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Dieser Artikel erschien in der Wochenzeitung, Zürich, vom 29.Mai 1992, als Dossier.
Aus dem Pro-Juventute-Dossier FA XIV
«Sie haben uns wie Freiwild gejagt»
Dölf H. ist ein kleiner, brandmagerer, freundlicher Mann von 57 Jahren. Er ist Jenischer und hat den Grossteil seiner Jugend in Kinderheimen verbracht, den Grossteil seines Erwachsenenlebens in psychiatrischen Kliniken, Arbeitserziehungsanstalten und anderen Heimen. Seit Jahren wohnt Dölf nun in einem privaten Institut, wo es ihm eigentlich wohl ist. Seine Freundin wohnt auch dort. Sie freuen sich, wenn sie gelegentlich einen Ausflug machen können. Erst seit kurzem kennt Dölf seine Familiengeschichte.

Von Thomas Huonker

Dölf war als Kind von Dr.Siegfried bevormundet, dem Leiter des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Als Erwachsener hatte und hat Dölf wechselnde Amtsvormünder. Dölf H. ist der jüngste aus einer Familie mit 8 Geschwistern. Wie seine Eltern in gnadenloser Menschenjagd durch die Kantone St. Gallen und Thurgau gehetzt worden sind, wie ihnen trotz heftiger Gegenwehr alle Kinder abgenommen wurden und wie es ihnen schliesslich gelang, ihre Kinder nach langen Jahren wieder zurückzubekommen, das hat Dölf H. erst im Frühjahr 1992 erfahren. Die Akten, welche seine Lebensgeschichte mit lebensfeindlicher Präzision belegen, lagerten bei der Pro Juventute, bis Dölf H. 53 Jahre alt war. Ein Jahr brauchte die 1988 eingesetzte Aktenkommission, bis sie bei den zuständigen Behörden abgeklärt hatte, welche Akten dem Betroffenen Dölf zur Einsicht offenstehen sollten, und welche nicht. Die Aktenkopien wurden dann noch geraume Zeit von Rechtsanwalt Frischknecht zwischengelagert.

Foto:
Gertrud Vogler

Dölf H. ist jener Jenische, den Frischknecht aus der Arbeitsanstalt Kreckelhof in Herisau herausholte. Die Insassen des Kreckelhofs besorgten lange in Zwangsarbeit die Müllabfuhr der Herisauer. Damals war Stefan Frischknecht ein aufmüpfiger Student der Oekonomie. Mit diesem Fall hatte er sich das inzwischen wieder verspielte Vertrauen vieler Jenischer und des "Beobachter"-Journalisten Hans Caprez erworben (siehe WoZ Nr.19/1992).

1928: Die lange Jagd beginnt

Die Hatz auf Familie H. begann sieben Jahre vor Dölfs Geburt. Der Sekretär des Fürsorgeamts St. Gallen liess am 24.9.1928 einen «Informationsbericht» über die neuzugezogene Familie des Johann Franz H., verheiratet mit Maria Carolina geb.K. erstellen. Lina Johanna, Maria Anna, Elisabeth und Johann Karl hiessen die vier ältesten Kinder des Paars, geboren 1923, 1925, 1926 und 1927. Der Informationsbericht hielt fest: «H. hat kein Patent, hausiert aber vermutlich dennoch. Die Wohnungseinrichtung dieser Leute ist äusserst dürftig, die Ordnung schlecht.» Genüsslich erwähnt sind die Vorstrafen von Vater H., welche ihm den Patenterwerb praktisch verunmöglichten. «Wenn H. kein Hausierpatent erhält und sich nicht entschliessen kann, eine geregelte Beschäftigung als Arbeiter anzunehmen, so ist seine Existenz und diejenige seiner Familie nicht gesichert.»

Der Bericht empfahl, von der Heimatgemeinde der Familie H., Magliaso am Luganersee, «Kostengarantie zu verlangen für den Fall, als der Wohnortsarmenpflege durch H. oder seine Familie direkt oder indirekt sollten Kosten erwachsen.»
Dies taten die St.Galler Armenpfleger mit Schreiben vom 26. September. Schon am nächsten Tag leitete der Sindaco von Magliaso die Post aus St. Gallen an die Pro Juventute in Zürich, die somit bereits am 28. September 1928 im Besitz dieser Amtsakten war, Amtsgeheimnis hin oder her. Die Papiere kamen in das Dossier FA XIV des Pro-Juventute-Archivs.
Der Sindaco hatte geschrieben: «Wie aus den beiliegenden Akten hervorgeht, befinden sich in der Familie vier Kinder, welche unseres Erachtens weggenommen werden sollten. Wir geben Ihnen breite Vollmacht, darüber zu entscheiden, wie das zu tun sei.»
Dr. Siegfried liess sich das nicht zweimal sagen. Am l. Oktober schrieb er nach St. Gallen: «Ohne Zweifel wäre es nicht nur rationeller, sondern auch vom Gesichtspunkt der moralischen Veantwortlichkeit der Heimatgemeinde aus besser, die (...) Kinder würden rechtzeitig einer geordneten Erziehung und Pflege zugeführt, als dass sie, wie es in solchen Verhältnissen fast nicht anders zu erwarten ist, später ebenfalls wieder der öffentlichen Fürsorge und dem Strafrichter zu schaffen geben.»
Das St.Galler Fürsorgeamt antwortete ebenso postwendend am 3. Oktober: «Wir (...) können uns Ihrer Ansicht, dass die Kinder den Eltern abgenommen und anderweitig untergebracht werden sollen, durchaus gerne anschliessen.»

