich gar nicht alles vorstellen und tat es doch.
Ueberhaupt Plastik, wo sie hinsah. Sogar die Lärmschutzscheiben dieser Wohnung waren aus Plastik.
Alles wäre besser, wenn die Zeit spätestens zur Zeit der Pfahlbauer angehalten worden wäre.
STOP HISTORY hatte jemand an die Bahnhofsmauer gesprayt.
Dann hätte sie auch nicht diesen dummen Parkschaden angerichtet, und ihre Motorfahrzeugversicherung hätte nicht dermassen aufgeschlagen.
Sie würde im Einbaum über den See paddeln, zum feierlichen Trommeltanz auf der heiligen Insel. Mit Lendenschurz, Felljacke und Festbemalung. Und sie hätte sicher schon drei oder vier Kinder.
Unterwegs würde sie eine Handvoll Seewasser schlürfen und ihr Amulett zwei- oder dreimal zurechtrücken.
Die Blonden waren damals wohl noch gar nicht hier.
Wenigstens hatte er Locken, ihr neuester Versuch. Schwarze Locken.
Sie hatte sich als Kind immer Locken gewünscht, und jetzt war sie auf Dauerwellen abonniert. Jede zehnte Frisur gratis, aber neun kosteten auch schon genug. Jetzt sogar noch mehr, der neue Salonbesitzer hatte aufgeschlagen. Er muss das umgestylte Inventar finanzieren. Ihr passte es gar nicht. Im dem alten Spiegel war sie sich irgendwie noch jünger vorgekommen.
Wenn sie doch nicht diese grossen Nasenlöcher hätte. Die hatte sie von ihrer Grossmutter. Die konnte auch nichts dafür. Sie war eine gute Grossmutter gewesen. Aber kleine Nasenlöcher wären besser als grosse, kein Zweifel.
Es ist schön, an etwas nicht zweifeln zu müssen.
Wenigstens würde das Wetter besser werden, hiess es am Radio.
Als Pfahlbauerin hätte sie nicht einmal gewusst, dass es jene fernen Länder überhaupt irgendwo gab, wo all diese Kriege geführt wurden. Einige waren gar nicht so fern.
Männer sind aggressiv und zu allem fähig. Wahrscheinlich finden sie es geil, einander umzulegen, und am geilsten, wehrlose Frauen zu vergewaltigen. Wer hatte das nur so eingerichtet.
Sogar die Pfahlbauer schlugen einander schon die Köpfe ein, hackten Löcher in die Einbäume anderer Stämme, zündeten die Pfahlbauten an.
Der alte Gott mit seinem gelben Filzbart hatte es offenbar so gewollt. Oder es war ihm scheissegal. Wennschon, würde sie an eine Göttin glauben. Aber der mochte sie das alles noch weniger in die Schuhe schieben. Sie trüge gar keine Schuhe. Göttin würde ihre rosa Füsse in Unschuld baden. Und an einer schneeweissen Wolke abtrocknen. Oder mit blondem Engelshaar.
Genau. Barfuss ist besser. Nur nicht den Spannteppich berühren. Sie liebte ihre Füsse. Sie schwang sie auf die Lehne des zurückgelassenen Sessels und liess die grossen Zehen kreisen.
Sie hatte als Kind in der Schule einen Aufsatz schreiben müssen über ein Mädchen, das gerne neue Schuhe gehabt hätte. Spitzige, mit Schnallen. Aber es sei dann einem Beinamputierten begegnet. Daraufhin sei es wieder ganz zufrieden gewesen mit den alten Turnschuhen, die schon seine Schwester getragen hatte.
Nein, beinamputiert war sie nicht. Sie hasste solche Lehrerplatitüden. War denn irgendetwas einen Deut besser, weil es auch noch schlimmer hätte sein können?
Alles war wie es ist.
Das Wetter hatte sich tatsächlich gebessert. Sie schaute zum Fenster hinaus. Die Ränder eines Wolkenlochs glänzten gelbrosa, das Wellblechdach des Veloschuppens neben dem Nachbarblock glänzte wie frisch lackiert.
Immerhin ein Veloschuppen.
Wenn sie wenigstens den See und die Berge sähe.
Diese verdammte Berberitzenrabatte. Die Bremsspuren auf den Sicherheitslinien.
Acht GENAU GLEICHE Blocks sah sie. Sie wohnte im neunten. Hinter dem war noch einer: Der zehnte.
Vor jedem Block standen drei verzinkte Container hinter Eisenbahnschwellenpalisaden.
Ja. Alles wäre besser, wenn nicht alles so schlimm, so lähmend, so widerlich wäre.
Sie warf ihren Zehen eine Kusshand zu.
Und wenn sie zum anderen Fenster hinausgeschaut hätte, hätte sie den Regenbogen gesehen.
Moran war verwirrt. Du überraschst mich, sagte er.
Olga lächelte. Und?
Du schreibst gut, sagte Moran. Ich bin verwirrt. Ich dachte immer, du hassest Bücher.
Oh nein, sagte Olga. Ich hasse Fernseher.
Moran ist nicht nur verwirrt, er ist leicht verärgert.
Offen gesagt, bin ich ein bisschen neidisch auf deine Geschichte. Sie ist leichtfüssig. Es gibt solche Leute.
Und manchmal habe ich das Gefühl, ich verrenne mich in dieser verdammten Flimmerkistenwelt. Es ist so unabsehbar und beliebig und schattenhaft und nimmt kein Ende.
Schreib doch auch eine Geschichte. Eine, die nicht schon im Fernsehen kam, sagt Olga. Verlass den Boden der Realität. Es ist lustig, Dinge und Personen und Gedanken zu erfinden.
Moran sagt: Soll ich dich beschreiben? DIE FRAU OHNE KLEIDERKASTEN? Deine Pfahlbauerin gleicht doch Rieke.
Olga sagte: Ja, ein bisschen. Aber es ist ein Gemisch. Hoffentlich ist sie nicht beleidigt. Wenn Du über mich schreibst und es passt mir nicht .....
Moran sagte: Dann bin ich selber schuld.
Moran fühlt sich unbehaglich. Er beschliesst, Hunger zu haben. Komm, wir gehen essen. Wildschwein nach Pfahlbauerart, oder so etwas.
Olga sagt: Momentito, Michael. Ich geh mal duschen. Und zuerst hab noch Hunger auf dich. Du alter Knochen.
Olga zieht sich aus und sagt: Hol mir dann ein Frottétuch.
Moran beugt sich vor und küsst ihre linke Brust.
Olga schlängelt sich in die enge Duschkabine. Moran kribbelt es im Unterleib. Er nimmt das Frottétuch mit den Flamingos aus der Schublade.
Er ist jetzt noch verwirrter.
Olga ist einfach gut, denkt Moran. Und so schön.
Nach dem Duschen, Olga ist ganz rosig und warm, lieben sie sich.
Dann sind sie wirklich hungrig und etwas schlapp. Sie gehen essen.
Moran sagt: Keine Geschichte kann der Wirklichkeit das Wasser reichen.
Olga sagt: Geschichten sind auch Wirklichkeit.
Sie verabschieden sich.
Moran ist verwirrt geblieben.
Er betritt einen Bastelladen. Als er ihn verlässt, trägt
er einen schweren Plastikkessel mit Ton in der Hand.
Hatte er das wirklich vorgehabt?
Er könnte den Ton verschenken. Dem Patenkind.
Nein.
Moran geht nach Hause und räumt den Küchentisch ab. Er beginnt eine archaische weibliche Figur zu formen. Moran muss dabei an die Wurmhäufchen seiner Kindheit denken. Es ist schön, etwas in der Hand zu haben. Er nimmt mit seinen lehmverkrusteten Händen ein Küchenmesser aus der Tischschublade und überzieht die Figur mit einem eingeritzten Muster.
Siehst ja ziemlich wild aus, sagt Moran zur Figur.
So ist sie fertig, denkt er. Er stellt sie aufs Gewürzregal.
Nach zwei Tagen ist sie getrocknet.
Moran zeigt sie Olga.
Olga sagt: Leichtfüssig ist sie nicht. Aber kräftig. Wild.
Diesmal ist Olga leicht irritiert.
Michael vermeidet es im allgemeinen, sich die Hände schmutzig zu machen, denkt sie.
Moran bittet Olga, die kleine Göttin mit einer Glasur zu versehen und zu brennen.
Hoffentlich übersteht sie den Ofen, sagt Olga.
Dieser Bastelton taugt nicht viel. Ich hätte dir schon einen Klumpen Ton gegeben.
Seit Olga ihm ihre Geschichte gezeigt hat, öden Moran seine Videobänder an.