Das Fürsorgeamt verwies Siegfried ans Waisenamt. Dort meldeten sich die Kinderjäger der Pro Juventute am 10. Oktober. Zur Erhöhung des Drucks auf die St.Galler Behörde unterzeichnete der Pro-Juventute-Zentralsekretär Löliger höchstselbst den Brief: «Wie Ihnen vielleicht schon bekannt sein dürfte, beschäftigt sich Pro Juventute in einer Sonderaktion 'Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse' seit ca. 2 Jahren mit besondern Fürsorgemassnahmen zugunsten der sog. Vagantenkinder. Im Verlaufe dieser Zeit ist es ihr gelungen, mit Hilfe der Behörden gegen 80 dieser Kinder den schädigenden häuslichen Einflüssen zu entziehen und sie in gutempfohlenen Privatfamilien und Anstalten unterzubringen.» Löliger riet zu raschem Handeln:«Aus Erfahrung wissen wir, dass diese Korberfamilien ihren Wohnort auf unberechenbare Weise zu wechseln imstande sind. Es empfiehlt sich deshalb rasches und diskretes Vorgehen.»

"Energischer Widerstand"

So rasch und reibungslos die Jagd angelaufen war, jetzt kam sie ins Stocken. Am 17.November 1928 fragte Siegfried brieflich nach. Das Schweigen des Waisenamts hielt an. Erst zu Beginn des Jahres 1929 informiert ein Aktenstück, man habe «Herrn Oberrichter und Notar Brüschweiler als Mitglied der thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft ersucht, die Versorgung der Kinder dieser Familie einzuleiten». Denn Familie H. war in den Thurgau geflohen.
Siegfried wandte sich umgehend an Oberrichter Brüschweiler, Notar in Zihlschlacht. Dieser meldete am 24. Januar 1929: «Bezüglich der Familie H. muss ich Ihnen mitteilen, dass diesen Leuten hier die Niederlassung nicht bewilligt worden ist. H. muss mit seiner Familie auf l. März a.c. die Gemeinde verlassen. Bezüglich der Versorgung der Kinder stösst man auf einen energischen Widerstand.»
Nun schrieb Siegfried wieder ans St.Galler Waisenamt und versuchte diesem weiszumachen, da die Familie H. zur Zeit keine Niederlassung habe, sei nach wie vor St. Gallen zuständig für die Kindswegnahme.
Doch der der spätere sozialdemokratische Regierungsrat Dr. Keel, damals noch im Waisenamt tätig, spielte nicht mit. «Auf ihre Wohnsitzkonstruktion treten wir nicht näher ein. Ausschlaggebend für uns ist, dass wir nach Einvernahme des Vaters nicht den Eindruck erhielten, dass Entzug der elterlichen Gewalt ohne weiteres hinlänglich begründet sei».
Für die nächsten zwei Jahre hatte Familie H. Ruhe vor der Pro Juventute.

Aber am 3.3.1931 schrieb Siegfried ans katholische Pfarramt Güttingen: «Dem Vernehmen nach hält sich in Güttingen eine Korberfamilie auf (...) Da wir uns seit Jahren mit der Fürsorge für Kinder aus herumziehenden Korber- und Kesslerfamilien befassen, würde es uns interessieren, von Ihnen Näheres zu erfahren». Der Güttinger Zivilstandsbeamte und Lehrer Zingg liefert bereitwillig die gewünschten belastenden Auskünfte. Anfangs April 1931 beantragt das Zentralsekretariat Pro Juventute beim Waisenamt Güttingen die Wegnahme der sechs Kinder. Denunziant Zingg muss jedoch am 20.Mai berichten, dass Familie H. nach Bischofszell geflohen ist. Bis 1933 hatte die gejagte Familie wieder Ruhe.

Dann erfuhr Siegfried aus aktenmässig nicht dokumentierter Quelle, dass Familie H. wieder in St. Gallen weile. Wiederum wies das dortige Waisenamt Siegfrieds Ansinnen zurück. «In der Tat wurde unlängst die Familie hier gemeldet. Wir fanden keinen genügenden Grund, die Niederlassung zu verbieten: Seit Jahren keine Strafen mehr. Selbstverdienst ohne Unterstützung. Kinder gehen in die Schule und es sind schwerere Mängel nicht gemeldet. Der Mann scheint bestimmten Willen zu haben, die Familie durchzuhalten».