Er denkt: Logisch ist die Welt so wie sie ist.
Schalten Sie selber ihren Kasten an, zappen Sie doch selber.
Sie haben doch auch Augen im Kopf.
Moran macht eine Videopause.
Er räumt seine Ablagen auf. Das tut er selten. Dabei fällt ihm ein Brief in die Hände.
Er hat ihn vergessen. Es ist der Abschiedsbrief eines Kollegen, den er vom Militärdienst flüchtig kannte.
Der unglückliche Mensch hatte sich vor etwa einem Jahr umgebracht.
Moran hatte sich gefragt, weshalb er gerade ihm einen Abschiedsbrief geschickt hatte. Er hatte den Kollegen etwa ein Vierteljahr vor dem Selbstmord beim Joggen im Wald getroffen, als er aus dem Zoologischen Garten kam. Er sei oft dort bei den Tieren, hatte er gesagt, und er hatte Moran zu einem Bier in den Jägerhof eingeladen. Da hatte der Kollege einen starken Rededrang. Aber er hatte Moran nicht seine Lebensgeschichte erzählt, nur einzelne Zwangslagen und Probleme geschildert.
Der Abschiedsbrief war sehr kurz gewesen. Moran solle die Hausverwaltung und einen entfernten Verwandten benachrichtigen.
Viel mehr steht nicht im Brief. Moran studiert an dem Brief herum beim Aufräumen. Ja, er hat damals den Verwandten und die Hausverwaltung informiert. Er ist sogar ans Begräbnis gegangen. Wieso hat er das so gründlich vergessen? Moran schämt sich.
Er legt sich eine Art Lebensgeschichte des Toten zurecht.
Die muss er aufschreiben. Ohne Videoband. Moran tippt und tippt. Er muss nicht zurückspulen. Die Geschichte spult sich selber ab.
Olga kommt vorbei. Sie hat in einem Second-Hand-Shop ganz in der Nähe eine Art Trainerjacke gekauft. Moran muss sie begutachten. Er sagt, so würde sie im Raumschiff Enterprise kein bisschen auffallen. Sie solle die Chance packen und aufbeamen.
Olga sagt: Nein. Ich bleibe lieber auf dem Boden.
Was ist eigentlich mit diesem Zimmer passiert?
Moran sagt: Ich habe aufgeräumt.
Olga sagt: Und in welche Schublade kommen diese Blätter?
Moran zuckt die Achseln.
Olga liest den Titel. Ist das eine Geschichte?
Moran sagt: Ja.
Olga fragt: Darf ich lesen?
Moran nickt.
Olga liest:
DER KNOCHENHECHT
Im Zustand tränenloser Verzweiflung fuhr er zum Zoologischen Garten. Er hatte dort als Jugendlicher lange einsame Stunden verbracht, Tiere zeichnend, voll Fernweh und Sehnsucht nach Nähe.
Es war klirrend kalt, einer der wenigen Wintertage dieses Winters. Hier oben, an der Kuppe des Zürichbergs, war der Schnee auf den Dächern der Villen und auf den Zweigen der Bäume liegengeblieben, schneeweiss, und als schmutzigbraunes, abgetretenes, notdürftig mit Kies bestreutes Glatteis auch auf dem Weg von der Tramhaltestelle zum Eingang des Tiergartens.
An der Endstation ZOO, um viertel vor zehn, stiegen die wenigen verbliebenen Passagiere aus. Ein bärtiger, kräftiger älterer Mann in blauer Jacke begegnete ihm später als Wärter der Cabybaras, Tapire und Pekaris, denen er neue Streue und frisches Futter in die gutgeheizten, mit Schwimmbassins versehenen Betonhöhlen schüttete. Die Pekaris, glänzendschwarzborstige kleine südamerikanische Wildschweine, sah er gern wegen ihren wohlgeformten, mageren und kräftigen Beinen auf eleganten Stöckelhufen. Sie hatten ihm schon als Kind gefallen. Sie durften im Dreck wühlen und blieben doch sauber, unbeschimpft.
Ein Pekari sein, sogar in einem Zoo. Diese Vorstellung gab ihm einen Schatten inneren Friedens.
Der jüngere, langhaarige Mann in roter Jacke, der auch im selben Tram gekommen war, arbeitete als Hüter des Pavillons, wo eine Fotoausstellung über Pinguine der Antarktis gezeigt wurde. Dort drin war es angenehm dunkel. Die lichten Ausblicke auf Bilder endloser Eiswüsten taten seiner Seele wohl. Aber das Foto eines sich zärtlich umschnäbelnden Pinguinpaars liess ihn zurückzucken und aus der angenehmen Wärme des Pavillons fliehen.
Eine schwarzgekleidete, schwarzhaarige jüngere Frau, vielleicht in seinem Alter, die auch aus diesem Tramwagen gestiegen war, hatte vor ihm, ohne zu zahlen, leichtfüssig den Zooeingang durchschritten. Sie stieg zielstrebig, eine Kartonrolle im Arm, wie sie für Zeichnungen oder Pläne gebraucht werden, Richtung Raubtierhaus. Sie hatte etwas vor, das sprach aus ihrer ganzen Körperhaltung. Sie glaubte daran, und sie wusste auch, dass es alle andern gut und richtig fanden. Er spürte ihren Schwung und ihren inneren Halt neidlos. Eine angenehme Berührung mit einem fremden Gefühl. Er folgte der Frau in grossem Abstand einige Schritte nach und war versucht, ihr ein Stück Glück abzubetteln. Er ging dann aber nach links, ins Affenhaus.
Der Eintritt hatte 10 Franken gekostet. Er würde deshalb billig essen müssen.
Das junge Elternpaar mit dem Kleinkind, die Mutter trug es in einer Bauchtasche, stand vor dem Schimpansenkäfig. Die braunäugigen Wesen mit den Sorgenfalten und den grossen Ohren lagen faul herum, einer stocherte mit einem Zweig in seinen gelben, grossen Zähnen.
Er setzte sich vor das dichtbeflanzte Gehege der Siamangs. Er liebte diese kleinen, langarmigen Menschenaffen mit ihren melancholischen Gesichtern. Früher war es eine grössere Gruppe gewesen. Manchmal hatten sie gesungen, wirklich mehr gesungen als geheult, unartikuliert, aber melodisch, wie Jodler. Jetzt war da nur noch eine kleine Familie. Der Vater hatte ein schwarzes Fell, die Mutter ein weisses. Die beiden Jungen, von denen das ältere fast ausgewachsen war, schlugen der Mutter nach. Das jüngere Affenkind klammerte sich teils ans Brustfell der Mutter, die es immer noch säugte, teils ging es daran, seine Kletterkünste an den durchs Gehege gespannten Bambusrohren zu erproben. Es kletterte auch auf seinem Bruder und auf seinem Vater herum.
Die ganze Familie langweilte sich, wartete auf den Sommer im Aussengehege, und auf das tägliche Futter. Sie vertrieb sich die Zeit ohne Streit, mit Klettern, gegenseitigem Lausen, scherzhaftem Schnappen nach den Händen und Füssen der andern. Der Gibbonvater hängte sich mit den Füssen an ein Leitungsrohr dicht unter der Decke und diente mit der ganzen Länge seiner ausgestreckten Arme als Leiter für das Jüngste. Unterdessen schwang sich das ältere Junge, spielerisch verfolgt von der Mutter, welche die Last des Jüngsten vorübergehend losgeworden war, von Bambusrohr zu Bambusrohr, von Schwung zu Schwung.
Sie machen das beste daraus, dachte er. Vielleicht sind sie hier geboren. Vielleicht wissen sie gar nichts von der endlosen Weite des Dschungels. Jedenfalls plagt sie nicht das Wissen von der Schönheit der Korallenriffe, von den Weiten der Wüsten, vom Glitzern der Weltstädte, von den Reisen ins Weltall. Sie kennen nur sich, ihr Fell, ihren Geruch, ihre Haut, ihr Futter, ihr Gehege.
Vom Affenhaus war er ins Tropenhaus gegangen, an den Eisbären vorbei, die im Wasser mit Eisschollen spielten.
Die Wärme beschlug ihm die Brillengläser.
Von den Ställen der Tapire und Pekaris stieg er hinauf in die flatterhafte Vogelwelt. Die herumfliegenden Vögel beunruhigten ihn; nur ihr Zwitschern empfand er angenehm. Vor dem hellerleuchteten, pflanzenlosen, wüstenartigen Gehege der Viscachas blieb er stehen. Die schwarz-weissen Nager, fast von der Grösse eines Dachses, frassen da ihr Kaninchenfutter mit konzentrierten Kaubewegungen der kurzen, starken, kräftigen, schnauzbärtigen Kiefer. Ueber ihren Hamsterbacken funkelten tief im buschigem Fell versteckte unruhige schwarze Augen heraus.