Not als Falle

1934, in der Krisenzeit, als das siebte Kind unterwegs war, machte Vater H. den entscheidenden Fehler. Er bat das St.Galler Sozialwesen um Armenunterstützung. Denn er war mit drei Monatsmieten à Fr.38.- im Verzug, und es drohte die Exmission. Die St.Galler Fürsorger entschieden am l.Februar: «Verabfolgung von Unterstützung kann (...) kaum in Frage kommen, schon aus der Erwägung, das mit Übernahme der Miete der Familie doch nicht gedient ist und die Kinder dennoch Mangel & unangebrachter Erziehung ausgesetzt sind. Heimschaffung ist daher angezeigt».
Nun bat Vater H. am 22. Februar in einem rührenden Brief in der Handschrift seiner Frau die Heimatgemeinde Magliaso, anstelle einer Heimschaffung doch lieber die Miete zu bezahlen. Im übrigen schwante ihm Schlimmes. Es heisst in diesem Brief: «Weil ich mit der Frau in Frieden lebe, uns die Kinder sehr lieb sind, (wir) ebenso Ordnung in der Pflege haben, so kann uns wegen diesem Unterstützungsgesuch auch nicht etwa angedroht werden ein Teil Kinder wegzunehmen. Aus Liebe zu den Kindern wehren wir uns um ein gemeinsames ganzes Familienleben beizubehalten.»

Die Heimatgemeinde vermerkte auf der Akte H.: «Kein Fall für Unterstützungen; auch bei Bezahlung der Mieten wäre kein Fortschritt da; die Kinder würden weiter herumgeschleppt. Der Fall ruft nach schnellstmöglicher Kindswegnahme.» Hingegen erklärte sich Magliaso einverstanden mit dem Vorschlag von Pro Juventute, wonach sie für jedes wegzunehmende Kind pro Jahr 90 Franken zu zahlen habe.

Am 3.April 1934 beschloss die Vormundschaftsbehörde St. Gallen: «1. Die sechs unmündigen Kinder H. sind in angemessener Weise in einer Familie oder Anstalt zu versorgen. 2. Der Vollzug dieser Versorgung wird dem Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse bzw. dem Zentralsekretariat Pro Juventute in Zürich übertragen.» Allerdings konnte dieser Beschluss nicht vollzogen werden. Denn Familie H. hatte sich unterdessen nach Gossau abgesetzt.
Das Gossauer Waisenamt beschloss ebenfalls Kindswegnahme. Immerhin betraf der Gossauer Beschluss nur die vier ältesten Kinder Lina, Maria, Elisabeth und Johann, die inzwischen 11, 9, 8 und 7 Jahre zählten. Gossau an Pro Juventute: «Wollen Sie uns gefl. mitteilen, wann und wie Sie die genannten Kinder abholen werden.» Siegfried war «gerne bereit», doch nicht ganz zufrieden: «Lieber hätten wir es allerdings gesehen, wenn die Versorgung der jüngsten Kinder ausgesprochen worden wäre. Wir machen immer dann die besten Erfahrungen, wenn diese so klein wie möglich in ein besseres Milieu versetzt werden können, in einem Moment, wo die Erinnerungen an das Vergangene rasch entschwinden und darum die Bindung an die Pflegeeltern um so inniger werden kann.» Er schlug im übrigen vor, den Eltern H. nicht nur 4 Kinder wegzunehmen, sondern ihnen gleich auch die elterliche Gewalt über sie zu entziehen.
Die Gossauer traten auf diesen zusätzlichen Wunsch nicht ein und schrieben am 25.Juni der Pro Juventute, «dass die 4 ältesten Kinder H. Ihnen nächsten Freitag, den 29. ds.Mts. zugeführt werden. Ankunft in Zürich mit Zug 11 Uhr 20.»

Polizeilicher Kinderfang

Zum Dossier FA XIV existiert, man kennt das mittlerweile, auch eine Fiche. Dort rapportiert Pro Juventute die Stationen der Menschenjagd selber:
«Am zur Übernahme festgesetzten Tag hat sich die Familie wieder aus dem Staub gemacht und nur mit polizeil. Hilfe können die Kinder am 6.7. von Bischofszell überbracht werden, die Mädchen ins Josefsheim Dietikon, Johann ins Kinderheim Hermetschwil.»
Aus dem «Transport-Befehl» der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind als polizeiliche Transport-Begleiter vermerkt «Brocker, Landjäger & Frau Brocker».



Am 8.August 1934 verdankt Vize-Sindaco Bernasconi von Magliaso den Kinderfang «con piacere» und ist gerne bereit, die Fr. 90.- pro Kind ab 1. August zu bezahlen.