Die Tiere erinnerten ihn an einen Beamten auf dem Arbeitsamt.
Wie alle Zooinsassen waren auch sie arbeitslos. In der südamerikanischen Pampa bauen die Viscachas riesige Höhlensysteme und hohe, kreuz und quer ausgehöhlte Hügel aus dem Aushub; das sind die einzigen Hügel, die es in der Pampa gibt.
Im Zoo sind ihre Höhlen vorbetoniert.
Vielleicht, dachte er, halten sie in diesen Höhlen ernste Besprechungen und Sitzungen ab, über die Probleme des Höhlenbaus, der Auswanderung, der Futterverteilung, der Arbeitszeit, der Ausbildung der Jugend, der Fellpflege. Es waren ernste Tiere.
Nein, ernst war er noch immer nicht geworden. Er würde es auch nie mehr werden können. In sehr tiefer, wilder Trauer liegt ein Kern völliger Verrücktheit. Nichts daneben hat auch nur einen Hauch von Wichtigkeit.
Nichts, nichts.
Trotzdem verstand er auch die Unsicherheit, die Aengste der langbeinigen Kanincheneule, der dasselbe Käfig wie den Viscachas zugewiesen war. Sie hüpfte ständig vom Boden auf einen Ast und wieder zurück, hin und her. Sie trug dabei eine tote Maus mit sich, einmal im gebogenen Schnabel, das andere Mal in der scharfen Klaue. Hin und her. Sie war sich ihrer Sache nicht sicher. Er konnte ihr auch nicht raten, wie sie mit ihrer Maus am glücklichsten würde. Die Maus war tot. Mausetot. Ihr konnten die Schwierigkeiten, die sie in der Eule auslöste, restlos egal sein. Es war ihr Körper, aber es war vorbei. Aus.
Die Kanincheneule äugte zu ihm hinüber. Er stand da, kraftlos an die Betonwand gelehnt, wie ein angeschlagener Boxer in den Seilen, schon seit zehn Minuten. Er trug einen Wintermantel, einen Winterpullover, ein Hemd aus starkem Stoff. Hier im Tropenhaus war es feuchtheiss. Aber er war kalt und verloren, wie ein weit von der Antarktis abgetriebener Eisblock. Noch ein Schlag, und seine Seele würde klirrend zerspringen. Wie ein Eiszapfen, der von der Dachrinne herabfällt und auf dem Vorplatz aufschlägt.
Die Kanincheneule, die tote Maus, schon leicht zerfleddert, im Schnabel, starrte ihn an. Er war die Ruhe selbst. Aber sie fürchtete ihn, verschwand in ihre Wandhöhle, um die Maus ungestört aufzufressen. Herz, Lunge, Eingeweide, Leber, Muskelfleisch, auch Haut und Haar. Als Gewölle würde sie die unverdaulichen Reste des Beutetiers morgen wieder herauswürgen, der Wärter würde sie, zusammen mit den trockenen Exkrementen der Viscachas, mit seiner Kehrichtschaufel wegbefördern.
Ausser dem Zwitschern der Flattervögel, deren Käfig Freiflugraum hiess, war es still. Die lärmende Schulklasse war zu den Krokodilen hinübergegangen, die sich aber nicht aus ihrer Verdauungsruhe bringen liessen. Sie gähnten nicht einmal.
Er ging weiter in den dunklen Raum, nur von den braungrünen Welten der Aquarien erleuchtet : Neonfische, Einsiedlerkrebse, Segelflosser, Messerfische, Zitteraal.
Der Knochenhecht schwebte still, auf Kopfhöhe, im Oberflächenwasser seines dichtbepflanzten Beckens. Nein, diese schwebende Ruhe hatte er noch nicht erreicht. Ein leiser Flossenschlag, oder eher ein lautloser, kaum sichtbarer Wink der rechten Brustflosse, sonst nichts als ruhiges Kiemenfüllen, Kiemenleeren, Kiemenfüllen, Kiemenleeren und vollendetes Schweben. Und ein langsames Wegdämmern der Erinnerung an den endlosen tiefen Sumpf, wo sie ihn vor mehr als 6o Jahren eingefangen und dann in engen Behältern weit, weit wegtransportiert hatten, weg, weg, weiter weg. Die weggedämmerte Erinnerung lag ihm nur noch im innersten Knochenmark. Fünf Zoodirektoren, zwei Umbauten hatte er überlebt, und einen Weltkrieg, von dem er nichts wusste. Er schwebte.