Entzug der elterlichen Gewalt

Vater H. versuchte alles, um seine Kinder wieder zurückzubekommen.
Zunächst gelangt er an Jean Hungerbühler, an den sich Dölf bei Lektüre der Akten erinnert. Das sei der Kafi-Jean gewesen. Er habe ihn aber nur noch als alten, dicken Mann am Stock gekannt. Hungerbühler betreibt in Sommeri ein Geschäft mit folgenden Schwerpunkten, laut Briefkopf:«Inkasso & Vertretungen, Informationen».
Mit Datum vom 2. Oktober 1934 schrieb Kafi-Jean an die Pro Juventute: «Namens & im Auftrage des Johann H. (...) bitte ich Sie um Auskunft darüber, aus welchem Grunde demselben die 4 Kinder (...) vom Waisenamt Gossau weggenommen wurden. Herr H. erklärt nämlich, dass die Wegnahme der Kinder auf rein äusserliche Gründe gegen den Sinn des Gesetzes erfolgt sei, er habe zu Hause eine gute Ordnung.»
Siegfried antwortete mit einem Drei-Zeilen-Brief: «Auf Ihre Anfrage betr. Versorgung der Kinder H. teile ich Ihnen mit, dass Sie sich diesbezügl. an die zuständige Behörde, d.h. an die Vormundschaftsbehörde Gossau wenden müssen.»

Immerhin hatten die Eltern H. noch ein Besuchsrecht. Am Weihnachtstag 1934 bat Frau H. den Herrn Doktor: «Möchte Sie höflichst anfragen, ob wir aufs neue Jahr Lina, Marie, Lisa, Hans besuchen dürfen.» Siegfried erlaubte Besuche nur auf Voranmeldung hin, an hohen Feiertagen. Er schärfte der Heimleitung ein, die Kinder während der Besuche nicht mit den Eltern ausser Haus zu lassen. Je älter die Kinder waren, desto öfter kamen sie an andere Pflegeorte, die den Eltern H. längst nicht immer bekanntgegeben wurden.
Hingegen wurde Pro Juventute von Polizei und Behörden über den Aufenthalt der Familie H. informiert. Siegfried empfahl allen Gemeinden, wohin Familie H. zog, Wegnahme auch der jüngeren Kinder und Entziehung der elterlichen Gewalt.
Von Land- und Kinderjäger Brocker bestellte und erhielt Siegfried im September 1935 einen belastenden Polizeibericht über den Rest der Familie H.

Die Gemeinde Uttwil hielt jedoch im Oktober fest: «Das Verhalten H. in hiesiger Gemeinde war auch befriedigend.»

Erneut drängte Siegfried die kantonalen St.Galler Instanzen zum Entzug der elterlichen Gewalt. Der spätere langjährige Regierungsrat Grünenfelder antwortete am 12. Dezember 1935: «So sehr es ja zu begrüssen sein möchte, dass den Eltern H. die elterliche Gewalt entzogen werden könnte, so darf u.E. auf diese Massnahme doch nicht allzugrosses Gewicht gelegt werden. Die Hauptsache scheint uns, dass die Kinder im Jahre 1934 an unentgeltliche Privatplätze haben verbracht werden können, wobei wir annehmen, dass den Eltern die Versorgungsplätze ihrer Kinder nicht bekannt gegeben worden sind. Es dürfte daher den Eheleuten H. schwer fallen, sich ihrer Kinder wieder zu bemächtigen, jedenfalls wird ihnen solches nicht gelingen, bevor sie sich an die Behörden gewandt haben, die seinerzeit die Wegnahme veranlassten, so dass ein solches Vorhaben schliesslich erst die Gelegenheit schaffen könnte, um gegen die Eltern weitere Massnahmen zu treffen.»

Einen Tag später, am l3. Dezember, hielt Polizist Rutishauser Vater H. in Romanshorn an und ermittelte, dass er wieder im Thurgau wohnte, nämlich im Hölzli bei Amriswil. Prompt empfahl Siegfried auch der dortigen Behörde den Entzug der elterlichen Gewalt. In Amriswil fand Siegfried Gehör bei einem alten Bekannten. Notar Brüschweiler meldete: «Es ist richtig, dass H. nun in unserer Gemeinde das Rechtsdomizil hat & ebenso richtig ist auch, dass er sich mit Händ & Füssen gegen eine solche Massnahme sperrt.»
Brüschweiler wies auf das im Thurgau geltende gerichtliche Verfahren hin und empfahl Siegfried, ein definitives Gesuch einzureichen sowie eine Erklärung, für die Gerichtskosten aufkommen zu wollen.

Am l3. Januar 1936 überbrachte Siegfried sein definitives Gesuch eingeschrieben der Post: «Es sei den Eheleuten H. (...) die elterliche Gewalt über ihre sämtlichen minderjährigen Kinder (...) zu entziehen.» Der erste Satz der Begründung lautete: «Die Familie H. gehört zum sogenannten fahrenden Volk.»

Das Schreiben, dem Siegfried einen Stoss der belastendsten Polizei- und Behördenberichte beigelegt hatte, kam auf dem Postweg sicher in Amriswil an.
Derweil baten Marie, Elisabeth und Lina auf einer Postkarte ihre Eltern: «Kommt doch bald. Wir erwarten euch schon lange». Die Karte wurde von der Heimzensur konfisziert und verschwand im Pro-Juventute-Archiv, Dossier FA XIV.