Ja. Wegen dem Knochenhecht war er eigentlich gekommen. Er hatte ihn einmal abgezeichnet, vor zwanzig Jahren. Der Knochenhecht war unverändert derselbe, der Knochenhecht. Und er, er sah es auch in der schattenhaften Spiegelung der Aquarienscheibe, er hatte graue Haare bekommen. Sonst hatte er sich vielleicht zuwenig verändert. Bevor seine Gefühle geweckt und zerstört worden waren, hatte er sich lange die schwebende Ruhe des Knochenhechts zum Vorbild genommen. Kühl bleiben. Nichts geht dich wirklich an. Jenseits deiner Scheibe einzig Schatten einer Welt. Schweben. Wegdämmern. Vielleicht müsste alles, alles ganz anders sein, aber auf dich kommt es nicht an. Nichts hat einen Zweck. Die Welt geht selber ihren Gang, ganz für sich, sie hat für dich keinen Sinn. Hoffe nur, dass sie dich in Ruhe lässt, die Welt.
Zweck, Sinn, Hoffnung. Aufgeregte Worte, nichts als bitteren Schmerz hinterlassend.
Er spürte sich selber, seine Sehnsucht nach endgültiger Ruhe im stillen Schweben des Knochenhechts im warmen Wasser. Er war es, der in diesen Minuten die Nuancen des Flossenschlags wahrnahm, den kaum spürbaren Widerhall der vom lautlosen Flossenwink ausgelösten Wellenlinien hin zu Beckenwänden und Aquarienscheibe, zurück zum plattig beschuppten, braunweiss gefleckten, treibholzförmigen Fischkörper. Der Knochenhecht selber spürte sie nicht mehr, sie gehörten zu seinem Schweben und gingen auf darin.
Sie hatte ihm ins Gesicht gespuckt, er hatte zurückgespuckt und ihr die Spucke aus dem Haar gestrichen.
Sie hatte recht.
Der schnauzbärtige Mann auf dem Arbeitsamt hatte recht.
Leute wie er waren nicht zu gebrauchen.
Er wusste: Es hätte ihn eigentlich nie geben sollen. Seine Mutter hatte einen wie ihn, einen von dem, dem sie nicht gut genug gewesen war, eigentlich nicht verdient. Eine schwere Geburt, ständig viel Arbeit, immer Scherereien. Für die Kindergärtnerin, für die Lehrerinnen und Lehrer war er eine rasch weitergeschobene Strafaufgabe. Die Kollegen hielt er sich mit allen Mitteln vom Leib. Bei den Frauen hatte er kein Glück. Wirklich nicht. Tiere, Tiere liebte er. Aber er hatte immer in Wohnungen gehaust, wo bestenfalls Fische, Vogelspinnen, nicht einmal Wellensittiche geduldet waren. Der Lehrmeister hatte sich über sein Grinsen, das Unsicherheit war, beklagt. Aber er hätte ohnedies nicht Flachmaler werden wollen. Kunstmaler wenn schon. Oder Astronaut. Oder Tiefseetaucher. Ohne Lehrabschluss war er nicht einmal Tierwärter im Zoo geworden.
Nein, den Job im Universitätslabor würde er nicht annehmen. Nicht die Ratten und Affen pflegen, von den Forschern in Schraubstöcken fixiert, um ihnen die Köpfe zu transplantieren, um ihnen Viren, Krebsgewebe, Eizellen nach Belieben zu entnehmen, abzuändern und wieder einzusetzen.
Nein. Der Schnauzbärtige würde ihn nicht zum Hätschler dieser gequälten Tiere machen können. Nein.
Nein. Nichts ging.
Ja. Er hatte alles falsch gemacht.
Nie hatte er sich vom Schuldgefühl freimachen können, diesem Gift, das ihm die Mutter in die Seele geträufelt hatte, mit jener tadellosen, feindseligen Fürsorge einer von Hass zerstörten Mutterliebe.
Nein, zurechtweisen konnte sie ihn jetzt nicht mehr. Sie war seit zwei Jahren tot. Im Grab. Sie hatte nicht mehr erlebt, wie er entlassen worden war. Sie hätte der Firma wahrscheinlich recht gegeben. Er spürte jetzt noch ihren Griff im Haar, wenn sie ihm mit einem Taschentuch das Gesicht reinigte. Das Taschentuch roch nach Hustenbonbons; sie hatte es mit ihrer Spucke feucht gemacht.
Für seine Mutter war nur richtig gewesen, was sauber war. Tiere hasste sie bis ins Mark. Und er zuckte jetzt noch zusammen, wenn jemand die Tür eines Zimmers öffnete, in dem er allein war.
Die Welt hat mich ausgespuckt. Sie hat mich angespuckt.
Er würde dem Spuk ein Ende machen.
Ende Geisterbahn.
Er wollte ins Licht.
Er war jetzt über das Grübeln hinaus.
Lichte Klarheit.
Im Terrarium hatte eine Riesenschlange im Wasser geschlafen; ihr Kopf war über das Ufergestein hinab ins flache Wasser gerutscht. Das scherte sie nichts. Sie brauchte nur alle paar Minuten einen Atemzug zu tun. Sie lag da wie tot, in starrer Ruhe, dämmerte dahin.
Er verliess das Tropenhaus, trat in die weisse Kälte hinaus. Seine neuen braunen Lederschuhe mit dem dicken, weichen, griffigen Profil hätte er eigentlich nicht mehr kaufen müssen. Oder doch. Es war ein schönes Gehen, über den glattgetretenen, kiesbestreuten Schnee. Ein guter Abgang.
Zwölf Uhr dreissig. Er hatte nichts gegessen. Die Sonne war hier oben durch den Nebel gedrungen. Der oberste Teil der Stadt, der den Reichen gehört, sah aus wie ein Kurort. Die Niederungen der Agglomeration blieben im Nebel versunken, der von unten grau, von oben aber licht und strahlend war. Er hob die behandschuhte Hand zur Sonne, dankte ihr für das Geleit und ging zu Fuss in den Nebel hinunter.
Sie würden ihn in der Badewanne finden, irgendwann, den Kopf im Wasser, wie die schlafende Riesenschlange. Der Eisblock seiner Seele wird im warmen Badewasser zerschmolzen sein. Auflösung. Schweben.
Schweben wie der Knochenhecht, aber in Ewigkeit.
Er war noch nicht einmal vierzig geworden.
Olga seufzte. Eine traurige Geschichte, sagte sie.
Vielleicht war es auch ganz anders, sagte Moran.
Ich kann ihn mir vorstellen, sagt Olga. Untersetzt, eher schwerfällige Bewegungen, eine breites, vierschrötiges Gesicht, verlegenes Lächeln.
Nein, sagt Moran, er war sehr hager, weissblond, miit einer feingeformten Nase. Er hatte einen unruhigen Blick und ein Auge war etwas träger als das andere. Das gab ihm etwas Unheimliches. Aber er war ein lieber Kerl. Einige Vorgesetzte im Militär machten ihn gnadenlos fertig. Er konnte sich nicht wehren.
Hast du ihn gekannt? Wer war seine Frau?
Kennen würde ich nicht sagen, sagt Moran. Die Frau habe ich nie gesehen.
Ach die Menschen, sagt Olga.
Wie geht es deinen Videobändern? Du siehst ziemlich bleich aus.
Ach Olga, sagt Moran. Ich muss nicht mehr so viele Videobänder durchschauen. In zwei Wochen ist Abgabetermin für das Projekt.
Olga sagt: Schau mal. Sie zeigt Moran frisch entwickelte Fotos.
Moran stutzt. Sind die von dir?
Olga sagt: Ja.
Sie hat eine ganze Serie Göttinnen getöpfert. Wilde, starke, erdige Figuren. Eine hatte spiralige Ammonitenmuster auf Bauch, Oberschenkeln und Oberarmen.
Olga sagt, drei habe sie schon verkauft. Und eine schenke sie ihm.
Moran sagt: Wow! Die mit dem Ammonitenmuster gefällt mir. Ich muss sie sehen.
Komm doch mal ins Atelier, sagt Olga. Ich habe einen Exploit.
Gerne, sagt Moran. Und meine Göttin hast du nicht fotografiert?
Olga sagt: Du hast Künstlerpech gehabt. Sie ist zersprungen. Nimm das nächste Mal von meinem Ton.
Moran sagt: Schade. Er fragt Olga: Kommst du essen?