«Moralisch defekt und erblich belastet»

Am 6.April 1936 beschloss das Bezirksgericht Bischofszell in Sachen Waisenamt Amriswil gegen Eheleute H.: «l. Die Klage wird geschützt und den Beklagten die elterliche Gewalt über die Kinder Lina, Maria, Elisabeth, Johann, Peter, Anton, Karl und Adolf (...) entzogen. 2. Dier Staat bezahlt mit Regress auf die Beklagten (...) Fr. 79.- und er hat den Offizialanwalt mit Regress auf die Beklagten mit Fr.80.- zu entschädigen.»
In diesem Urteil erscheint Dölf H. als halbjähriger Säugling erstmals unter dem Aktenzeichen FA XIV. Das Gericht begründete die Massnahme wie folgt:
«Die Tatsache allein, dass sie dem sogenannten fahrenden Volke (Korber im weitern Sinn) angehören, würde eine Entziehung der elterlichen Gewalt noch nicht rechtfertigen.» Wohl müssten «die Anforderungen an die Erziehung von Zigeunerkindern oder von Kindern fahrenden Volkes mit einem anderen Massstabe gemessen werden als diejenigen für die sesshafte Bevölkerung eines Kulturstaates.» Aber es ergebe sich, «dass der Vater H. mit derart schweren Charaktermängeln behaftet ist, dass ihm die Kinder ohne schwere Besorgnis für deren sittliches und geistiges Wohl nicht anvertraut werden können. Er führt ein unstätes Leben, ist trunksüchtig, liederlich und arbeitsscheu, missachtet die Gesetze des Staates und ist ausser stande, durch ordentliche Erwerbstätigkeit seine zahlreiche Familie ausreichend zu ernähren.»

Und schliesslich:«Wenn der Staat die Verehelichung und die Fortpflanzung moralisch defekter und erblich belasteter Personen nicht verhindern kann, so obliegt den Vormundschaftsbehörden um so mehr die Pflicht, den dem Staate und der Gesellschaft aus der oft zahlreichen Nachkommenschaft solcher Eltern drohenden Gefahren vorzubeugen, indem die Kinder frühzeitig dem ungünstigen Einfluss und dem verderblichen Milieu entzogen und in geeigneten Erziehungsanstalten versorgt werden. Es besteht so wenigstens die Möglichkeit, die sittlich gefährdeten und erblich belasteten Kinder zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen».

Mit Datum vom 27.Mai 1936 erhielt Siegfried «die Vogternennungs-Urkunde über sämtliche 8 Kinder der Eheleute H. von Magliaso».
Am l6. Juli 1936 befahl der Vogt: «Als Vormund sämtlicher Ihrer Kinder bin ich auch mit der Versorgung der noch in ihrem Haushalte weilenden betraut: Peter Anton, Anton August und Karl. Das Jüngste gedenke ich, auf Zusehen hin, bei Ihnen zu belassen, die drei Knaben hingegen sollen bis spätestens am 25. ds. in Heimversorgung kommen. Sie können die Kinder selber hinbringen, wenn Sie mir sofort melden, an welche Adresse ich Ihnen die Billets schicken soll.»

Der letzte Satz erklärt die Arroganz des ersten Briefteils: «Andernfalls müsste ich sie mir polizeilich zuführen lassen. Ich hoffe aber, Sie werden mir diesen Schritt, den ich nur sehr ungern tun würde, ersparen.»
In Erinnerung an die polizeiliche Wegnahme ihrer vier ältesten Kinder schickten sich die Eltern H. in ihr Los.
Immerhin konnten sie erreichen, dass auch ihr zweitjüngstes Kind, der damals zweijährige Karl, vorerst noch bei ihnen bleiben konnte.
Am 27. Juli 1936 liefert Mutter H. ihre Kinder Peter und Anton H., sieben- und sechsjährig, im Zentralsekretariat der Pro Juventute am Zürcher Seilergraben ab. Vogt Siegfried bringt sie gleichentags ins Heim St.Benedikt, Hermetschwil, bewährte Durchgangsstation auch für Dutzende andere weggenommene jenische Kinder.

Die Eltern H. gaben nicht auf.
Sie beharrten auf regelmässigem Kontakt mit ihren Kindern. Vor den hohen Feiertagen baten sie in unterwürfigen Briefen den «Werten Herrn Doktor» um Besuchserlaubnis, welche dieser ganz nach seinem Ermessen jeweils gab oder verweigerte.

Im Frühjahr 1939 war das jüngste Kind Dölf dreieinhalbjährig. Das schien Siegfried das rechte Alter für die Wegnahme zu sein. Umsichtig forderte er wieder Berichte über Familie H. an.
Das regionale Bezirkssekretariat der Thurgauer Pro Juventute bezeichnete allerdings, unplanmässig, Mutter H. als «wacker, anständig und rechtschaffen»; in seinen Berichten verwendet Siegfried für Frau H. das Wort «Schlampe». Nützlicher war ein Bericht der damaligen Wohngemeinde Güttingen, welche die Heimschaffung der Restfamilie H. erwog, worauf die Vormundschaftsbehörde Magliaso am 2. Mai 1939 dem dottore Siegfried prompt die von diesem selber wortwörtlich entworfene Vollmacht zur Kindswegnahme auch der beiden jüngsten Geschwister Karl und Dölf mit ihrem amtlichen Stempel versah.

Am 25. Mai 1939 empfahl Siegfried Herrn und Frau H. dringend, ihre beiden verbliebenen Kinder bis spätestens Mitte Juni selbst nach Hermetschwil zu bringen. «Andernfalls würden sie auf diesen Zeitpunkt bei ihnen abgeholt werden.» Am l7. Juni bestätigte Schwester Gertrud den Empfang der beiden Knaben im Heim St.Benedikt.

"Die Kinder möchten heim"

Die Eltern H. brachten jetzt irgendwie das Geld auf, um einen Rechtsanwalt zu bezahlen. Sie beauftragten Advokat Sennhauser mit der Wahrung ihrer Interessen. Der Anwalt verlangte von der Pro Juventute mit Brief vom 24. August 1939 eine Stellungnahme zum Begehren, den Eltern H. ihre beiden ältesten Töchter Lina und Maria zurückzugeben.
Siegfried deckte den Rechtsvertreter mit belastenden Berichten über Familie H. ein. Advokat Sennhauser wurde ganz kleinlaut: «In der Angelegenheit Johann H. habe ich meinem Klienten geraten, keine weiteren Schritte mehr zu unternehmen».
Der Anwalt, übrigens Leitfigur jener St.Galler Advokatur, wo später auch Frischknecht seine Anwaltskarriere begann, hielt sich somit an Siegfrieds Empfehlung, «Fam. H. gegenüber meinen Standpunkt zu vertreten.»

Da versuchte Vater H. am 20. November 1939, seine Tochter Lina aus dem Erziehungsheim zu entführen, was ihm jedoch nicht glückte. Siegfried beantwortete diese Herausforderung mit Besuchsverbot. Um wieder gut Wetter zu machen überwiesen die Eltern H. im Dezember 50 Franken als Kostgeld für ihre Kinder. Das machte Siegfried ganz gierig. Er antwortete: «Wir hoffen, dass wir solche Einzahlungen in regelmässigen Zeitabständen wieder erwarten dürfen.» Im übrigen plazierte er in dieser Zeit die älteren Kinder anderswo, ohne Bekanntgabe der Adresse.

Nachdem weder die Flucht noch das Bitten, nicht der Rechtsweg und nicht die versuchte Entführung ihr Familienleben vor dem Zugriff der Pro Juventute hatte retten können, blieb den Eltern H. nur die Anpassung.

Am 8. Dezember 1941 schrieb der katholische Pfarrer Ruckstuhl aus Sommeri an Siegfried: «In unmittelbarer Nähe des Pfarrhauses wohnt Familie H., die Ihnen bekannt ist. Seit ihrem hiesigen Aufenthalt (gemeint ist die Zeit um 1934, T.H.) hat sich speziell der Gatte derart vorteilhaft verändert, dass man ihn kaum mehr als den frühern 'H.' kennt. Die Hauptsache wird allerdings sein, dass der Mann immer Arbeit und darum die Möglichkeit eines ehrlichen Broterwerbs hat.»

H. hausierte nicht mehr.

Der Pfarrer bat Siegfried, er möge der Familie H. erlauben, gemeinsam zu Hause Weihnachten zu feiern. Siegfried ging nicht darauf ein, gestattete aber, dass die Eltern an Weihnachten ihre beiden Jüngsten in Hermetschwil besuchten. Am 1.März 1942 richtete ein anderer Priester, Pfarrer Schönenberger, Güttingen, ein Gesuch nach Magliaso: «Da H. sich nun zwei Jahre lang gut gehalten hat, möchten wir, obwohl er nicht mehr in unserer Gemeinde wohnt, aber immer wieder an uns gelangt, veranlassen, dass dem H. alle seine Kinder wieder zurückgegeben werden, umsomehr, als die grösseren Kinder ausnahmslos heim möchten.» Als Begründung nannte er die regelmässige Lohnarbeit von Vater H. :«Seine Vorgesetzten geben ihm das Zeugnis solidester Arbeit und nüchternen Lebens.»

Durch diese Unterstützung ermutigt, reisten die Eltern H. an Ostern 1942 nach Magliaso, um dort ihr Gesuch selbst vorzubringen. Sie taten es, wie der Sindaco in einem entsetzten Brief festhielt, «molto eccitato, minaccioso.» H. habe in einem Restaurant sogar eine alte Pistole behändigt.

Zahlungsbefehl, Betreibung, Strafklage

Siegfried reagierte sofort: «Dieser Tage habe ich vernommen, dass Sie über die Osterzeit reichlich Geld für Bahnfahren unnütz verbrauchten und u.a. bis nach Magliaso gereist sind. Ich muss daher annehmen, dass ihre Verdienstmöglichkeiten gut sind und Ihre Lage daher gestattet, auch an die Versorgungskosten Ihrer Kinder etwas zu leisten. Sie werden daher mit gleicher Post einen Zahlungsbefehl erhalten, lautend auf Fr. 200.-, nämlich auf Fr. 50.- vom 1. Jan. - 30. April 1942. Desgleichen erwarte ich inskünftig laufende Monatsbeiträge von Fr.50.- Sollten Sie dieser meiner berechtigten Forderung nicht nachkommen, müsste ich gegen Sie Betreibung erheben und Sie wegen Vernachlässigung der Elternpflicht einklagen.»