Nein, ich hab keinen Hunger. Ich gehe direkt in die Bibliothek. Ich sollte schon dort sein.
Sie küssen sich vor der Tür.
Moran flüstert Olga ins Ohr: Meine Göttin.
Sie wispert: Du freischwebender Knochenhecht.
Moran sieht ihr nach und denkt: Hoffentlich schneidet sie nie die Zöpfe ab.
In der Gaststätte trifft Moran den Invaliden. Er setzt sich zu ihm und erkundigt sich nach dem Hund.
Der sei tot. Eingeschläfert.
Der Invalide bekommt ein eingefallenes, graues Gesicht, als er das sagt.
Es ist noch nicht lange her. Er kam unter einen Lastwagen. Er lebte noch, aber er musste eingeschläfert werden.
Moran sagt, der Invalide müsse sich unbedingt wieder einen Hund zulegen. Bei ihm habe es ein Hund gut.
Der Invalide lebt auf. Er sagt, ja, er habe sich auf einem Pachthof in den Wehlauen schon einen jungen Hundekerl reserviert. Eine Mischung aus Dalmatiner, Collie und Riesenschnauzer. In drei
Wochen könne er ihn holen.
Der Invalide freut sich.
Und ob Moran das auch mitgekriegt habe? Kaum fürchte er sich vor neuem technischem Stuss, sei der auch schon da.
Moran fragt, ob denn jetzt das Videostreicheltier tatsächlich auf den Markt geworfen worden sei.
Nein, sagt der Invalide. Ich meine das Tamagochi. Das kleine japanische Spielzeug. Es stirbt, wenn man nicht täglich die richtigen Knöpfe drückt.
Ja, Moran hat auch vom virtuellen Hätscheltierchen gelesen, aber er hat die Voraussagen des Invaliden vergessen.
Moran sagt, ihm gehe es auch so.
Seit vier oder fünf Jahren, ungefähr, kommen Dinge und Trends auf den Markt, die mir gefallen.
Die Mode, das Möbeldesign, das Styling von Schuhen, Fahrrädern, Autos. Die Architektur. Und lange habe er sich eine rostfreie Knoblauchpresse gewünscht, weil die aus Aluminium in der Abwaschmaschine diesen scheusslichen schwarzen Belag bekommen.
Und die aus Plastik zerbrechen, sagt der Invalide.
Genau, sagt Moran. Deshalb sei er sei vor einem Jahr in ein Geschäft mit Edelhaushaltswaren gegangen, vergoldete Kaffeemaschinen und Küchenuhren aus brasilianischem Bergkristall gibt es es da. Tatsächlich verkauften die eine Knoblauchpresse aus Edelstahl, sackteuer, aber das Design war so unpraktisch, dass sie kaum fünfzehn Knoblauchzehen überstand.
Aber gestern habe er in der Haushaltabteilung des Supermarkts eine einwandfrei funktionierende Stahlpresse für das rezente Gewächs, genau so wie er sie jahrelang nirgends erhalten habe, für wenig Geld kaufen können.
Der Invalide sagte: Ich kenne dieses Gefühl. Es ging mir auch so, aber erst, als ich etwa Ende Vierzig war. Ich glaube, das kommt davon, dass dann die eigene Generation langsam ans Ruder kommt. Das hat gar nichts mit dem persönlichen Geschmack oder gesellschaftlichen Geschmack zu tun. Es ist eine Alterserscheinung.
Der Invalide wagt eine neue Fortschittsvorhersage.
Er erwarte das dritte Auge auf dem Markt. Eine Videokamera mit hautelektrischem Direktanschluss ans Sehzentrum im Hirn. Dann könne einer gleichzeitig nach vorn und nach hinten schauen. Oder schlafen und doch ein Auge offenhalten.
Moran kann sich das auch vorstellen. Er tippt aber auf eine Hautschnittstelle zum Computer.
Moran trinkt seinen Espresso aus, dreht sich um, ruft den Kellner.
Sehen Sie, wie praktisch sowas wäre, sagt der Invalide.
Moran lacht. Er zahlt und verabschiedet sich.
Ihm soll das Eintreffen der neuesten Voraussage des Invaliden recht sein. Dann könnte er Videobänder schauen und dabei schlafen. Oder ein Buch lesen.
Nein, nicht schlafen. Ich muss wieder hinter diese Bänder.
Mach keine Geschichten, sagt Moran zu sich selber.
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