Gesagt, getan. Zuvor hatte sich Siegfried noch nach dem genauen Lohn der Eheleute H. erkundigt. Ferner berechnete er die Gesamtkosten für die weggenommenen Kinder auf 3500.- Franken jährlich. Vor dem Friedensrichter kam es zur Übereinkunft, wonach die Eltern H. fortan vierzehntäglich 25 Franken Unterhaltskosten zahlen sollten. Das taten sie jedoch nur einige Monate lang, worauf Siegfried wieder ein Besuchsverbot erliess und neue Betreibungen einleitete; per Februar 1944 forderte er schliesslich 730 Franken.

Unterdessen war die älteste Tochter Lina volljährig geworden, und Siegfried musste sie aus seiner Vormundschaft entlassen. Sie bat ihn schriftlich, doch auch die anderen Kinder heimzulassen: «Es wär so schön». Sie fügte bei: «Dass sie gerade so gut versorgt wären bei uns, wie wo sie sind, dürfen sie sicher sein.»

Dölf kann dies nur bestätigen. Er ist geprägt von den Prügeln, die ihm die Klosterschwestern verabreichten. Mitzöglinge stiessen ihn über das Reussufer, eine Nasenverletzung war die Folge, die Verknorpelung musste Jahrzehnte später operiert werden.

Die Mutter wurde unterdessen magenkrank. Eine Postkarte, die sie aus dem Spital an Tochter Maria schicken wollte, endete ebenfalls unzugestellt im Dossier FA XIV.

1945 ersuchte Vater H. erneut um Rückgabe seiner Kinder, Siegfried sammelte wieder belastende Berichte ein.
1946 durften die Kinder erstmals zuhause, in der Familie, Weihnachten feiern.


1947: Siegfried muss nachgeben

1947 bevollmächtigte Johann H. erneut einen Anwalt als Rechtsvertreter, Dr. Holliger aus Romanshorn. Der richtete am 16. Mai ein sorgfältiges Gesuch nach Magliaso. Kernpunkt des vierseitigen Schreibens waren folgende Sätze:
«Es bestände vielleicht auch Veranlassung, einmal der Frage nachzugehen, was eigentlich mit der Tochter Elisabeth geschehen ist, die im September 1946 volljährig geworden ist. Die Eltern H. sagen mir, dass diese Tochter im Jahre 1943 aus einem Heim in Sursee weggenommen und zu einem Landwirt B. in Nottwil verstellt worden sei. Dort sei das Mädchen dann durch ihren Arbeitgeber vergewaltigt und wahrscheinlich geschwängert worden. Sie sei dann wieder in das Heim in Sursee geflohen und habe dort rapportiert, was geschehen sei. Die Eltern H. hegen sogar den Verdacht, dass dann eine Abtreibung erfolgt sei. Ich persönlich weiss natürlich nicht, was an diesen Angaben richtig ist. Auf alle Fälle aber besteht wohl dringende Veranlassung, dieser Sache nachzugehen und auch die Eltern entsprechend aufzuklären. Man kann diese Eltern nicht einfach en canaille und als Luft behandeln.»

Der Zeitgeist der dreissiger Jahre hatte das Kriegsende auch in der Schweiz nicht ganz ohne Risse und Sprünge überstanden. In dieser Umbruchsituation musste Siegfried gegenüber einem Anwalt, der die Rechte seiner jenischen Klienten ernst nahm, flexibel reagieren. Er ging auf alle Vorschläge Holligers ein, um einen Prozess und negative Schlagzeilen zu vermeiden.

Im Sommer 1947, nach 19 Jahren, war Familie H. wieder vollzählig vereint. Für Dutzende anderer jenischer Sippen ging die Jagd noch bis 1973 weiter.

Der zweitletzte Ficheneintrag zum Dossier FA XIV datiert vom Jahr 1955. Ein eifriges Mitglied des dichten Denunziantennetzes der Pro Juventute berichtete Siegfried, er habe Frau H. zufällig angetroffen und nach den Kindern ausgefragt. Die Fichenverfasserin vermerkt zusammenfassend: « Hr. Dr. Sg. ist froh, dass keines derselben das fahrende Leben der Eltern aufgenommen hat. Die Arbeit war also hier nicht umsonst.»

Tatsächlich hat es der älteste Sohn Johann Karl H., den die Schwestern im Heim St.Benedikt als erblich arbeitsscheu taxierten, zu einem Einfamilienhaus gebracht.
Auch Dölf, der als 57jähriger mehr als vierzig Jahre in Anstalten verlebt hat, ist nachhaltig sesshaft gemacht worden. Er wird noch heute täglich mit einer Dosis Melleril sediert. Ferner steht eine neue Tranche «Wiedergutmachung» in Aussicht.

Zum WoZ-Dossier gehörte auch der folgende Textblock:

Jenischenverfolgung in der Schweiz

Im zweiten Abschnitt des Paragraphen 75 im Schweizerischen Strafgesetzbuch heisst es: «Keine Verjährung tritt ein für Verbrechen, die auf die Ausrottung oder Unterdrückung einer Bevölkerungsgruppe aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ihrer ethnischen, sozialen oder politischen Zugehörigkeit gerichtet waren.» Verbrechen dieser Art werden im Völkerrecht als Völkermord bezeichnet. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes umschreibt diese Tatbestände folgendermassen:

«a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.»

Von 1926 bis 1973 lief in der Schweiz eine Kampagne gegen das fahrende Volk, gegen die Jenischen, welche offenkundig unter diese Begriffsbestimmungen fällt. Ein Mitarbeiter des Pro-Juventute-Zentralsekretariats, Dr. Siegfried, plante als Leiter des sogenannten «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» minutiös die systematische Wegnahme von Hunderten von Kinder aus jenischen Familien, um sie von ihrer Volksgruppe zu entfremden und ihre ethnische Identität zu zerstören. Ein bis heute nicht genau feststehende Anzahl von Kindern aus dieser ethnischen Minderheit wurde ihren Eltern, oft mit Polizeigewalt, weggenommen und teils in Heimen und Anstalten, teils in sesshaften Familien aufgezogen. Pro Juventute spricht selber von 619 weggenommenen Kindern, es gibt aber eine unerforschte Dunkelziffer, die möglicherweise fast doppelt so hoch ist. Höchste WürdenträgerInnen des Staates segneten die Aktion ab und waren daran persönlich respektive via amtliche oder finanzielle Unterstützung beteiligt.

Verlautbarungen des Hilfswerks und der Pro Juventute benennen klar die Zielsetzung der Aktion, miniutiös angelegte Akten belegen das begangene Unrecht. In einer Festschrift der Pro Juventute findet sich der zusammenfassende Untertitel «Pro Juventute entvölkert die Landstrasse». Siegfried schrieb, es gehe darum, «den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen».

Etliche dieser Kinder machten in Anstalten Selbstmord. Zahlreiche Opfer, Eltern wie Kinder, blieben zeitlebens so geschädigt, dass sie aus Anstalten und psychiatrischen Kliniken nie mehr herauskamen. Es fanden sich Wissenschafter, vorab Psychiater, welche die Jenischen generell als erblich minderwertig hinstellten. Es gab Ärzte, welche, aus dieser rassistischen Betrachtungsweise heraus, Jenische zwangssterilisierten oder gar kastrierten.

Die Schweizer Jenischen waren während Jahrzehnten gnadenlos gehetzte Flüchtlinge im eigenen Land.
Nur wenige Eltern konnten sich so erfolgreich wehren wie im hier dokumentierten Fall. Häufig fanden sich Eltern und Kinder erst als Erwachsene wieder; noch in den letzten Jahren sind sich Geschwister, die als Kleinkinder voneinander getrennt wurden, im Alter von 50 oder 60 Jahren erstmals wieder begegnet. Gegenseitige Schuldzuweisungen lähmen oft noch heute die Solidarität unter den zerrissenen Familien; die gemeinsame Verfolgungssituation gehört aber auch zur kulturellen Identität der Schweizer Jenischen.

1972 starb Siegfried; gleichzeitig begann Hans Caprez im «Beobachter» eine Pressekampagne gegen diesen systematischen Kindsraub, die 1973 zur Auflösung des Hilfswerks führte. Noch in den 60er Jahren hatte das Bundesgericht in Absprache mit der Pro Juventute die Aktion als rechtmässig abgesegnet. Kein Staatsanwalt hat je von sich aus eine Untersuchung in dieser Sache eingeleitet. 1986 entschuldigte sich Bundespräsident Egli für das den Jenischen zugefügte Unrecht. Es gibt aber bis heute keine gerichtliche oder wissenschaftliche Untersuchung der Verantwortlichkeiten, Abläufe und Hintergrunde der Aktion. Hingegen wird mit der Auszahlung von sogenannten «Wiedergutmachungsgeldern» versucht, die Forderungen der überlebenden Opfer nach Schadenersatz und Genugtuung ausserrechtlich zu unterlaufen. Die Geschädigten erhielten bisher maximal 7000.- Fr. «Wiedergutmachung». Eine zweite Tranche solcher Gelder hat der Bundesrat vor kurzem angekündigt, gleichzeitig sperrt er jenischen Organisationen die Bundesbeiträge. Zurzeit läuft in den Schweizer Kinos ein Spielfilm* an, der die Verfolgung der Schweizer Jenischen zum Thema hat.

Thomas Huonker


(*Gemeint ist der Film "Kinder der Landstrasse" - Regie Urs Egger, Drehbuch Johannes Bösiger - als Video erhältlich bei der Radgenossenschaft der Landstrasse)

Im Buch "Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe", Limmat Verlag, Zürich 1987, erzählt auch Dölf H. seine Lebensgeschichte in seinen eigenen Worten - damals noch ohne Kenntnis seines Pro-Juventute-Aktendossiers.
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